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2.3. Verantwortung bewahren – innerhalb von Kontexten

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Die hier dargestellte empirische Forschung bietet eindrückliche Beschreibungen bestimmter allzu menschlicher Fehler. Nichtsdestotrotz könnte man einwenden, dass diese Einsichten selbst nicht allzu neu sind. Wir haben bereits seit langem historische und anekdotische Evidenz von menschlichen Tendenzen wie derjenigen, sich auf unmittelbare Aufgaben zu konzentrieren und darüber andere Dinge zu vergessen, oder derjenigen, im Eifer des Gefechts mitgerissen zu werden. Diese Tatsache lässt Zweifel an der Behauptung wach werden, dass wir aufgrund dieser jüngeren empirischen Erkenntnisse hinsichtlich der Bedingtheit menschlichen Verhaltens unser traditionelles moralisches Denken vollständig aufgeben müssten. Wie ich in diesem und dem folgenden Abschnitt zeigen werde, können wir der Schlussfolgerung der Situationisten widerstehen und dennoch die Probleme ernst nehmen, auf die sie hinweisen.

Wir können uns selbst und andere Menschen nicht auf konsistente Weise als bloße Spielbälle kontextueller Kräfte begreifen. Um zu sehen warum, können wir eine Debatte betrachten, in der individuelle Handlungsfähigkeit und Verantwortung in ähnlicher Weise auf dem Spiel standen: Die Debatte über den freien Willen. In einem berühmten Beitrag argumentierte Peter Strawson, dass wir, wie auch immer wir über die Vereinbarkeit von Determinismus und freiem Willen denken mögen, bestimmte Einstellungen, die wir als menschliche Wesen einander gegenüber haben, nicht »abschalten« können. Diese »reaktiven Einstellungen« beinhalten Gefühle wie Dankbarkeit, Wut oder Vergebung.29 Sie beziehen sich auf die Intentionen anderer Personen und setzen voraus, dass wir diese als verantwortliche Akteure verstehen, die fähig sind, ihr Verhalten zu kontrollieren.

Würden wir die Idee ernst nehmen, dass menschliche Wesen keinen freien Willen hätten, müssten wir die unmögliche Aufgabe bewältigen, uns von diesen reaktiven Einstellungen zu trennen. Aber, wie Strawson es formuliert: »Die menschliche Bestimmung zur Teilnahme an gewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehungen […] greift und wurzelt zu tief in uns, als dass wir den Gedanken ernst nehmen könnten, dass eine allgemeine theoretische Überzeugung unsere Welt derart ändern könnte, dass es in ihr solche Dinge wie die uns bekannten Formen zwischenmenschlicher Beziehungen nicht mehr geben würde.«30 Was wir durchaus tun können, ist, diese Einstellung zwischenzeitlich auszusetzen. Daher können wir zugestehen, dass Individuen in bestimmten Situationen tatsächlich nicht zur Verantwortung gezogen werden sollten, beispielsweise, weil sie unter dem Einfluss von Drogen gehandelt haben. Wir können auch Entschuldigungen anführen wie »Er meinte es nicht so« oder »Sie konnte nicht anders«. Aber, daran erinnert uns Strawson, »nichts davon erfordert, dass wir gegenüber dem Akteur […] unsere alltäglichen reaktiven Einstellungen aufgeben«.31

Das gleiche Argument kann auf Versuche angewendet werden, menschliches Verhalten als vollständig durch situative Kräfte bestimmt zu verstehen. Wir wären dann nicht dazu imstande, mit anderen auf die uns vertraute Weise zu interagieren – vielmehr müssten wir alles, was sie sagen, als das Ergebnis externer Kräfte verstehen. Zudem müssten wir auch unser eigenes Verhalten so betrachten, als wäre es vollständig durch die uns umgebenden Situationen bestimmt. Und als logische Schlussfolgerung müssten wir die Tatsache, dass wir uns innerhalb bestimmter Situationen befinden – etwas, von dem wir normalerweise denken, dass wir es beeinflussen können – als durch vorherige Situationen bestimmt verstehen. Das Selbst würde sich in eine Reihe von Reaktionen auf situationale Kräfte auflösen, sodass letztlich kein Subjekt mehr übrigbleibt, das für irgendetwas Verantwortung übernehmen könnte. Dieses Bild ist hochgradig unplausibel; Situationisten müssten viel mehr tun, um für diese Position zu argumentieren, als sie es in ihrem Angriff auf die Tugendethik getan haben.32

