Читать книгу Gespräche mit dem Henker. Ein Buch nach Tatsachen über den SS-General Jürgen Stroop, den Henker des Warschauer Ghettos - Kazimierz Moczarski - Страница 23

VI. Kapitel Lippe bekundet den »Willen des Volkes«

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Im letzten Viertel des Jahres 1932 umwölkt sich die Stirn Hitler-Wotans. Nach dem Wahlsieg der NSDAP im Juli 1932 beginnt sich unter der deutschen Bevölkerung eine gewisse Ernüchterung breitzumachen. Die Beliebtheit der Braunhemden lässt merklich nach. Die Spannung im Lande wächst, da die Krise andauert und die Zahl der Arbeitslosen die Sechs-Millionen-Grenze erreicht.

Präsident Hindenburg löst das Juli-Parlament auf; im November 1932 finden zum zweiten Mal in diesem Jahr Reichstagswahlen statt. Sie verbessern die Lage der Kommunisten (100 Sitze im Reichstag) und der konservativen Rechten (54 Sitze). Die Katholiken erhalten 7 Mandate weniger als im Juli und die Sozialdemokraten 12. (Sie errangen insgesamt 121 Sitze.)

Am schlechtesten kommen die Nationalsozialisten weg. Im November 1932 verloren sie, im Vergleich zum Juli, mehr als zwei Millionen Stimmen und 34 Abgeordnetensitze. Die Partei Hitlers befindet sich am Rande eines gefährlichen Abgrunds, obwohl sie im Reichstag die meisten Mandate stellt (196 von insgesamt 584).

»Die Ursache für die Misserfolge der NSDAP«, erklärte Stroop entschieden, »war der Einfluss fremder Mächte, die das Volk zu degenerieren versuchten, außerdem die unmilitärischen Arbeitsmethoden unserer Partei, die allzu liberal und von linken Kräften durchsetzt war.«

Um diese Zeit ist Stroop bereits eine wichtige Persönlichkeit in seinem Heimatstädtchen. Seit Oktober 1932 führt er die SS-Truppe in Detmold, obwohl er keinen SS-Dienstgrad besitzt. Er wird von gegensätzlichen Gefühlen beherrscht. Manchmal rast er vor Wut über die »unpatriotischen Massen, die sich aufhetzen lassen und die Weisheit des Führers nicht begreifen«. Ein anderes Mal überfallen ihn Zweifel. Was geschieht, wenn der Führer es nicht schafft, wer wird dann die Führung der ehemaligen Soldaten, der Nachkommen des Stammes der Cherusker, übernehmen?

Erleichterung und Stütze findet er im Gehorsam. Wozu viel nachdenken, abwägen, planen, sich mit Zweifeln herumschlagen? Wenn man schon der Partei beigetreten ist, dann darf man nur noch diszipliniert und dem Führer treu sein und notfalls als Therapie eine organisatorische Tätigkeit übernehmen. Zum ersten Mal werden in jenen Wochen »unsichere und parteifremde Elemente« aus der SA im Land Lippe entfernt, außerdem Personen mit »angeschlagenem Rückgrat« und einer »abgestumpften ideologischen Klinge«.

Trotz der Misserfolge Hitlers bei den November-Wahlen zum Reichstag war Stroop stolz über den kleinen Freistaat. »In unserem Lippe errangen wir im November 1932 sogar 1,6 % mehr Stimmen als der Landesdurchschnitt.«

Diesen Stolz verband er mit der Tatsache, dass er 14 Tage vor den Wahlen einen »Parteierfolg« errungen hatte. Er wurde zum SS-Mann und zugleich zum SS-Scharführer ernannt. Damit übersprang Stroop zwei SS-Ränge – den eines SS-Sturmmannes und eines SS-Rottenführers. Diese Art von Beförderung war damals nicht außergewöhnlich. Es gibt Menschen, die es verstehen, in Zeiten von Kampf und Konjunktur, unabhängig von ihren persönlichen Fähigkeiten, blitzschnell in den Kreis der Mächtigsten einzudringen.

