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Hinführung und Vororientierung

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Zu Beginn eines 1979 in Tunis-Karthago stattfindenden Treffens zwischen Muslimen und Christen soll der Direktor für Angelegenheiten des Kultus des tunesischen Premierministers, der Scheich Mustafa Kamal at Tarzi, in seinen Begrüßungsworten auf folgende Weise den Versuch unternommen haben, den christlichen Teilnehmern die Wünschbarkeit, ja die Notwendigkeit solcher Kontakte zu illustrieren:

„Sie glauben, daß Jesus auf wunderbare Weise aus Maria der Jungfrau geboren ist. Doch haben Sie keinerlei Beweise dafür in Ihren Evangelien, die das Werk von Menschen wie Lukas und Matthäus sind, das Werk fehlbarer Menschen also. Doch, Gottseidank – al-hamdu lillah –, bestätigt diese Ansicht der Koran in der Mariensure (Sura 19, 19ff). Also, der Koran ist Gottes direktes Wort: Sie können getrost in ihrem Glauben verharren.“4 Ähnlich argumentieren die im Internet zugänglichen Ausführungen von „Answering-Christianity.de“5: „Es ist wahrlich ein Glücksfall für die Christen, dass der Quran in seiner ganzen Authentizität, die wir im folgenden besprechen werden, die Existenz des wahren Jesus (as) bestätigt und Lügen über ihn und seine Geschichte zerstreut – sonst wäre den Angriffen der Leugner tatsächlich nichts entgegenzusetzen gewesen. Mit anderen Worten, der Quran stellt den einzigen unleugbaren Beweis für die Existenz des Jesus (as) dar“.

Der Koran also als Gottes direktes Wort, die Evangelien bzw. die Bibel in der überkommenen Gestalt als das Werk fehlbarer Menschen – das ist auch heute noch die in der islamischen Welt verbreitete Auffassung. In der Tat können mit Verweis auf die historisch-kritische Bibelwissenschaft, so wie sie seit dem 19. Jh. an den evangelisch-theologischen Fakultäten in Deutschland betrieben und gelehrt wird, die Schriften und Texte der Bibel als von Menschenhand konzipierte Zeugnisse durchaus unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen eingestuft werden; und entsprechend werden an diesen Fakultäten die wissenschaftlich erarbeiteten Erkenntnisse von der Genese biblischer Bücher und ihrer Theologien künftigen Religionslehrern und Geistlichen vermittelt. Für die historisch-kritische Betrachtung enthalten die biblischen Texte, obwohl sie von Gott zu reden wissen oder gar Wort Gottes wiedergeben wollen, zunächst nichts anderes als die Überzeugungen derjenigen, denen wir sie verdanken. Erst nach dieser Vorklärung kann es um die Frage gehen, ob und inwiefern biblische Texte als Zeugnisse menschlicher Rede von Gott als „Wort Gottes“ in Anspruch genommen werden können6.

Dagegen ist für Muslime „jedes Wort des Korans unmittelbar zu Gott. So und nicht anders wurde es ihrem Propheten durch Gott eingegeben, und dank solcher unmittelbaren Herkunft von Gott unterscheidet sich der Koran von jeglicher anderen Rede, die zu Mohammeds Lebzeiten, lange vor und bis zum jüngsten Tag nach ihm geäußert wurde und wird: Die Originalität der koranischen Verlautbarungen des Propheten liegt … darin, daß sie Gottes unmittelbares Wort sein sollen“7.

Man ist aber nicht nur davon überzeugt, dass Mohammeds Verkündigungen in arabischer Sprache in den Jahren 610 bis zu seinem Todesjahr 632 n.Chr. einst authentisch Gottes Wort wiedergaben, man hält auch für sichergestellt, dass Mohammeds Offenbarungstexte alsbald nach seinem Tod von seinen Anhängern zuverlässig gesammelt, rezensiert und zu einem Kodex zusammengestellt wurden. Demzufolge und auf Grund der über die Jahrhunderte kontrollierten und nachvollziehbaren Tradierungsgeschichte des Korans soll sich der zeitgenössische Muslim darauf verlassen, dass seine arabische Koranausgabe „Gottes direktes Wort“ enthält.

