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(f) Einsatz eines noch unerfahrenen Assistenzarztes
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Dem Assistenzarzt (Nichtfacharzt) dürfen nur solche Verrichtungen eigenverantwortlich überlassen werden, denen er nach seinem Kenntnis- und Erfahrungsstand gewachsen ist.[247] Dies bedeutet, dass dem Berufsanfänger nur dann z.B. „Teile oder auch die gesamte technische Durchführung der Operation“ bzw. der Narkose anvertraut werden dürfen, „wenn damit keine zusätzlichen Gefahren für den Patienten verbunden sind und eine ständige Überwachung durch den eingriffsbereiten Facharzt stattfindet“. Wörtlich heißt es in der zitierten Entscheidung:
„Die ausbildenden Ärzte müssen nach objektiven Kriterien prüfen, dass durch die Übertragung der Operation auf den jungen Arzt kein zusätzliches Risiko entsteht… Sobald der Chefarzt Zweifel am Ausbildungsstand eines jungen Kollegen hat, muss er für die Überwachung durch einen Facharzt sorgen. Vorrang haben das Wohl des Patienten und seine Sicherheit, nicht etwa eine bequemere Organisation des Klinikdienstes und die (gewiss notwendige) Verschaffung der Gelegenheit für einen Assistenzarzt, die zum Erwerb der Qualifikation erforderlichen Operationen durchzuführen.
In keinem Fall dürfen sich Krankenhausträger und Ärzte darauf berufen, ein Mangel an ausreichend ausgebildeten Fachärzten zwinge zum Einsatz auch relativ unerfahrener Assistenzärzte.“
Im konkreten Fall hatte der Dienst habende Oberarzt den noch in der Facharztausbildung befindlichen Assistenzarzt zu einer Lymphknoten-Exstirpation als Operateur eingeteilt. Obwohl dieser eine derartige Operation noch nie vorgenommen hatte, führte er sie ohne Aufsicht aus und verletzte dabei den Nervus accessorius mit der Folge, dass die Patientin seitdem ihren rechten Arm nicht mehr über die Horizontale heben kann. Der BGH bejahte einen Behandlungsfehler in Gestalt eines Delegations- und insbesondere Überwachungsfehlers auf Seiten des weisungsbefugten Oberarztes, da er die Übertragung dieser Operation zur eigenverantwortlichen Durchführung auf einen noch unerfahrenen ungeübten Assistenzarzt nicht ohne ordnungsgemäße Überwachung vornehmen durfte.
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Der in der Ausbildung befindliche Arzt darf sich, „sofern von ihm aufgrund seines Ausbildungsstandes nicht bessere Erkenntnisse und Einsichten zu erwarten sind, auf die Beurteilung des übergeordneten Facharztes verlassen […]“.[248] Angesichts der regelmäßig überlegenen fachlichen Befähigung des Vorgesetzten verdient das Vertrauen des nachgeordneten Mitarbeiters auf die Richtigkeit der Weisungen weitestgehenden Schutz. Sorgfaltspflichten des Weisungsempfängers im Verhältnis zum Anweisenden können sich somit nur bei erkannten Mängeln ergeben.[249] Wie bereits ausgeführt, darf der Assistenzarzt „grundsätzlich darauf vertrauen“, dass die Organisationsverantwortlichen auch „für den Fall von möglichen Komplikationen“ und Notfällen unter Berücksichtigung seiner noch nicht abgeschlossenen Weiterbildung „die gebotene Vorsorge“ zur Einhaltung des Facharztstandards getroffen haben. Das gilt nur dann nicht, wenn – für den Assistenzarzt erkennbar – Umstände hervortreten, die ein solches Vertrauen als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen“[250]. Unter dieser zuletzt genannten Prämisse läge für den Assistenzarzt ein Übernahmeverschulden vor.