Ende November und im Dezember 1932 erhalten die Nazigenossen in Lippe hohen Parteibesuch. Er kommt weder aus Münster, Bielefeld oder von der SS-Gauleitung Westfalen; es sind Parteibonzen aus dem Braunen Haus in München.

Eines Tages fühlte sich Stroop »wie vom Donner gerührt«. Auf einer extra einberufenen Versammlung – so berichtete er – wurde bekannt gegeben, Adolf Hitler persönlich sei auf den Freistaat Lippe-Detmold aufmerksam geworden und habe entschieden, die NSDAP müsse sich zum Wohle Deutschlands am 15. Januar 1933 besonders aktiv an den dortigen Landtagswahlen beteiligen. Aus der zentralen Parteikasse wurden Mittel in solcher Höhe überwiesen, dass es Stroop leicht schwindelte. Die Führungsspitze der NSDAP sicherte ihre Teilnahme an der Wahlkampagne zu.

Alles steht den Detmolder Nazis zur Verfügung: Stroop erhält zusätzliche Befehle. Er wird sie genauestens ausführen. Er fühlt sich zwar etwas gedemütigt, weil durch den Einfall von so vielen Leuten »von oben« seine Rolle als einer der wichtigsten Nazis in Detmold verblasst. Aber er findet sich schnell damit ab, geschmeichelt durch die huldvolle Behandlung seitens der Münchner NSDAP-Stabsleute, die sich immer wieder an ihn wenden:

»Lieber Parteigenosse Stroop, wir müssen alles tun, um einen überwältigenden Sieg ... zu erringen und damit zu zeigen, dass unsere Bewegung sich im Vormarsch befindet und aufzublühen beginnt.«

Stroop wächst über sich selbst hinaus. Er befiehlt, instruiert, organisiert, ist »tätig«; fleißig, eilfertig, aufopfernd, »soldatisch«.

Der Wahlkampf in Lippe begann mit einer ungewöhnlichen Konzentration aller Kräfte und Mittel und mit dem Einsatz vielfältiger Propagandamethoden. Sie sollten die etwa 100000 wahlberechtigten Bürger beeinflussen. Die direkte Agitation erfasste alle Ortschaften des Landes Lippe. Den kleinen Freistaat überschwemmten Redner, Claqueure, Reporter, Filmleute, Kolporteure, Verfasser von Schmähschriften und Lobeshymnen, Schlägergruppen und »sanfte« Einpeitscher, Demagogen und stille Pseudo-Wissenschaftler. Man vergaß auch nicht, das Netz der Informanten und Spitzel dichter zu legen. An alles wurde gedacht. Ganze Transporte von Würsten und ähnlicher »Wahlstärkung« rollten heran; in den abgelegenen Dörfern stellten die Nazis große Zelte für ihre »Aufklärungsversammlungen« auf.

»An dieser Aktion nahmen Adolf Hitler, Göring und Goebbels persönlich teil, außerdem Dr. Frick1, Ley2, Kerrl3, Kube4 und andere Volksführer«, erzählte Stroop.

»Auch Heinrich Himmler war anwesend, aber seine Aufgaben lagen auf einem anderen Gebiet, außerhalb der Agitation.«

»Haben Sie ihn dort kennengelernt?«

»Jawohl. Ihn, Adolf Hitler, Goebbels und unseren Hermann5, diesen treuesten Paladin des Führers, und den Prinzen August Wilhelm von Preußen ...«

»Auch der preußische Prinz August Wilhelm war Genosse und Mitglied eurer ›sozialistischen Arbeiterpartei‹?«

»Ja. Warum auch nicht? Der Prinz war ein kluger Mann und hatte die neue Zeit begriffen. Wenn Sie wüssten, mit welcher Eleganz er vor den Wahlkundgebungen allabendlich gesprochen hat.«

»Aber er war doch ein reicher Großgrundbesitzer?«

»Na, Prinz August von Preußen war mehr als ein Großgrundbesitzer, aber selbst wenn man ihn als einen solchen bezeichnen wollte, so war er doch ein nationalsozialistischer Großgrundbesitzer