Unter muslimischen Gelehrten wird in der Regel lediglich diskutiert, ob und seit wann die nach Mohammeds Auffassung ihm von Gott gewährten Offenbarungen schriftlich festgehalten wurden, ferner ob und in welchem Umfang Mohammed frühere Suren auf Grund weiterer Offenbarungserlebnisse ergänzt hat sowie seit wann der Koran insgesamt als abgeschlossenes Buch vorlag. Generell stimmen jedoch die in der islamischen Tradition enthaltenen Vorstellungen von der Entstehung des Korans in Anliegen und Bemühen überein, auf diese oder jene Weise jegliche Unklarheiten oder gar Zweifel an der göttlichen Herkunft der Texte und eben auch an der Zuverlässigkeit des Tradierungsprozesses abzuwehren. So ist der Islam „die Religion, deren Bekenner behaupteten und bis heute behaupten, das echte, unverkürzte, unverfälschte Wort Gottes zu hüten; allein hierauf gründen sie ihren uneingeschränkten Wahrheits- und Machtanspruch“8.

Insgesamt erinnert diese soeben zunächst nur knapp skizzierte Einschätzung des Korans9 mutatis mutandis an Auffassungen, wie sie christliche Theologen bis ins 18. Jh. vor dem Aufkommen der historisch-kritischen Exegese von der Bibel vertraten. Zumal Theologen des orthodoxen Luthertums verstanden die Bibel als direktes Wort Gottes. Gelehrte wie z.B. Joh. Buxtorf (gest. 1664) oder auch noch Joh. Gottlob Carpzov (1669–1767) pochten darauf, dass die alttestamentlichen Bücher göttlich inspiriert seien, und suchten deren zuverlässige Textüberlieferung nachzuweisen10. Die von ihnen propagierte Sichtweise war durch das Judentum vermittelt worden. Um 1538 von dem jüdischen Gelehrten Elias Levita vertreten wurde sie von den Genannten aufgegriffen und als Beleg für die Lehre der Verbalinspiration ins Feld geführt. Letztlich geht sie zurück auf das wohl um 100 n.Chr. entstandene 4. Esrabuch11, in dem gegen Ende erzählt wird, dass Esra im 30. Jahre nach dem Untergang Jerusalems darüber geklagt habe, dass das Gesetz verbrannt sei und nun niemand mehr Gottes Taten und Zukunftspläne kenne. Er habe dann Gott gebeten: „Schicke in mich hinein den heiligen Geist. Dann will ich alles, was in der Welt von Anfang an geschehen ist, was in deinem Gesetz geschrieben war, niederschreiben …“ (XIV, 22).

Dass die Behauptung der göttlichen Inspiriertheit der Schrift12 sowie die entsprechende Auffassung von der Entstehung des alttestamentlichen Kanons schließlich doch diskutiert und in Frage gestellt wurden, hat sicher mehrere Ursachen (z.B. die kritischen Sichtweisen des Rationalismus und der Aufklärungsphilosophie), denen hier aber nicht weiter nachzugehen ist. Jedenfalls konnte sich allmählich in den theologischen Fakultäten immer mehr die historisch-kritische Bibelwissenschaft durchsetzen; und so gelangte man zunehmend zu Einsichten und Ergebnissen, die der über Jahrhunderte hin gängigen Annahme entgegenstanden, die Existenz der einzelnen Bücher sei einzelnen Gottesmännern, also göttlich Inspirierten, zu verdanken. Dass bei genauerem Hinsehen zumal in fast allen alttestamentlichen Büchern buchkonzeptionelle Inkongruenzen, unterschiedliche theologische Akzentuierungen, sprachlich-stilistische Auffälligkeiten, Dubletten etc. wahrgenommen werden mussten13, ließ sich schließlich nur noch mit durchweg längeren und komplexen Entstehungsprozessen solcher Schriften erklären. Literarkritische und redaktionsgeschichtliche Analysen z.B. prophetischer Schriften wie des Jesaja- oder Jeremiabuchs ergaben, dass zahlreiche Textpassagen sowie auch buchkonzeptionelle Neuarrangements von Texteinheiten nicht einem historischen Jesaja oder Jeremia (auch nicht dessen „Sekretär“ Baruch) zugeschrieben werden konnten. An der Buchgenese mussten Personen und Gruppierungen beteiligt gewesen sein, die im Rückgriff auf vorgegebenes prophetisches Spruch- und Textgut literarisch tätig wurden und auf Grund eigener theologischer Reflexionen überhaupt erst zur literarischen Konzeption „Prophetenbuch“ gefunden hatten. Für die meisten Bücher ließ sich schließlich zeigen, dass für die Entstehung der Endfassung sogar mehrere aufeinander folgende Bearbeitungsprozesse mit entsprechenden Textergänzungen und Neustrukturierungen ausschlaggebend gewesen sind14. Damit konnten die Hintergründe für die Vielschichtigkeit der Schriften und für die „seltzsame weyse zu reden, als die keine ordnunge halten, sondern das hundert yns tausent werffen“, aufgedeckt und zugleich wesentliche Verständnisbarrieren im Blick auf die Aussageanliegen abgebaut werden.