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Die personelle Besetzung des Nachtdienstes einer geburtshilflichen Abteilung ist deshalb nicht schon dann fehlerhaft organisiert, wenn ein noch relativ unerfahrener Arzt (der bislang nur an drei oder vier Beckenendlagegeburten teilgenommen hatte) zum Nachtdienst eingeteilt wird, der rufbereite Facharzt sich aber unverzüglich binnen 10 Minuten einfinden kann. In einem solchen Fall, in dem dem Assistenzarzt die für die Wahrnehmung des Nachtdienstes üblicherweise zu fordernden Kenntnisse fehlen, müssen aber klare Anordnungen seitens der medizinischen Leitung der Klinik über die Benachrichtigung des Hintergrunddienstes vorliegen. Anderenfalls ist ein grober Organisationsfehler anzunehmen.[251] Die organisatorischen Maßnahmen der Klinikleitung zur Gewährleistung des Facharztstandards in der Geburtshilfe[252], insbesondere bei der Geburt, haben sicherzustellen, dass ein im Fachgebiet Frauenheilkunde und Geburtshilfe tätiger Arzt rund um die Uhr ständig im Bereitschaftsdienst verfügbar ist. Der bereitschaftsdiensthabende Arzt muss nicht Facharzt und auch nicht ständig am Gebärbett zugegen sein. Dies ist vielmehr vorrangig Aufgabe der Hebamme. Die Anwesenheitspflicht des Arztes beginnt bei regelrechtem Geburtsverlauf mit Beginn der Pressperiode.[253]
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Vor diesem Hintergrund ist der Einsatz von Berufsanfängern im Bereitschafts-, Nacht- und Kreißsaaldienst äußerst problematisch. Denn „die Pflicht zur fachgerechten Versorgung des Patienten besteht uneingeschränkt auch für die Zeit außerhalb des regulären Dienstbetriebs“.[254] Da der Berufsanfänger die ihm zugewiesenen ärztlichen Tätigkeiten mit einem dem wachsenden Stand seiner Kenntnisse und Fähigkeiten entsprechenden Maß an Verantwortlichkeit verrichten soll, ist er nach einer Einarbeitungszeit, d.h. bei Erreichen des gebotenen Ausbildungs- und Erfahrungsstandes, auch im Bereitschafts-, Nacht- und Kreißsaaldienst einsetzbar. Die Kontrolldichte muss dann jedoch so sein, dass durch den Einsatz des Nichtfacharztes kein erhöhtes Risiko für den Patienten bzw. die Patientin zu befürchten ist.[255]
Insoweit bestehen jedoch erhebliche Bedenken. Denn es liegt nun einmal im Wesen des Bereitschaftsdienstes (Nachtdienstes, Kreißsaaldienstes), dass sich nicht voraussehen lässt, welche Anforderungen an den Arzt dabei gestellt werden. In vielen Fällen sind die Rettung des Patienten (von Mutter und Kind) und ein Behandlungserfolg von der richtigen Anfangsdiagnose und davon abhängig, dass sofort die sachgerechte Therapie eingeleitet wird. Gerade im schnellen und zutreffenden Erkennen einer solchen Gefahrensituation liegt jedoch oftmals das Problem des noch unerfahrenen Arztes: Er weiß nicht, ob er sich selbstständiges Handeln zutrauen darf oder den kompetenten Hintergrunddienst herbeirufen muss. Die spezifische Gefahr für den Patienten bei selbstständiger Tätigkeit eines noch nicht voll ausgebildeten Arztes besteht deshalb gerade darin, dass dieser auftretende Komplikationen eventuell gar nicht oder zu spät bemerkt und deshalb den Hintergrunddienst nicht oder jedenfalls nicht rechtzeitig hinzuzieht[256]. Diesem Risiko lässt sich auch nicht dadurch begegnen, dass für geburtshilfliche Abteilungen der Hintergrunddienst im Krankenhaus und nicht nur außerhalb, etwa zu Hause, zur Verfügung steht, was die neuere Rechtsprechung teilweise fordert.[257]