Das Hauptquartier des Wahlkampfes wurde im Schloss Vinsebeck des Barons von Oeynhausen aufgeschlagen, wo auch Hitler wohnte. Stroop betätigte sich bereits bei der Begrüßung des Führers auf dem Bahnhof von Detmold. Unter anderem führte er die erste Kontrolle der Blumensträuße durch, die dem »Führer« durch eine Abordnung von Kindern überreicht wurden. Welch ein hektischer Eifer musste Stroop auf diesem Bahnhof erfasst haben, wie mussten seine Gedanken besonders flink und konzentriert nach jeder Kleinigkeit spähen und sie registrieren! So rasch und konzentriert wie zehn Jahre später während der Großaktion in Warschau.

Mit Rücksicht auf die Bedeutung der Wahlen in Lippe hatte Hitler alle anderen Verpflichtungen abgesagt und traf am 5. Januar 1933 in Detmold ein. Neun Tage hielt er sich in Lippe auf und hielt auf den Wahlversammlungen sechzehn lange Reden.

Goebbels erschien etwas später, aber gleich am ersten Abend sprach er auf drei Versammlungen in kleineren Dörfern. Am freundlichsten wurde Göring von der Bevölkerung empfangen. Männlich, von stattlicher Figur, »unser Hermann«, der »Abgott« der Frauen des Ländchens Lippe, sozusagen von den Tragflächen seines Flugzeugs aus der Zeit des Ersten Weltkrieges nach Lippe heruntergesegelt.

Auch der Helm Hermann des Cheruskers hatte Flügel. Eine gedankliche Verbindung, die die Herzen der Bürgersfrauen und Bäuerinnen in Lippe-Detmold höher schlagen ließ.

Alle Säle waren überfüllt. Es war schon ein großes Ereignis für diese entlegene Provinz, so bekannte Akteure der deutschen politischen Szene sehen und hören zu können. Akteure, die gnädig, fast einschmeichelnd wirkten, Schutz und Protektion versprachen. Akteure, die einerseits die Schönheit des lippischen Landes und die Vorzüge seiner Bewohner unterstrichen, Hermann den Cherusker und das Urgermanische des Teutoburger Waldes priesen, andererseits eine Fotomontage von Wahrheit und Lüge vorführten, wilde Gerüchte und Unterstellungen sowohl über »Reaktion und Konservatismus«, als auch, und das vor allem, über Sozialdemokraten und Kommunisten verbreiteten, »diese Zerstörer des Volkes, die Juden und fremden Agenten«. Denn nicht Konservative, sondern Sozialdemokraten regierten in Lippe nach dem Ersten Weltkrieg. Und nicht die Konservativen, sondern die SPD-Mitglieder, darunter die zwei Spitzenfunktionäre Drake und Fechenbach, wurden von den Agitatoren, den Schlägertrupps und von der Nazi-Presse verbissen bekämpft.

»Die unermüdliche Arbeit der Nationalsozialisten in Lippe wird der unbegrenzten Herrschaft der SPD ein Ende machen – und, wenn das Schicksal es will, Lippe in die Reihe von Ländern wie Anhalt, Thüringen, Braunschweig und Mecklenburg stellen, die bereits vom völkischen und nationalen Geist geleitet werden«, schrieb in einer Wahlreportage der »Illustrierte Beobachter« vom 14. 1. 1933.

Die Wähler wurden mit Losungen überschwemmt, die man sich in den verschiedensten Küchen zusammenbraute – von den Industriearbeitern über die Bauern bis zu den Bankiers und Großgrundbesitzern. Sie hörten etwas von den »historischen Aufgaben des Nationalsozialismus, die unter anderem darin bestehen, kraft des Willens eines ganzen Volkes die neue Staatsdoktrin des XX. Jahrhunderts in Deutschland von der Theorie und historischen Wahrscheinlichkeit in die Wirklichkeit zu übertragen«.