Dass im koranischen Textgut ebenfalls wie im alttestamentlichen Schrifttum von komplizierten Textverhältnissen auszugehen ist, ist „angesichts der Fülle der Wiederholungen, der Brüche in der Gedankenführung, der Ungereimtheiten im Aufbau vieler Themen“15 nicht von der Hand zu weisen. „Die Komposition des Korans ermangelt einer einheitlichen, systematischen oder chronologischen Ordnung der Suren. Dazu bilden die längeren Suren meist ein schwer zu entwirrendes Mosaik verschiedenartigster und den verschiedensten Zeiten angehöriger Offenbarungen“16. Nöldekes Hinweis auf den „wie bekannt oft sprunghaften Stil des Qorans“17, woraufhin für ihn Schwierigkeiten einer Angliederung von Aussagen „nach vorn wie hinten“„noch nicht entscheidend sein“ können, hilft hier nicht weiter; denn gerade eine solche Charakterisierung der literarischen Textverhältnisse des Korans verlangt nach der Aufhellung ihrer Ursachen18.

Muslimische Gelehrte haben sich mit diesem Sachverhalt durchaus befasst und dafür Erklärungen angeboten. So versuchten z.B. mu’tazilitische Theologen (10. Jh.) die Argumente von „Gottlosen“ zu entkräften, die die islamische These von der unnachahmlichen, weil von Gott hergeleiteten Sprachkunst des Korans mit Verweis auf Widersprüche im Text, aber auch aufWiederholungen und Weitschweifigkeiten in Frage stellten19. Ihnen meinte man entgegenhalten zu können: Gott habe während des 23 Jahre langen Vorgangs der Herabsendung des Korans im Blick auf die wechselnden Situationen des Propheten, seine Kümmernisse, Beleidigungen, Nöte etc. Mohammed immer wieder Mut zugesprochen, indem er ihm die Geschichten der früheren Gesandten wiederholt vor Augen hielt, wobei sie natürlich jeweils mit zusätzlichen Informationen und weiteren Hinweisen den aktuellen Gegebenheiten angepasst wurden20.

Dem Bibelwissenschaftler, zumal dem Alttestamentler, stellt sich jedoch bei der Lektüre des Korans die Frage, ob nicht die oft merkwürdigen Textkonstellationen, die „Fülle der Wiederholungen, der Brüche in der Gedankenführung, der Ungereimtheiten im Aufbau vieler Themen“ zum Teil jedenfalls mit ähnlichen literarischen Eingriffen und Bearbeitungen zusammenhängen, wie sie die historisch-kritische Forschung in den alttestamentlichen Prophetenbüchern wahrnehmen musste. Entsprechend ist zu erwägen, ob man nicht der Aufhellung der eigentlichen Hintergründe der auffälligen Textverhältnisse im Koran sowie der Klärung der Frage der Entstehung der Endversion näher kommt21, indem man analog zu den biblischen Schriften auch das koranische Textgut und seine Arrangierungen genauer „mit der Brille“ des Bibelwissenschaftlers betrachtet.

Im Folgenden soll also geprüft werden, inwieweit sich die in der alttestamentlichen Prophetenbuchforschung bewährten Sichtweisen und Untersuchungsmethoden auf das koranische Textgut anwenden lassen.

Bevor hier Versuche in dieser Richtung unternommen werden, folgen zunächst noch weitere Informationen und Belege zu den oben nur kurz angedeuteten muslimischen Sichtweisen sowie eine grobe Skizze der derzeitigen Forschungstrends der sog. westlichen Koranwissenschaft.

