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2. Moralische Verantwortung, sozial eingebettet 2.1 Einführung
ОглавлениеWelche Annahmen treffen wir über den Charakter von Personen (darunter auch unseren eigenen!), wenn wir über moralisches Handeln nachdenken? Sehen wir uns selbst als rationale, willensstarke und unabhängige Individuen, die die volle Verantwortung für das übernehmen, was sie tun, oder als fehlbare, sozial abhängige Geschöpfe, die kaum für ihr Handeln verantwortlich gemacht werden können? Diese Frage bleibt in der moralischen Theoriebildung oft unbeantwortet: Wenn wir den Fokus auf moralische Normen und deren Rechtfertigung legen, spielen Fragen zum Charakter moralischer Akteure oftmals bloß im Nachgang eine Rolle. Wenn wir uns aber dafür interessieren, wie moralische Normen realisiert werden können, wie sie in menschliche Praktiken eingebettet sind und wie sich Individuen zu diesen Praktiken verhalten, treten diese Fragen in den Vordergrund. In diesem Kapitel werde ich zeigen, dass wir die moralische Verantwortung von Individuen in Kontexten der Arbeitsteilung nicht nur als eine Frage des individuellen Charakters verstehen sollten, sondern auch im Hinblick auf die Art und Weise untersuchen müssen, wie soziale Kontexte diese Individuen in ihrem moralischen Handeln unterstützen oder aber darin versagen.1
Betrachten wir einen der bereits in der Einführung erwähnten Fälle: Monika, eine junge Ärztin, die in einem öffentlichen Krankenhaus arbeitet. Sie ist Mitte 30 und strahlt Vertrauenswürdigkeit und professionelle Verantwortung aus. Sie nimmt ihre moralischen Pflichten als Ärztin sehr ernst und hierin liegt tatsächlich auch der Grund, weshalb sie über ihre Rolle innerhalb des Krankenhauses oft unglücklich ist. Die Station, auf der sie arbeitet, ist unterbesetzt und die Ärzte müssen in langen Schichten arbeiten. Der Zeitdruck ist enorm und vergrößert sich durch die Anforderung, für verschiedene administrative Zwecke alle Aktivitäten in unterschiedlichen Formularen zu dokumentieren. Monika muss oft Patienten behandeln, die zuvor in der Obhut anderer Ärztinnen und Krankenpflegerinnen waren und muss mit Patientenakten umgehen, die von diesen Ärztinnen und Krankenpflegerinnen mit handschriftlich verfassten Notizen gefüllt wurden, von denen einige kaum zu entziffern sind. Darüber hinaus wird sie, während sie gerade an einer Sache arbeitet, oft gerufen, um bei einem Notfall an anderer Stelle auszuhelfen. »Unter diesen Umständen kannst du die wichtigsten Dinge übersehen. Selbst Dinge, die über Leben und Tod entscheiden«, sagte sie mir. Sie lebe mit der beständigen Angst, einen fatalen Fehler zu machen.
Wie dieses Beispiel zeigt, kann es für Individuen in Kontexten der Arbeitsteilung schwierig sein, den grundlegenden moralischen Normen gerecht zu werden, für die wir uns gegenseitig verantwortlich halten, insbesondere, wenn diese Kontexte die Individuen dabei nicht angemessen unterstützen. Um die moralische Komplexität solcher Situationen zu verstehen, müssen wir die Tatsache ernst nehmen, dass menschliches Verhalten in Kontexte eingebettet ist und von diesen stark beeinflusst wird. In vielen Fällen stellt erfolgreiches moralisches Handeln nicht so sehr eine individuelle Leistung dar, als vielmehr das Resultat eines erfolgreichen Zusammenspiels zwischen Einzelpersonen und ihren Kontexten. Diese Behauptung steht jedoch in Spannung zu einer langen Tradition moralischer Theoriebildung, die die Fähigkeit zum moralischen Handeln voraussetzte, ohne dabei Fragen hinsichtlich der Umweltbedingungen zu stellen, die jene individuelle Handlungsfähigkeit unterstützen oder untergraben.