In dem schwach industrialisierten und dünn besiedelten Lippe bildeten die Bauern den größten Bevölkerungsanteil. Die Hauptstoßrichtung der Nazipropaganda galt demzufolge dem Bauernstand. Der Stolz und Ehrgeiz der Bauern wurde zielstrebig angestachelt, man argumentierte etwa so: Das Reich war immer auf den Bauern, seine Vaterlandsliebe und seine soldatische Leistung angewiesen. Er, der Bauer, ernährt und beschützt uns. Die Bauern von Lippe sind die reinrassigsten Nachkommen der berühmten Cherusker, jener germanischen Helden, welche die Römer im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen haben. Sie sind am opferbereitesten und widerstandsfähigsten gegen jede feindliche Einflüsterung. Ihnen war es gelungen, unter Führung des Ortsgruppenleiters der NSDAP Vollmer aus dem Dorf Müssen, ganz allein während der letzten Gemeindewahlen die Sozialisten zu schlagen und damit den Boden für den Kampf um die Macht im Landtag zu bereiten.

»Dieser Vollmer aus Müssen war ein Musterbeispiel eines germanischen Bauern«, erzählte Stroop. »Tief im Heimatboden verwurzelt. Ein Nationalist, ein glänzender Landwirt. Alter Soldat. Er hatte das Wesen unserer Bewegung erfasst.«

»Sie kannten ihn?« fragte ich.

»Jawohl. Ich bemühte mich, sein gesellschaftlich-politisches Wissen zu vertiefen. Er begriff sofort, worum es ging. Und wie dieser Mann wirklich dachte, davon zeugt nur ein Beispiel: Anfang Januar 1933 sollte das Ehepaar Vollmer seine silberne Hochzeit feiern. Aber die Partei war mitten im Wahlkampf und der alte Vollmer war rund um die Uhr im Einsatz. Also beschloss er, die silberne Hochzeit nicht zu feiern. Solche Bauern haben wir in Lippe! Und deshalb musste über dem Land Hermanns endlich die Hakenkreuzstandarte Adolf Hitlers wehen!«

»Dieser Vollmer hat doch einige Sozialisten in Müssen verprügelt?«, meinte ich.

»Na ja, irgendwelche Zusammenstöße sind schon vorgekommen, und dabei wurde auch geprügelt. Aber wir, die SS-Führung, wurden erst hinterher benachrichtigt, als alles vorbei war.«

»Herr Stroop«, brauste ich auf, »nehmen Sie mich nicht auf den Arm! Ich bin davon überzeugt, dass Sie den Plan genau gekannt haben, auf welche Weise die Leute in Müssen vor den Wahlen terrorisiert werden sollten. Was für ein SS-Chef wären Sie denn sonst gewesen?«

Stroop schwieg, Schielke grinste schadenfroh, dass ich es dem SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS »mal so richtig gegeben habe«, wie er mir später zuflüsterte.

Der massierte Einsatz der NSDAP bei den Wahlen in Lippe hatte zu einem gewissen Erfolg geführt, von einem überwältigenden Sieg konnte jedoch nicht die Rede sein. Die Nazis erhielten 39,5 % der Stimmen. Der Stimmanteil zugunsten der NSDAP war am 15. Januar 1933 im Vergleich zum November 1932 um 4,8 % gestiegen; aber trotz einer fantastischen Propagandaanstrengung konnten die Gefolgsleute Hitlers ihren Erfolg vom Juli 1932 nicht wiederholen.

Die historische Chronik der Nationalsozialisten »Das Dritte Reich« (Autor: Gerd Rühle) enthält in Band I, Seite 25, einen Absatz unter der im Fettdruck abgesetzten Überschrift: »Gewaltiger Wahlsieg der NSDAP über die Reaktion bei den Landtagswahlen in Lippe«. In diesem Absatz wird angeführt, dass von insgesamt 21 Mandaten die NSDAP 9 errungen habe. Die Reaktion (d.h. die Deutschnationalen) konnte nur ein einziges Mandat retten. In den Wahlen zum lippischen Landtag sei es der Nationalsozialistischen Bewegung nicht nur gelungen, die Verluste vom 6. November 1932 wieder aufzuholen; sie habe gezeigt, dass sie auf dem Vormarsch ist.

