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Klein, aber oho!

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 Kleinwüchsiges Mitglied einer Großfamilie wird von seinen Brüdern gemobbt

 Eltern geraten nicht ganz unverschuldet in Hartz IV und verlassen die Bedarfsgemeinschaft der Kinder

 Kleinwüchsiger entpuppt sich als mental stark und lenkt die Geschicke der Brüder

 Mitglieder der Großfamilie (ohne Eltern) interessieren sich für junge Frauen eines anderen Clans

 Vater dieses Clans ist strikt gegen so eine Verbindung und entwickelt kriminelle Energie bis hin zum geplanten vorsätzlichen Totschlag

 Kleinwüchsiger rettet die Situation und bringt gegnerischen Clan Chef wieder auf den richtigen Weg

 Eine sensationelle Entdeckung führt beim Clan Chef zum Mäzenatentum

Die Leiden des jungen W.

Es war einmal ein armer Korbmacher, der hatte mit seiner Frau sieben Jungen, da war immer einer kleiner als der andere. Zwar ist der Kleinste hernach noch etwas gewachsen, doch nicht gar zu sehr. Doch war es ein gar kluger und pfiffiger kleiner Knirps, der an Gewandtheit und Schlauheit seine Brüder alle in den Sack steckte. (1)

Alle Versuche seines Arztes ihn zu überzeugen, dass er aus medizinischer Sicht nicht kleinwüchsig sei, waren in den vergangenen Jahren fehlgeschlagen. Bernd Wollmann war der festen Überzeugung, dass der Mediziner ihn, aus welchen Gründen auch immer, nach Strich und Faden belog. Mit dreiundzwanzig Jahren maß der junge Mann einen Meter und siebenundvierzig Zentimeter, für ihn ein eindeutiges Indiz, dass er unter Mikrosomie, also Kleinwüchsigkeit, litt. Er wurde in dieser Auffassung auch noch dadurch bestärkt, dass in seiner Familie, ihn eingeschlossen, sieben Jungen zur Welt gekommen waren, von denen kein einziger der anderen diese Besonderheit aufwies, im Gegenteil: seine sechs Brüder waren allesamt größer und kräftiger gebaut als er, scheinbar hatten sie die Gene ihres Vaters mitbekommen. Paul Wollmann war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt. Zusammen mit Hilda, seiner Frau, hatte er regelmäßig aller zwei Jahre ein Kind gezeugt weil er der Überzeugung war, dass die Söhne ihn im Alter versorgen würden und der von ihm ausgeübte Beruf ihn wegen seiner körperlichen Belastung möglicherweise früher als andere aufs Altenteil schicken würde (er war Gerüstbauer). Mit dieser Profession konnte er natürlich keine Reichtümer anhäufen, zumal Hilda die ganzen Jahre zu Hause blieb, um sich der Erziehung der Kinder zu widmen. Paul Wollmann war ein schlichter Mann aber er verstand es sehr gut, die Segnungen des Sozialstaates in Anspruch zu nehmen, so dass die Familie zwar bescheiden, aber nicht in Armut leben musste und damit auch zwei PC mit Internetanschlüssen bereitstanden, um deren Nutzung die Jungen fortwährend konkurrierten.

Bernd Wollmann fiel es schwer sich gegen seine kräftigen Brüder durchzusetzen, er reichte ihnen kaum bis zur Brust und die muskulösen jungen Männer schubsten ihn mühelos weg, wenn er an einem der Computer Platz nehmen wollte. „Troll dich, du Zwerg“ und „Hier scheint jemand zu sein, aber ich sehe ihn nicht“ waren die noch harmlosen Sprüche, die er erleiden musste. Anders als seine Brüder verfügte Bernd über eine wache Intelligenz, so dass er nicht wie sie Maurer, Tischler, Straßenbauer oder Kraftfahrer wurde sondern seine Ausbildung zum Bürokaufmann mit Bravour absolvierte und zusätzlich ein mehrjähriges Fernstudium als Wirtschaftsingenieur abschloss. In der Familie wurde dies jedoch überhaupt nicht gewürdigt. Man hielt viel darauf als richtiger Kerl ordentlich ranzuklotzen und Muskelpakete wesentlich wichtiger als Verstand zu betrachten (auch Paul Wollmann dachte so und er schätzte seinen jüngsten Sohn nicht sonderlich, aber eigentlich quälten ihn Selbstzweifel, weil er Hilda insgeheim einen Seitensprung unterstellte, denn Bernd konnte nicht von ihm gezeugt worden sein, so wie er aussah und sich verhielt). Hilda Wollmann (die Mutter) beobachtete die Entwicklung von Bernd jedoch mit Freude. Er war der erste, der in der langen Familientradition Akademiker wurde. Sie wagte es allerdings nicht das vor den anderen zu artikulieren, weil diese dann sofort kübelweise Spott und Häme über den Kleinen (wie sie ihn liebevoll für sich nannte) ausschütten würden, denn in ihren Augen war er wegen seiner schwachen Konstitution vollkommen lebensuntauglich, er würde nicht einmal eine Prügelei (in die die anderen regelmäßig bei ihren Kneipenbesuchen verwickelt waren) überstehen können.