Monika wäre wohl nicht überrascht, wenn sie von einer berühmten Studie hören würde, die gezeigt hat, dass Menschen unter Zeitdruck selbst die grundlegendsten moralischen Normen vergessen können. In der »Barmherziger Samariter«-Studie wurde Studentinnen des Theologischen Seminars an der Universität Princeton eine Aufgabe gestellt, die sich auf die neutestamentarische Geschichte des guten Samariters bezog, der einem am Straßenrand liegenden Opfer eines Raubüberfalls hilft. Die Studentinnen wurden für den Abschluss ihrer Aufgabe gebeten, zu einem Gebäude am anderen Ende des Campus zu gehen. Auf dem Weg trafen sie auf einen Schauspieler, der eine in Not geratene und am Boden liegende Person spielte. Der Anteil derjenigen, die anhielten und ihre Hilfe anboten, variierte stark in Abhängigkeit davon, welche der drei experimentellen Bedingungen zutraf: 62 Prozent derjenigen, denen gesagt wurde, dass sie früh dran seien, 45 Prozent derjenigen, denen gesagt wurde, dass sie gerade noch pünktlich seien, aber nur 10 Prozent derjenigen, denen gesagt wurde, dass sie spät dran seien, hielten an, um herauszufinden, ob bei der Person alles in Ordnung war.2
Einer Person, die hilflos am Boden liegt, unsere Unterstützung anzubieten, ist ein grundlegendes moralisches Gebot. Ganz ähnlich ist es für eine Ärztin ganz grundlegend geboten, dass alle wesentlichen Untersuchungen durchgeführt und die entsprechenden Ergebnisse dokumentiert werden. Aber selbst wohlmeinende Einzelpersonen können daran scheitern, solche Gebote zu befolgen: Sie können so sehr in eine Situation verwickelt oder so von anderen Anforderungen überwältigt sein, dass sie sich verhalten, als wären sie kaltherzige und gleichgültige Egoisten.3 Für Akteure wie Monika, die sich dieser Möglichkeit bewusst sind, kann das eine Quelle ständiger Belastung darstellen.
Für die Moraltheorie stellt diese Tatsache eine Herausforderung dar. Wenn Einzelpersonen, trotz guter Absichten, daran scheitern, gemäß moralischer Normen zu handeln, stellt sich die Frage, ob es überhaupt Sinn egibt, solche Normen an sie zu richten. In den vergangenen Jahren forderten Ergebnisse wie diejenigen der »Barmherziger Samariter«-Studie, die die Unvollkommenheit moralischen Handelns demonstrierten, den Mainstream der Moraltheorie heraus. In diesem Kapitel werde ich einige dieser empirischen Belege diskutieren und fragen, was aus ihnen für die Moraltheorie folgt. Um solche Fragen hinsichtlich der Realisierung moralischer Normen, im Gegensatz zu ihrer Erläuterung oder Rechtfertigung, zu beantworten, müssen wir die Herausforderungen ernst nehmen, die aus unserer kontextgebundenen Natur erwachsen. Daraus folgt, dass wir moralische Akteure als Individuenin-Kontexten betrachten müssen, deren Rationalität und Willensstärke stark davon abhängen, wie günstig diese Kontexte für eigenständiges Handeln sind.
Ein solches Vorgehen sollte nicht derart missverstanden werden, dass die Idee individueller Handlungsfähigkeit und moralischer Verantwortung aufgegeben würde. Es bedeutet auch nicht, dass menschliche Wesen in sozialen Strukturen »aufgelöst« würden oder gar die Idee aufgegeben würde, dass Einzelpersonen die Adressaten moralischer Normen sind. Statt moralische Verantwortung aufzugeben, müssen wir vielmehr die Rolle von Kontexten in unsere Idee von Verantwortung integrieren, sowohl in dem Sinne, dass ungünstige Kontexte Entschuldigungen für moralisches Fehlverhalten darstellen können, als auch in dem Sinne, dass Individuen eine Mitverantwortung dafür haben, für moralisches Handeln förderliche Umgebungen zu schaffen. Immerhin liegen viele Aspekte dieser Umgebungen in unserer Hand, nicht nur dadurch, dass wir wählen können, in welche Umgebungen wir eintreten, sondern auch in dem Sinne, dass wir sie gestalten und somit auch beeinflussen können, welche Wirkung sie auf uns haben. Diese Verantwortung kann parallel zu unserer Mitverantwortung verstanden werden, unseren Charakter derart auszubilden, dass wir unserer moralischen Verantwortung gerecht werden können.