»Das Dritte Reich« preist den »Sieg über die Reaktion«, erwähnt aber mit keinem Wort den Kampf gegen die Sozialisten, die ebenfalls 9 Mandate errungen hatten, die Kommunisten (2 Mandate = 11,2 % Stimmen) und die fortschrittlichen Demokraten. Die offizielle Chronik der Nazis konnte die Misserfolge bei ihren gegen die Linke gerichteten Angriffen nicht zugeben. Im Schlusssatz des erwähnten Abschnittes druckt »Das Dritte Reich« folgenden Kommentar:

»Die moralische Wirkung des Wahlsieges in Lippe war von ausschlaggebender Bedeutung.« Hier muss man.Gerd Rühle Recht geben. Tatsächlich besaßen für Hitler die Ergebnisse der Landtagswahlen in Lippe eine große psychologisch-propagandistische Bedeutung, im nationalen und sogar internationalen Maßstab. Die Nazi-Partei hatte nämlich Ergebnisse erzielt, die es Goebbels erlaubte zu behaupten, dass die während der November-Wahlen zum Reichstag 1932 aufgetretene Krise überwunden sei, die Abwanderung der Anhänger gestoppt wurde und die Reichsbevölkerung sich »für uns« ausgesprochen habe.

Die damalige Krise in der Politik der NSDAP war auf viele Ursachen zurückzuführen, darunter auf die innere Situation der Partei. Die Abkehr Gregor Strassers6, des Organisationsleiters der NSDAP, von der Partei, war nur ein Beweis für die innere Zerrissenheit. Gregor Strasser erklärte seinen Verzicht auf alle Parteiämter und auf sein Reichstagsmandat. Man rechnete allgemein mit einem Bruch in der Partei. Strasser bezog einen Kurs, der auf eine mögliche Zusammenarbeit mit der Regierung Schleicher7 gerichtet war. Hitler dagegen strebte eindeutig die legale Machtübernahme ohne eine Bindung an Schleicher an und wollte um keinen Preis vom vorgegebenen Ziel der NSDAP abweichen: der Kanzlerschaft für Hitler.

Außerdem verfügte die NSDAP kaum noch über finanzielle Mittel. Goebbels schreibt darüber in seinem Buch »Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei«. Einen Tag vor seiner Abreise zum Wahlkampf in Lippe notiert er: »In der Organisation herrscht schwere Depression. Die Geldsorgen machen jede zielbewusste Arbeit unmöglich.« Er fügt hinzu, dass Hitler sich in diesen Tagen mit Selbstmordabsichten trägt: »Wenn die Partei einmal zerfällt, dann mache ich in drei Minuten mit der Pistole Schluss!«

Am Vorabend der Abreise Hitlers nach Detmold fand im Haus des Kölner Industriellen und Bankiers Kurt Freiherr von Schröder ein Treffen zwischen Hitler und von Papen8 statt. Teilnehmer waren: Heß, Himmler und Keppler9. Hitler hatte sich bereits entschieden. Von seinen grundsätzlichen Plänen, der »Ideologie« und den finanziellen Bedürfnissen der Partei ausgehend, suchte er nach einem Übereinkommen, das mit dem Sturz Schleichers und dem Einverständnis Hindenburgs zu einer Kanzlerschaft Hitlers enden sollte. Es ist anzunehmen, dass die Konservativen, die Junker und Großindustriellen des Reiches Hitler damals folgende Bedingung gestellt haben: Ihr müsst die Landtagswahlen gewinnen, um dem Volk zu zeigen, dass ihr ständig auf dem Vormarsch seid – und wenn wir euch in dieser Situation die Macht nicht freiwillig übergeben, dann müsst ihr sie euch durch eine »revolutionäre Tat« selbst nehmen.