Die schwere körperliche Arbeit der anderen und ihr ausschweifendes Leben führte dazu, dass sie meist zeitig zu Bett gingen (wenn sie nicht gerade wieder Händel in einer Kneipe suchten), nicht ohne davor noch eine Runde Killerspiele zu zocken oder sich auf schlüpfrigen Internetseiten herumzutreiben, dann kam Bernds Zeit, in der er sich am PC beschäftigen konnte. Die Anforderungen seiner Arbeitsstelle (einer Behörde) waren nicht sonderlich hoch, so dass er deutlich ausgeruhter als die anderen war und seine seit langem bestehenden Schlafprobleme ihn ohnehin noch lange wach hielten.

Wenn die Familie am Wochenende zum Mittag saß drängten sich die muskulösen jungen Männer um den Tisch. Die Stirnseiten gebührten Paul und Hilda Wollmann und Bernd musste mit einem Platz nahe dem Eingang zu einer der Toiletten der Wohnung Vorlieb nehmen (man verfügte über drei, die waren auch erforderlich, denn wenn die Brüder früh gleichzeitig aufstanden herrschte großer Ansturm und auch bei der Rückkehr von ihren Kneipenrunden war entsprechender Nutzungsbedarf vorhanden). Ansonsten herrschte keine Raumnot, denn das Gebäude in dem sie wohnten war ein ehemaliger Kindergarten, den die chronisch klamme Kommune seit Jahren nicht saniert hatte und dessen Mietpreis demzufolge für die Wollmanns erträglich war. Jeder der Brüder verfügte über ein eigenes Zimmer, die Eltern hatten ein gemeinsames Schlafzimmer und die verbleibenden Räume wurden als Lager, Kraftsportraum und Gemeinschaftsbad (mit fünf Wannen) genutzt. Die Gespräche beim Essen drehten sich vorwiegend um die Taten der Männer auf Arbeit und selbstredend wurde zum Essen ordentlich und ausdauernd Bier getrunken, nur Bernd blieb bei seiner Cola light, was ihm immer wieder mitleidige Blicke eintrug. Die Mahlzeiten waren verständlicherweise deftig und schwer, denn die jungen Männer hatten die Angewohnheit, am Sonnabendabend geschlossen die einschlägigen Lokale unsicher zu machen. Da ihr Durst mit zunehmender Tageszeit immer mehr anwuchs war eine gute Nahrungsbasis der Garant für einen erfolgreichen Abend, der nicht selten damit endete, dass der eine oder andere der Brüder die Nacht im Gewahrsam der Polizei verbringen musste, was sie in den Augen der anderen zu Helden stempelte. Der Wollmann-Clan trug seinen zweifelhaften Ruf in der Stadt mit Stolz, nur Bernd wurde nicht wahrgenommen, man ignorierte ihn schlichtweg.

Dabei war er in seiner Behörde durchaus anerkannt. Höflich, zuvorkommend und fachlich sicher wurde er von den Beschäftigten dort sehr geschätzt und insbesondere seine herausragenden analytischen und planerischen Fähigkeiten beförderten ihn die Karriereleiter immer wieder ein Stückchen höher, seine Ernennung zum Referatsleiter scheiterte lediglich an einer noch fehlenden Qualifizierung. Was er nicht wusste war, dass er seinen Aufstieg neben seiner hohen Fachlichkeit auch der Tatsache zu verdanken hatte, dass er als Quotengnom (wie ihn der ihm vorgesetzte Regierungsdirektor hämisch hinter vorgehaltener Hand nannte) missbraucht wurde. Nämlicher Regierungsdirektor war so indiskret gewesen, den Amtsarzt auf die Besonderheit von Bernd Wollmann (seine Körpergröße) hinzuweisen und dieser schlussfolgerte, ohne ihn jemals zu Gesicht bekommen zu haben, dass er damit mindestens eine Behinderung von vierzig Prozent aufwies. Bernd Wollmann selbst wäre nie auf den Gedanken gekommen einen entsprechenden Antrag zu stellen, er fühlte sich normal. In der Behörde schlug man indes so zwei Fliegen mit einer Klappe: ein fähiger Mann stieg auf und man erfüllte die vorgeschriebene Behindertenquote jetzt locker. Das Leben in der Familie von Bernd Wollmann verlief recht gleichförmig und ohne größere Verwerfungen, allerdings sollten Paul und Hilda Wollmann eines Tages ein großes Problem bekommen, bei denen ihnen ihre kräftigen und muskulösen Kinder nicht helfen konnten, nur der Kleine würde mit seinem Verstand in der Lage sein, die Situation zu beherrschen.

Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1

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