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cc) Originär ärztliche Tätigkeiten (Arztvorbehalt/Delegationsausschluss)

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Ist für die Vornahme einer bestimmten Maßnahme im Rahmen der Krankenbehandlung ärztliches Wissen und ärztliche Erfahrung erforderlich, gehört diese Tätigkeit zum ausschließlichen Aufgaben- und Verantwortungsbereich des Arztes und darf nicht delegiert werden. Welche Leistungen aber im Einzelnen allein dem Arzt vorbehalten sind, lässt sich aus gesetzlichen Regelungen nicht entnehmen. Der in diesem Zusammenhang immer wieder vorgenommene Rückgriff auf § 1 Abs. 2 HeilpraktikerG aus dem Jahre 1939 führt nicht weiter, da dort die Frage der Delegierbarkeit ärztlicher Maßnahmen auf nichtärztliches Hilfspersonal überhaupt nicht angesprochen wird. In Ermangelung einer speziellen gesetzlichen Festlegung des „ureigenen“, „genuinen“ ärztlichen Aufgabenbereichs ist daher auf allgemeine Kriterien zurückzugreifen, die sich in der Bundesärzteordnung, dem Haftungs-, Dienstvertrags- und Liquidationsrecht finden. Unter Hintanstellung von Einzelheiten[312] ist dazu zusammenfassend festzustellen, dass die materiellen Grenzen der Delegierbarkeit ärztlicher Aufgaben von der medizinischen Wissenschaft und ärztlichen Praxis zu ziehen und im Zuge der dynamischen Entwicklung der Medizin, ihrer Spezialisierung und Subspezialisierung Veränderungen unterworfen sind. Die Rechtsordnung beschränkt sich auf eine Grenzkontrolle, bei der sie dem Schutz- und Sicherheitsaspekt zugunsten des Patienten absolute Priorität einräumt.

Ausnahmslos dem Arzt vorbehalten bleiben deshalb sämtliche diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen und darüber hinaus auch die zu ihrer Ausführung erforderlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, die wegen ihrer technischen Schwierigkeit oder ihres hohen Risikos (z.B. Narkose[313]) theoretisches ärztliches Wissen und praktische ärztliche Erfahrung erfordern. Unter dem Arztvorbehalt steht ferner die Aufklärung im Hinblick auf die zentrale Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten. Soweit den nichtärztlichen medizinischen Assistenzberufen Aufgaben übertragen werden dürfen, ist ärztliche Aufsicht und eine entsprechende Mitarbeiterqualifikation erforderlich.[314] Je gefährlicher oder bedeutender eine Maßnahme im Behandlungsgeschehen ist, umso „arztnäher“ muss sie vorgenommen werden. Insoweit gibt es mehrere konzentrische Kreise. Den ersten bildet der ausschließlich dem Arzt vorbehaltene Tätigkeitsbereich, den zweiten der Bereich unmittelbarer ärztlicher Aufsicht über die Durchführung der übertragenen Maßnahmen, den dritten die Arztaufsicht im Sinne einer ständigen und schnellen, keine zusätzliche Gefährdung auslösenden Erreichbarkeit des Arztes. In diesem Sinne abgestufter Gefährdung nimmt die ärztliche Überwachungsdichte der delegierten Tätigkeiten immer weiter ab, bis schließlich der Bereich erreicht ist, in dem die nichtärztlichen Mitarbeiter ihrer Ausbildung entsprechende originär eigene Aufgaben (z.B. die Grundpflege)[315] im Rahmen einer generellen ärztlichen Organisationsverantwortung mit Aufsichts- und Weisungspflichten wahrnehmen.[316]

Zwei konkrete Beispiele für den Delegationsausschluss seien hier genannt:

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Als „originär ärztliche Aufgabe“[317] gilt nach allgemeiner Ansicht die Blutübertragung und ist deshalb – im Gegensatz zur Blutentnahme – nicht auf das Pflegepersonal delegierbar. Denn bei der Bluttransfusion bestehen außergewöhnlich große Risiken. Daher muss stets vor ihrem Beginn der Identitätstest (Bed-side-Test, Kreuzprobe) vorgenommen werden, um sicherzustellen, dass das Spenderblut mit dem Empfängerblut verträglich ist[318]. Verantwortlich für die ordnungsgemäße Organisation und Durchführung der Bluttransfusion ist der Chefarzt im Rahmen seiner Gesamtverantwortung für die ärztliche Versorgung der Patienten seiner Abteilung[319].

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Ein zweites Beispiel: Da sämtliche Anästhesieverfahren einschließlich der Lokalanästhesie als risikoreiche Eingriffe in die körperliche Integrität des Patienten ausschließlich dem Arzt vorbehalten sind, darf der Medizinalassistent als „Noch-nicht-Arzt“ eine Narkose nur zu Lernzwecken unter Anleitung, Aufsicht und Verantwortung eines Facharztes vornehmen. Es wäre deshalb ein Delegationsverschulden, wenn der Leitende Arzt ihm die eigenverantwortliche und selbstständige Durchführung des Narkoseverfahrens übertrüge.

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Das Delegationsverbot ärztlicher Aufgaben auf nichtärztliche Mitarbeiter gilt im Bereich des Arztvorbehalts selbst dann, wenn es sich um fachlich gründlich ausgebildete und persönlich zuverlässige, eventuell (z.B.) langjährig auf der betreffenden Anästhesiestation tätige Pflegekräfte handelt. Diese können allerdings zu Hilfstätigkeiten herangezogen werden, zum Beispiel, um den Patienten und das Narkose- bzw. Beatmungsgerät zu überwachen. Stets und unabdingbar muss hier jedoch gewährleistet sein, dass der zuständige Anästhesist im Falle der geringsten Änderung der Situation sofort eingreifen kann.