Aber kehren wir zu den Vorwahl-Tagen nach Lippe zurück. Für die Bewohner des ehemaligen Fürstentums, die traditionsbewusst und im Übrigen recht unbeweglich waren, musste der Sprung, zu dem Hitler und seine Gefolgsleute (von Göring und Goebbels bis Stroop) sie zwingen wollten, schwer nachzuvollziehen sein.

Die Mehrheit der Einwohner des Freistaates war es nicht gewohnt, Hals über Kopf zu Entscheidungen gedrängt zu werden. Sie hätten fast jede Dummheit mitgemacht, wenn sie ihnen langsam und bedächtig vom Lehrer, Pfarrer, Pastor, dem Feldwebel oder Polizisten, einem bekannten Landwirt, einem wohlhabenden Kaufmann, Fabrikanten oder beliebten Handwerksmeister beigebracht worden wäre. Aber so plötzlich und sofort – nein! Niemals! Das widersprach ihrer Natur und ihren Gewohnheiten.

Außerdem war ein Teil der Bevölkerung aktiv mit den traditionellen Parteien verbunden. Die einen waren Anhänger der SPD oder KPD. Und andere, Gewerkschaftsfunktionäre, Mitglieder kultureller Verbände oder Sportvereine, widersetzten sich einer Gleichschaltung im Rahmen der Partei des künftigen Diktators. Dadurch war die psychologische Transfusion, von der Hitler (und auch Stroop) träumten, in Lippe nicht ganz widerstandslos durchzuführen. Und in dem Maße, in dem die Agitation immer schärfere Formen annahm, waren immer weniger Bürger bereit, eine weltanschauliche Bluttransfusion an sich vornehmen zu lassen, obwohl die ideologischen Sanitätswagen der Nazis mit laufendem Motor vor der Tür warteten.

In dieser Situation griffen die Nazis zum Mittel der Gewalt und Angst. Stroop gehorchte gern dem Befehl zur »Anwendung des Terrors«. Er hatte stets behauptet, die Partei gehe zu rücksichtsvoll vor, und dass man »die Dummen auch gegen deren anfänglichem Willen glücklich machen müsse« mit Hilfe von Befehlen und durch körperliche Kraft, alles im Namen der »wahren Idee«. Er liebte direkte Aktionen, was er häufig mit dem französischen Ausdruck »action directe« unterstrich.

Die action directe begann. Die Braunhemden und Totenköpfe wurden aktiv. Sie prügelten, brandschatzten, entführten Menschen. In Detmold breitete sich Angst aus, als bekannt wurde, dass die Nazis die Räume der Raiffeisen-Genossenschaft demoliert hatten und dass es zum Kampf zwischen den Hitler-Anhängern und Mitgliedern des »Reichsbanners10« gekommen war. Es gab fünf Verletzte. Die Nazis zerschlugen Fensterscheiben im Haus der Genossenschaft und in den umliegenden Wohnungen. Sie schossen um sich, prügelten mit

Knüppeln und Schlagringen. Möbel und Akten der Genossenschaft wurden auf die Straße geworfen, die Papiere auf einem großen Holzstoß verbrannt. Sie tobten vor Wut und Freude.

Stroop stand mit seinem SS-Gefolge in der Nähe und beobachtete die SS- und SA-Männer, ob sie auch genügend kräftig zuschlugen und eifrig genug waren.

(Genau so wird er im April 1943 im brennenden Warschauer Ghetto alles genau beobachten.) Und einige Straßen weiter spazierten hohe Nazi-Funktionäre in Zivil durch das romantische Detmold und achteten darauf, dass Stroop und seine Untergebenen alle Befehle bis zum Letzten ausführten. (Im April 1943 werden Himmler, Krüger und andere Stroop pausenlos kontrollieren, ob er die Vernichtungsaktion an der Warschauer Bevölkerung perfekt durchführt.)