4 So nach Kropp, Den Koran neu lesen (2002), 152.

5 Vgl. http://www.answering-christianity.de/article14.html (so am 9.10.2008).

6 Also: „Offenbarungstheologie … wird … sich als Wissenschaft mit der Analyse der Spiegelungen Gottes im menschlichen Bewußtsein bescheiden“ (Müller, Mythos und Kerygma [1991], 214).

7 So z.B. die Wahrnehmung und Beschreibung der islamischen Position aus Sicht der „westlichen“ Koranwissenschaft; vgl. Nagel, Mohammed (2008), 896.

8 A.a.O., 87.

9 Vgl dazu weitere Einzelheiten im folgenden Überblick (bei Anm. 22).

10 Vgl. zu Einzelheiten z.B. Diestel, Geschichte des Alten Testaments in der christlichen Kirche, Jena (1869), 354f.

11 Vgl. IV. Esra XIV, 18–47; dazu Schreiner, Das 4. Buch Esra (1981).

12 Vgl. dazu weitere Einzelheiten z.B. bei Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments (1982), 31–35.

13 Martin Luthers Urteil über die Prophetenbücher lautete deswegen: „Sie haben eine seltzsame weyse zu reden, als die keine ordnunge halten, sondern das hundert yns tausent werffen, das man sie nicht fassen noch sich dreyn schicken muge“ (vgl. Martin Luther, Werke, Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe] XIX, 350).

14 Vgl. dazu die Ausführungen unten nach Anm. 120.

15 So Nagels Auflistung von Sachverhalten, die jedenfalls den sich um den Koran mühenden Nichtmuslim „bestenfalls ratlos“ machen, vgl. Nagel, Einschübe (1995), 17.

16 So Fischer, Der Wert der vorhandenen Koranübersetzungen (1937); das Zitat nach Paret, Der Koran (1975), 8.

17 GdQ I, 154; vgl. auch schon a.a.O., 64.

18 Vgl. Watt, Bell’s Introduction (1970), 100f.: „The vast number of dislocations and the roughness of some of them cannot simply be ascribed to ‚the Qur’ānic style‘.“

19 Vgl. Nagel, Einschübe (1995), 110f.

20 Vgl. Wansbroughs Hinweis (Quranic Studies [1977], 20f.) zu häufigen Wiederholungen bzw. Parallelversionen („variant traditions“): „In the Muslim exegetical literature the latter (scil. „variant traditions“) were explained, or evaded, by reference to the chronology of revelation, by means of which unmistakable repetition in the Quranic text could be justified“. Sinai (Fortschreibung [2009], 35) meint im Blick auf die „literarische Uneinheitlichkeit des Koran“, man dürfe hier „nicht anachronistisch überhöhte Erwartungen an den Verfasser‘ Mohammed“ richten. „Betont man dagegen das Hervorgehen des Textes aus einer zunehmend heterogenen Anhängerschaft und einer Gruppe von seine Autorität polemisch in Frage stellenden Gegnern, so erscheint die literarische Heterogenität des Korans durchaus verständlich“.

21 Man kann hier von einem Thema sprechen, „das ohne Zweifel zu den größten blinden Flecken in der muslimischen Auseinandersetzung mit dem Koran gehört: die Umwandlung der laut muslimischer Überzeugung vom Propheten Mohammed im Laufe von über 20 Jahren empfangenen Einzeloffenbarungen in den sogenannten mushaf, das heißt in ein zwischen zwei Buchdeckeln gefasstes Schriftstück von abschließender und unveränderlicher Form. Diese Umwandlung, die Muslime zumeist für einen derart zuverlässig ausgeführten und inspirierten Akt halten, dass ihr Resultat genau die Art von Buch war, die/Gott von Anfang an im Sinn hatte, ist für Historiker natürlich ein zutiefst menschlicher Kodifizierungsprozess, den man in seinen Einzelheiten analysieren kann – oder könnte, denn an dieses Projekt hat sich in der islamischen Welt noch niemand ernsthaft gewagt“; vgl. Hildebrandt in seiner Einleitung zu „Nasr Hamid Abu Zaid, Gottes Menschenwort“ (2008), 31f.

Die Entstehung des Korans

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