Читать книгу Alte Hausmärchen - Humorvoll, spannend und zeitgemäß für Erwachsene neu erzählt, Band 1 - Jörn Kolder - Страница 4
Seltsamen Fremden sollte man misstrauisch gegenüber treten
ОглавлениеGroßmutter leidet im Altersheim an zu geringer Speisenversorgung
Enkelin versucht Versorgungsengpässe durch Lieferungen von Nahrung und Getränken abzumildern
Unheimlicher Fremder mit seltener Krankheit bedroht Großmutter und Enkelin
Wird bei kriminellen Handlungen erwischt und soll festgenommen werden, kann aber entkommen
Findet später auf den richtigen Weg zurück und legt eine sensationelle Karriere hin
Ein problematischer Weg
Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm:
“Komm, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in allen Ecken herum!” (2)
Britta Friedrich war wütend. Diese blöde Frisöse hatte ein viel zu kräftiges Rot genommen, zusammen mit ihrer Pagenfrisur (die momentan mächtig angesagt war) entstand so der Eindruck, dass sie einen farbigen Helm trug. Gerade heute sagte sie sich, wie ärgerlich, denn am Abend wollte sie ihre Großmutter, Frieda Wackerstein, besuchen, die in einem Pflegheim wohnte, welches der gewiefte Betreiber mitten im Wald errichtet hatte, so dass er mit diesem Schachzug und der daraus resultierenden Werbung („Im Herzen der Natur, nur das Beste für unsere Senioren“) das Haus ständig bis auf den letzten Platz füllen konnte.
Zweifellos verstanden die Leute dort ihren Job, denn auch die Großmutter äußerte sich sehr anerkennend über die Betreuung. Der einzige Kritikpunkt blieb die etwas knappe Verpflegung, was zwar zum Teil durch die herausragende Qualität der Speisenversorgung wettgemacht wurde, aber oft verspürte die alte Dame gerade am Abend noch einen kleinen Heißhunger. Dem Küchenleiter waren die Hände gebunden, denn die Pflegekassen versuchten fortlaufend die Kosten des Heimes zu drücken, doch das Credo des Künstlers der Speisenzubereitung (ein ehemaliger Sternekoch, der wieder Bodenständigkeit suchte) war, das Gutes eben teuer und die Menge nicht so entscheidend ist. Damit lag er in Bezug auf die erforderlichen Mengen für die überwiegende Anzahl der Senioren nicht falsch, nur Brittas Oma war als ehemalige Fleischerin eben andere Portionen gewöhnt. Es hatte sich eingebürgert, dass Britta sie an den Wochenenden besuchte und stets einen kleinen Korb mit deftigen Wurstspezialitäten füllte, darunter versteckte sie eine Flasche Rotkäppchen Sekt. Es war nicht so, dass den Heimbewohnern der Genuss von Alkohol untersagt wäre, bloß wollte das Heim dieses Geschäft lieber selbst machen.
Die junge Frau war also immer ordentlich bepackt und die ersten Male ging sie noch am ehemaligen Kindergarten vorbei, suchte sich aber bald einen anderen Weg, denn die aus den Fenstern hängenden muskulösen Männer riefen ihr Anzüglichkeiten zu und schwenkten ihre Bierflaschen. Britta Friedrich war nicht auf den Mund gefallen und gab Kontra, was die Männer offenbar noch mehr anstachelte. Als sie noch ein zweites Mal dort vorbei ging trat ein klein gewachsener junger Mann aus dem Haus und sprach sie an.
„Bernd Wollmann, ich möchte mich ausdrücklich für das Verhalten meiner Brüder entschuldigen, seien Sie bitte nicht böse, es sind halt einfache Jungs“ sagte er höflich.
„Das sind Ihre Brüder“ fragte sie überrascht „Sie sind doch so klein und die anderen wahre Riesen.“
Als sich der kleine Mann wortlos abwandte rief sie ihn nach:
„Bitte, entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen“ aber er ging ohne sich umzudrehen wieder in das Haus.
Aus den Fenstern drang höhnisches Lachen, so dass sie die Beherrschung verlor.
„Haltet die Klappe, ihr blöden Ärsche“ rief sie ärgerlich.
„Zeig doch mal deinen, der scheint ja gar nicht schlecht zu sein“ brüllte einer betrunken zurück.
Um nicht noch mehr zu entgleisen ging sie zügig weiter, bald war sie im nahe gelegenen Wald und der Förster knatterte ihr auf seinem alten S 50 Moped entgegen, mit einem kurzen Zeichen grüßte er sie.
Auch „Hunter“, wie sich der Jäger Martin Kunze in seinen Internet-Chats nannte, war den Verbalattacken der streitlustigen Brüder fortwährend ausgesetzt aber er hatte gelernt, damit umzugehen. Eines Tages eskalierte die Sache allerdings. Als er am Haus vorbei fahren wollte bildeten die sechs Brüder eine Sperre auf dem Weg, so dass er nicht weiterfahren konnte. „Hunter“ war keineswegs ein Feigling, aber gegen diese geballte Testosteronwolke war er chancenlos. Er hatte zwei Optionen: er drehte um und nahm einen riesigen Umweg in Kauf oder spielte den starken Mann. Er entschloss sich schließlich für Letzteres. Als er die Flinte von der Schulter nahm und sie auf die Männer richtete brachen die in lautes Gelächter aus denn sie ahnten, dass die Waffe nicht geladen war. Demonstrativ griff sich „Hunter“ eine große Patrone aus seiner Tasche und lud die Waffe durch, da bröckelte die Barrikade etwas und die lautstark johlenden (und schon wieder angetrunkenen Männer) ließen ihn passieren.
Anders als „Hunter“ nahm Britta lieber einen Umweg, der sie zwar eine gute halbe Stunde mehr Zeit kostete, aber keinen Ärger mit den Wollmann Rabauken einbrachte.