Einen Tag nach den Landtagswahlen liest Stroop im »Angriff« einen Artikel von Goebbels unter der Überschrift: »Signal Lippe!«. Goebbels unterstreicht darin die allgemeine Bedeutung der Wahlen, nennt keinerlei Einzelheiten der Aktion und bläst in das Horn des nationalen Triumphes. Dieser Artikel wird zur Ausgangsbasis für den politischen Kampf der folgenden Tage. Die NS-Reichspressestelle gibt bekannt, dass die NSDAP nach Überwindung vorübergehender Schwierigkeiten in eine neue Entwicklungsphase eintritt. Die nazistischen Tageszeitungen folgen den Direktiven Goebbels’ und erheben die Wahlen in Lippe in den Rang eines Volks-Referendums für die Machtübergabe an den Führer. Der »Sieg von Lippe« stärkt die Position Hitlers, Görings und Goebbels’ in den geheimen Verhandlungen mit einflussreichen Kreisen, die auf die NSDAP gesetzt haben. Während seiner Gespräche mit Hindenburg zum Beispiel beruft sich Papen auf die Wahlergebnisse von Lippe und erweckt den Anschein, als hätten sie die Bedeutung eines politischen Tests, wie etwa die Nachtragswahlen in Großbritannien oder den USA.

Der Erfolg der NSDAP ist das Tagesgespräch in Lippe. Auch das Ausland zeigt lebhaftes Interesse und ist über den »taktischen Wahltrick« von Lippe beunruhigt, da der Nationalsozialismus jetzt verkünden kann, dass er siegreich sei und vom deutschen Volk gebilligt werde.

»Manchmal kann ein gewöhnlicher Kirschkern über das Los einer nationalen Politik entscheiden«, schrieb damals eine europäische Zeitung, wobei sie mit dem »Kirschkern« den Freistaat Lippe und dessen Wahlen meinte. Man könnte mit dieser Verallgemeinerung einverstanden sein, unter der Voraussetzung jedoch, dass die Sache mit dem »Kirschkern« kein Zufall war, sondern ein politisches Werkzeug Hitlers darstellte, von seinen Verbündeten und Geldgebern voll akzeptiert. Als Folge wurde eine Scheinwahrheit, jener »Sieg von Lippe«, konstruiert und von der Propaganda verbreitet, wobei eine notwendige Antwort in Form von unverfälschten Informationen ausblieb. Es folgten Schachzüge und politische Machenschaften, wobei das Volk gleichzeitig mit aufregenden Parolen gefüttert wurde. Eine davon war der Ruhm von Lippe, das »den Willen des Volkes« bekundet hatte.

Man verlor keine Zeit mehr; am 30. Januar 1933 war es so weit. An diesem Tag legte der 86-jährige Paul von Hindenburg die Macht im Deutschen Reich legal in die Hände Adolf Hitlers und seiner organisierten Anhänger.

Am Tage der Machtübernahme durch Hitler zählte die SS in ganz Deutschland etwa 52000 nach »Blut und Rasse« ausgewählte Mitglieder. Nicht allzu viel, wenn man an Himmlers spätere Armee denkt. Bald aber wird sie wachsen, das Reich in Besitz nehmen wollen wie einst Preußens Armee Preußen als dessen, wie Mirabeau es ausdrückte, eigentliche »Besitzerin«. Innerhalb der Grenzen des »Kirschkerns« Lippe (es zählte knapp 1215 qkm und etwa 160 000 Einwohner) entfaltete Stroop eine emsige Tätigkeit. Er hatte Anteil an dem Erfolg, dessen Datum – 15. 1. 1933 – sich im Parteikalender der NSDAP wiederfand.

Und wieder ist Stroop im germanischen siebenten Himmel. Seine Verdienste sind bekannt. »Nach erfolgreicher Arbeit« erringt er das Wohlwollen der NSDAP-Spitze, knüpft Kontakte, Beziehungen, seine materielle Lage bessert sich zusehends. Er hat Geld, wird befördert. Am 15. Februar 1933, nachdem er wieder einen Dienstgrad übersprungen hatte, wird er SS-Truppführer. Die Detmolder Bürger grüßen ihn devot. Die Ehefrauen und Töchter bemühen sich über Frau Stroop um Protektion bei ihrem Mann. Er aber fährt immer häufiger über Land, zu den Bauernhöfen und Gutsbesitzern, besucht Schlösser und Feudalsitze; sogar der Fürst zu Lippe persönlich lädt ihn ein. Der Fürst bittet den SS-Truppführer Stroop zu sich, den Sohn eines ehemaligen Chefs der Polizeiwache. Er bietet ihm ein Glas Rheinwein an, und Stroop kehrt genauso strahlend heim wie vor Jahren sein Vater, der alte Oberwachtmeister Konrad.