Beginnen werde ich mit der Beschreibung einiger der empirischen Belege für die Schwächen menschlicher Rationalität und Willensstärke, die zu einer Debatte über »Situationismus« geführt haben. Obwohl sie wichtige Fragen stellte, hat diese Debatte, zumindest in der ersten Phase der Theoriebildung, nicht erkannt, dass die Abhängigkeit von Kontexten weder spezifisch für moralisches Handeln, noch etwas ist, wovor man Angst haben müsste. In der Philosophie des Geistes sind manche Denkerinnen zu der Erkenntnis gelangt, dass wir, um unsere kognitiven und volitionalen Kapazitäten voll ausschöpfen zu können, auf kontextuelle »Gerüste« (scaffolding) angewiesen sind: Wir nutzen externe Mittel, die uns helfen, unsere Ziele zu erreichen und unsere Einschränkungen zu überwinden. Eine Möglichkeit, das Argument dieses Kapitels zusammenzufassen, besteht in der These, dass wir ein solches »Gerüst« auch in Hinsicht auf unsere moralischen Fähigkeiten brauchen: Wir müssen sie dadurch unterstützen, dass wir Umgebungen erschaffen, in denen ganz normale Menschen, mit ihren typischen Fehlern und Tendenzen zu moralischem Fehlverhalten, dennoch moralisch handeln können.4 Tatsächlich ist das etwas, was wir bereits die ganze Zeit über tun – weswegen die Bedeutung von »Gerüsten« mitunter erst dann sichtbar wird, wenn sie zusammenbrechen.
Es ist wichtig, gleich zu Beginn hervorzuheben, dass diese Argumentationslinie nicht die Werte individueller Autonomie oder individueller Würde aufgibt.5 Wenn man die Aufmerksamkeit auf die Grenzen des Menschen lenkt, führt dies manchmal zu der Befürchtung, auf eine schiefe Ebene zu geraten, an deren Ende eine illiberale Position lauert: Entweder eine gefährliche Form des Paternalismus, der Eingriffe in die individuelle Freiheitssphäre zum Wohl der von diesen Eingriffen betroffenen Individuen rechtfertigt, oder verschiedene Formen des Strukturalismus oder Kulturalismus, also Arten der Konzeptualisierung des sozialen Raums, die die individuelle Handlungsfähigkeit vollständig auflösen. Wenn wir über Individuen in Kontexten sprechen, kehren wir dann nicht zu prä-modernen Vorstellungen zurück; riskieren wir damit nicht, hinter die hart erkämpften Errungenschaften des modernen Individualismus zurückzufallen?6
Mein Ziel ist es nicht, diese modernen Werte aufzugeben – ganz im Gegenteil: Es besteht darin, die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Umsetzung zu untersuchen. Ein abstraktes Bekenntnis zu diesen Werten, das den Institutionen und Praktiken, in denen diese Werte umgesetzt werden können, keine Aufmerksamkeit schenkt, läuft Gefahr, in Situationen zu enden, in denen nur diejenigen, die über die meisten Ressourcen verfügen oder am ehesten gewillt sind, hart zu kämpfen, diese Werte für sich verwirklichen können. Viele unserer grundlegenden moralischen Normen dienen gerade dazu, solche Szenarien zu vermeiden und Situationen zu schaffen, in denen jede Person in den Genuss dieser Werte kommen kann. Aus diesem Grund haben wir eine kollektive Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese moralischen Normen durchgesetzt werden – was impliziert, dass wir auch dafür verantwortlich sind, Verletzungen dieser Normen zu vermeiden, die mangelhaft ausgestalteten Kontexten entspringen. Tatsächlich prä-modern wäre die explizite oder implizite Annahme, dass solche Kontexte von selbst entstehen würden, durch natürliche Prozesse oder eine »unsichtbare Hand«, statt durch unsere fortlaufenden kollektiven Anstrengungen.
In Abschnitt 2.2. bespreche ich Ausschnitte aus der empirischen Literatur, die die Idee des moralisch verantwortlichen Selbst infrage stellt. In Reaktion darauf betone ich die Bedeutung von Kontexten, die moralisch verantwortliches Handeln befördern (Abschnitt 2.3). Daraus wiederum folgen Fragen hinsichtlich der individuellen Mitverantwortung für solche Kontexte (Abschnitt 2.4). Ich schließe mit einer Verbindung der Argumente dieses Kapitels mit dem übergreifenden Thema dieser Studie, dem moralischen Handeln innerhalb von Organisationen (Abschnitt 2.5).