Diese gefahrenträchtige Situation kann zur strafrechtlichen Haftung sowohl des Chefarztes als auch des Assistenzarztes führen: Dem Leitenden Arzt ist möglicherweise ein Delegations- (Organisations-)fehler vorzuwerfen, dem jungen Arzt u.U. ein Übernahmeverschulden. Denn:
„Ist der Dienst habende Arzt, dem die ärztliche Versorgung und Betreuung der ihm anvertrauten Patientin obliegt, in Anbetracht seiner eingeschränkten Erfahrung nicht imstande, die Beschwerden und die Veränderungen im Befinden des Patienten mit der nötigen Sicherheit einzuordnen, so muss er sofort einen kompetenten ärztlichen Kollegen hinzuziehen, damit dieser auf dem Boden ausreichender Erfahrung die Behandlungsaufgabe übernimmt und die erforderlichen Anordnungen trifft. Das folgt aus dem von der Rechtsprechung aufgestellten und am Interesse des Patienten orientierten Grundsatz, dass bei stationärer Behandlung des Patienten der Facharztstandard gewährleistet sein muss. Unterlässt der noch in der Ausbildung befindliche Arzt die gebotene sofortige Zuziehung des erfahrenen Kollegen, so handelt er schuldhaft und pflichtwidrig. Die gleiche Beurteilung gilt, wenn der noch in der Ausbildung befindliche Arzt hätte erkennen müssen, dass er in Bezug auf Diagnose und Therapie überfordert ist“ [258] .
Dem in den Abteilungen anwesenden Personal müssen daher sog. „Oberarztindikationen“ (Befundsituationen, bei denen sofortig der Oberarzt zu verständigen ist) genau vorgegeben werden.
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Welche Risiken mit dem Einsatz eines Berufsanfängers im geburtshilflichen Bereitschaftsdienst und in der Anästhesie verbunden sein können, zeigen die nachstehenden Beispiele sehr anschaulich:
1. | Bei der plötzlich im Rahmen einer Geburt eintretenden Komplikation (Schulterdystokie) ging die junge Ärztin (damals AiP) fehlerhaft vor, so dass das Kind einen erheblichen Schaden erlitt. Das Gericht ließ offen, ob sich stets ein erfahrener Arzt in Rufbereitschaft befinden muss, wenn ein Berufsanfänger im Kreißsaal ohne unmittelbare Beaufsichtigung tätig wird. Aber selbst wenn man insoweit „großzügig“ sei, dürfte einer in Ausbildung befindlichen Ärztin die eigenverantwortliche Leitung einer Geburt nur übertragen werden, „wenn sie darüber informiert ist, auf welche Weise im Falle von Komplikationen vorzugehen ist. An einer solchen Unterrichtung fehlte es“.[259] |
2. | In einem vom OLG Hamm entschiedenen Fall[260] ging es um dieselbe Sachkonstellation bei einer Saugglockenentbindung. Da sich bereits vor Aufnahme der Schwangeren im Krankenhaus pathologische bzw. präpathologische Veränderungen in den CTG-Aufzeichnungen ergeben hatten, war es nach Ansicht des Gerichts nicht vertretbar, die Betreuung der Geburt dieser Risikopatientin über Stunden hin einem noch unerfahrenen Arzt und einer Hebamme zu überlassen, „sofern nicht mindestens ein Facharzt im Krankenhaus anwesend war und sich von der Entwicklung des Geburtsgeschehens jederzeit und in kürzester Frist überzeugen konnte“. Die verzögerte Benachrichtigung des Oberarztes wurde als grober Behandlungsfehler gewertet und dem schwer geschädigten Kind ein Schmerzensgeld von 500.000 € zugesprochen. |