Stroop besitzt nun schon mehrere Paar Stiefel und Galliffet-Hosen. Er reitet, sooft es ihm seine Zeit erlaubt. Er hat viel zu tun, denn die NSDAP segelt in starkem Aufwind, und befiehlt: handeln, handeln, arbeiten! Dem Feind keine Ruhe gönnen! Die Chance nützen, die Verfolgung verstärken! Marschieren! Zuschlagen, bis die Fetzen fliegen! Für Orden, Prämien und Beförderungen ist jetzt keine Zeit. Denn wir erleben die »große Wende, wie in Kriegszeiten«. Seht also zu, wie ihr fertig werdet, ihr dort am unteren Ende der Parteileiter!

Obwohl sich Stroop in der Zelle zu diesem Thema nie klar geäußert hat, nehme ich doch an, dass der künftige SS-Gruppenführer in jenen Tagen besonders intensiv an sich selbst und an das Wohl seiner Familie gedacht hat.

Anfang März 1933 widerfährt Stroop eine »große Ehre«: Er wird zum Führer der Hilfspolizei des Landes Lippe ernannt.

Knapp 14 Tage zuvor hatte Göring den regulären Polizeitruppen 50 000 SA- und SS-Mitglieder einverleibt, die die Reichshilfspolizei bilden sollten. An die abkommandierten SS- und SA-Leute wurden Waffen ausgegeben, sie erhielten weiße Armbinden und wurden rechtlich der normalen Polizei gleichgestellt, um diese »gesund zu machen«.

Wie wir sehen, nahm Stroop nun auch formellen Anteil an der steigenden Welle von Grausamkeit und Unrecht. Im Grunde war er schon vorher der Anführer der SS-Truppe im Land Lippe gewesen, die mit Gebrüll, mit Ausschreitungen, Terror, Folter und Verbrechen dem Führer und sich selbst einen Weg zu uneingeschränkter Macht gebahnt hatte.

Führer der Hilfspolizei in Lippe blieb Stroop bis Mitte Juni 1933. Mit seinen Untergebenen durchsetzte er die Reihen der Berufspolizei, er »erzog« sie im »neuen Geist«. Genau genommen stand er über dem Gesetz.

Joseph Stroop befehligte eine kleine Gruppe alter Polizisten, eine größere Anzahl »neuer«, die sich aus Mitgliedern der nazistischen Hilfspolizei zusammensetzten, sowie die SS. Insgesamt war es eine große Einheit, denn seit Mitte Januar 1933 befehligte Stroop den 3. Sturm (eine Kompanie) des V. Sturmbanns der 19. SS-Standarte.

Stroops Vater, der Polizei-Oberwachtmeister Konrad Stroop, hatte einst für das gleiche Gebiet fünf Beamte zur Verfügung. Auch er war ein treuer Polizeichef von Lippe gewesen, allerdings unter anderen Umständen. Zwei Ähnlichkeiten gab es zwischen den Positionen von Vater und Sohn: Beide waren Polizeichefs im Fürstentum Lippe und beide besaßen keine höhere Qualifikation für diesen Beruf. (Im Gegensatz zum Vater verfügte Joseph Stroop nicht einmal über eine Grundausbildung als Polizist.)

Der Unterschied zwischen ihm und dem Oberwachtmeister Konrad beruhte darauf, dass Joseph Stroop nun zur Elite des Lippelandes gehörte und Hitler, Göring und Himmler persönlich kannte. Vor allem Himmler.

Gespräche mit dem Henker. Ein Buch nach Tatsachen über den SS-General Jürgen Stroop, den Henker des Warschauer Ghettos

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