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Insbesondere stellt sich das Problem der sog. Parallelnarkose:

Unter dem Gesichtspunkt der Aufgabendelegation erlangte nach den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zwischenzeitlich die Frage der Zulässigkeit mehrerer gleichzeitig durchzuführender Narkoseverfahren nochmals[320] akute Bedeutung. Angesichts knapper finanzieller Ressourcen oder gar defizitärer Bilanzen, teilweise aber auch aus Personalnot oder zur Gewinnoptimierung gingen Krankenhausträger dazu über, regelhaft nichtärztliches Personal mit der Narkoseführung zu beauftragen und mehrere Narkosen gleichzeitig von einem Anästhesisten überwachen zu lassen. Insbesondere ein deutscher Klinikkonzern verfolgte explizit das Konzept, „dass Pflegekräfte, die im Rahmen einer einjährigen konzerninternen, Theorie- und Praxismodule umfassenden Schulungsmaßnahme zum MAfA (d.h. „Medizinischer Assistent für Anästhesiologie“) weitergebildet wurden, in beträchtlichem Umfang eigenständig anästhesiologische Aufgaben bei Operationen wahrnehmen sollten“.[321] Allerdings wurde dieses Konzept aufgrund heftiger Kritik „weitgehend entschärft“[322] bzw. aufgegeben. Seinerzeit realisierte sich in einem Klinikum dieses Krankenhauskonzerns eine Komplikation im Zusammenhang mit operativer anästhesiologischer Behandlung, welche als „Erfurter Narkosezwischenfall“ bekannt wurde.[323] „Ein ‚absehbar risikoloser Patient‚ war der 19-jährige Abiturient Patrick H., der sich 2006 (im betroffenen Klinikum) einer Operation am rechten Ohr unterzog. Während des Eingriffs (Tympanoplastik Typ III c) kam es aufgrund von Anästhesieproblemen zum Herzstillstand. Der Patient konnte erst nach 15 Minuten reanimiert werden, lag dann drei Monate im Koma und ist nun schwerstbehindert“.[324] Nach Presseberichten erging gegen den zuständigen Anästhesie-Oberarzt ein Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung als Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens (90 Tagessätze) bei „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ gemäß § 59 StGB. Allerdings ging der dem Strafbefehl zugrunde liegende Vorwurf angeblich dahin, dass dem Patienten bei der Operation Medikamente in einer Kombination verabreicht wurden, die den Herzstillstand verursacht haben sollen.

Wegen des potenziell hohen Risikos, das jede Narkose mit sich bringt, wegen der Lebensbedrohlichkeit narkosebedingter Zwischenfälle mit möglicherweise schweren und schwersten Folgen für den Patienten sowie insbesondere auch wegen der Kurzfristigkeit, die für das ärztliche Eingreifen zwischen Erkennen und Beherrschung der Komplikation zur Verfügung steht, halten wir im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung[325] und der anästhesiologischen Wissenschaft[326] die sog. „Schwestern“- oder auch „Parallelnarkose“ für nicht zulässig. Der zur Diensteinteilung berufene Chef- oder Oberarzt, der dennoch eine solche Organisationsform einführt oder toleriert, setzt sich daher dem Vorwurf des Organisationsverschuldens, der zwei oder mehrere Operationstische überwachende Anästhesist, an denen von Berufsanfängern oder Pflegekräften geleitete Narkosen stattfinden, dem Vorwurf eines Übernahmeverschuldens aus. Durchführung und Überwachung einer Narkose sind grundsätzlich einem kompetenten Anästhesisten vorbehalten, so dass es sich bei einer „Parallelnarkose“ immer nur um eine Notlösung im Einzelfall handeln kann, für die von vorneherein überall kein Raum ist, wo die Voruntersuchung auf ein erhöhtes Narkoserisiko hindeutet („Risikopatient“).

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Aber auch in den verbleibenden Fällen ist die rechtliche Zulässigkeit von Parallelnarkosen eng begrenzt und an drei kumulativ erforderliche Voraussetzungen geknüpft[327]:

1. Dem narkoseführenden Arzt müssen ausgebildete, in der Narkoseüberwachung erfahrene Hilfskräfte zur Verfügung stehen, um die ständige Kontrolle des Patienten und die sofortige Information des Arztes bei Anzeichen von Komplikationen zu gewährleisten. Die Anästhesiepflegekraft darf nicht zugleich mit anderen Aufgaben betraut werden und im Rahmen ihrer Überwachungsfunktion keine Handlungs- und Entscheidungskompetenz besitzen.
2. Es dürfen höchstens zwei Narkosen gleichzeitig nebeneinander ausgeführt werden.
3. Die Operationstische, an denen die beiden Narkosen durchgeführt werden, müssen benachbart sein oder zumindest in Räumen mit unmittelbarer Verbindung stehen (Blick- und/oder Rufkontakt).

Soweit das Delegationsverbot reicht, greift selbstverständlich die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz nicht durch, vielmehr liegt ein Behandlungsfehler vor, „wenn einer nach ihrem Ausbildungs- und Erfahrungsstand zur Vornahme bestimmter Eingriffe in die körperliche Integrität eines Patienten nicht befugten Person solche Eingriffe dennoch übertragen und von ihr ausgeführt werden“[328].

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