Beide Zivilrechtsfälle machen deutlich, dass es „nicht auf die formale Stellung“ des Arztes oder der Ärztin (im Praktikum bzw. in Weiterbildung), „sondern auf ihren konkreten Kenntnisstand und vor allem“ auf ihre gehörige Einarbeitung und Unterweisung in typischen Problemlagen ankommt, wozu auch Notfälle und Komplikationen gehören.[261]
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Weitere Beispiele:
1. | Der Angeklagte war als Arzt im Praktikum in der Praxis der mitangeklagten Anästhesistin unter deren Aufsicht und Leitung tätig. Nach einer komplikationslos verlaufenen Nasenoperation kam die Patientin in den Aufwachraum. Sie war ansprechbar und hatte einen normalen Puls und Blutdruck. Da die Patientin in der Folgezeit unruhig wurde und über starke Schmerzen klagte, nahm der AiP eine Einwegspritze sowie eine Glasampulle mit 50 mg Dolantin und injizierte das Schmerzmittel der Patientin. Anschließend verließ er den Aufwachraum und bat die medizinisch nicht ausgebildete Sprechstundenhilfe, alle 5 Minuten nach der Patientin zu sehen. Technische Überwachungsinstrumente waren nicht angeschlossen. Als die Sprechstundenhilfe zum ersten Mal nach der Patientin schaute, sah sie, dass diese nicht mehr atmete, und teilte dies umgehend der Anästhesistin mit. Die sofort eingeleitete Reanimation blieb jedoch aufgrund der schon verstrichenen Zeit erfolglos. Das Schöffengericht verurteilte den AiP, da er trotz fehlender Befugnis zur eigenverantwortlichen Anordnung und Durchführung von Injektionen keine Rücksprache bei seiner Vorgesetzten genommen, die Dosis zu hoch gewählt und für keine ordnungsgemäße Überwachung der Patientin gesorgt habe. Die Anästhesistin dagegen wurde freigesprochen, da das Gericht ein Organisationsverschulden verneinte, nachdem zu ihren Gunsten davon auszugehen war, dass sie von der Dolantin-Gabe durch den AiP nichts wusste.[262] Die Berufung der Staatsanwaltschaft blieb ohne Erfolg. |
2. | Die angeklagte Anästhesistin erteilte der ihr als Ausbildungsassistentin zugewiesenen Ärztin im Praktikum den Auftrag, die Narkose bei der Operation einer Gebärmuttergeschwulst zu beginnen. Beide wussten, dass der OP-Saal mit älteren, weniger zuverlässigen medizinischen Apparaten ausgestattet war, es sich um eine Risikopatientin handelte und die junge Ärztin über keine ausreichende Berufspraxis verfügte. Obwohl sie deshalb die Narkose nicht eigenverantwortlich, erst recht nicht unter den genannten ungünstigen und risikoreichen Bedingungen durchführen durfte, nahm sie den ihr erteilten Auftrag wahr. Dabei erkannte sie nicht, dass sich zwischen Kompressor und Kreislaufteil des Anästhesiegerätes eine Schlauchverbindung gelöst hatte und dadurch die Sauerstoffzufuhr unterbrochen war. Außerdem war zu diesem Zeitpunkt auch das Kabel zur Monitorüberwachung defekt. Als die angeklagte Anästhesistin in den OP-Saal kam und die Patientin zyanotisch sowie bereits mit lichtstarren Pupillen vorfand, erkannte sie den Defekt sofort, doch konnten die umgehend eingeleiteten Hilfsmaßnahmen nicht verhindern, dass die Patientin durch die etwa 5-minütige Nichtversorgung mit Sauerstoff eine schwerwiegende Hirnschädigung erlitten hatte. Die Anästhesistin wurde zu einer Geldstrafe verurteilt, da sie die Durchführung der Narkose nicht eigenverantwortlich auf die Berufsanfängerin hätte übertragen dürfen. Letztere erhielt wegen ihres Übernahmeverschuldens eine Verwarnung unter Strafvorbehalt.[263] |