Ein zweiter Punkt, der hervorzuheben ist, liegt darin, dass die empirische Evidenz komplexer ist als von den Situationistinnen zunächst suggeriert wurde. Studien zeigen, dass kontextuelle Faktoren Personen nicht nur weniger ethisch, sondern auch stärker ethisch handeln lassen können. Wenn moralische Hinweise gegeben wurden, betrogen Studienteilnehmer weniger oft als in Kontrollsituationen.33 In einem anderen Experiment war die Wahrscheinlichkeit betrügerischen Handelns geringer, wenn die Personen gebeten wurden, »keine Betrüger zu sein« statt »nicht zu betrügen«, wahrscheinlich aus dem Bedürfnis heraus, ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten.34 Während diese Studien sich, wenn auch aus einer anderen Perspektive, weiterhin auf kontextuelle Faktoren konzentrieren, gibt es auch Hinweise darauf, dass Charaktereigenschaften das Verhalten tatsächlich zu einem gewissen Grad voraussagen können, was die Bedeutung von Kontexten reduziert.35 Eine jüngere Metastudie hat herausgefunden, dass selbst in Milgrams berühmten Experimenten die Gehorsamkeitsrate stark variierte; im Schnitt gehorchten 57 % der Teilnehmerinnen den Anweisungen des Versuchsleiters nicht.36 Während Situationen also wichtig sind, sind sie offensichtlich nicht die einzigen Faktoren, die bei der Untersuchung menschlichen Verhaltens in Betracht gezogen werden sollten.

Der Grund dafür, warum die von den Situationisten angeführte Evidenz so überwältigend erscheinen mag, liegt darin, dass sie bestimmte Aspekte der menschlichen Natur in den Blick nimmt: Aspekte, die nur dann zum Vorschein kommen, wenn man schnell auf unerwartete Reize reagieren soll. Im sogenannten »Dual-Process-Modell« beschreiben Psychologinnen diese Aspekte des Verhaltens als »System-1«- und »System-2«-Denken. Diese zwei Kategorien sollten nicht in einem essentialistischen Sinne verstanden werden; Daniel Kahneman, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, nennt sie explizit »fiktive Figuren«.37 Nichtsdestotrotz ist diese Unterscheidung hilfreich für das Verständnis zweier fundamental verschiedener Arten, auf die Menschen denken und Entscheidungen treffen. System 1 »arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung«,38 wohingegen System 2 »langsamer, bewusst, aufwendig, explizit und logischer« arbeitet– also die Art von Denken ist, die Moraltheoretikerinnen für gewöhnlich betrachten, die jedoch kaum das Verhalten von Individuen beeinflusst, wenn sie innerhalb von »System 1« agieren.39

»System 2« erlaubt es uns, in dem Sinne von »Akteuren« zu sprechen, dass Individuen für das was sie tun, verantwortlich gemacht werden können, allerdings ist es dadurch nicht per se moralisch besser als »System 1«. Wenn Individuen bewusst planen, sich moralisch falsch zu verhalten, greifen sie ebenfalls auf das »System 2« zurück – und sie könnten durch eine spontane Reaktion auf situationale Faktoren, also durch das »System 1«, von ihrem Vorhaben abgelenkt werden. Allerdings stellen diese Alternativen nicht die einzigen Möglichkeiten dar, auf die eine Verletzung moralischer Normen zustande kommen kann. Intentionales Fehlverhalten, so tragisch seine Konsequenzen auch sein mögen, ist von einem theoretischen Standpunkt aus oft nicht allzu schwer zu verstehen. Schwieriger zu begreifen, und daher im Fokus der vorliegenden Diskussion, ist moralisches Fehlverhalten, das aus Verleugnung, Nachlässigkeit, oder der Unfähigkeit, die moralischen Dimensionen einer Situation zu begreifen, resultiert. Im Hinblick auf solche moralischen Fehler ist die Fähigkeit von zentraler Bedeutung, »System 2« aktivieren zu können, da »System 1« leicht zu Verhaltensweisen führen kann, die wir in einem besonneneren Moment moralisch nicht befürworten würden.

Entscheidend ist jedoch, dass die zwei Systeme nicht vollständig unabhängig voneinander funktionieren. »System 2« ist verantwortlich für unsere Selbstbeherrschung und kann Einfluss darauf nehmen, wie »System 1« arbeitet: Es kann, zumindest zu einem gewissen Grad, »die normalerweise automatischen Funktionen von Aufmerksamkeit und Gedächtnis programmieren«.40 Hinter diesem Argument steckt nichts anderes als die alte Idee, den eigenen Charakter zu formen: Wir können die Fähigkeit entwickeln, auf moralische Ansprüche richtig zu reagieren, selbst wenn sie uns im falschen Moment erwischen: Wenn wir müde oder abgelenkt sind oder unter dem Einfluss der Autorität anderer stehen.41 Somit können wir auch unsere Fähigkeit, als moralisch verantwortliche Akteure zu agieren, verbessern: Als Akteure, die nicht nur kontrollieren, was sie tun – was ganz einfach »Verantwortung« genannt werden könnte – , sondern die auch dazu fähig sind, auf der Basis derjenigen moralischen Prinzipien zu handeln, denen sie sich verpflichtet haben.

Nehmen Sie das bereits angesprochene Beispiel: Monika, die sich Sorgen darüber macht, in den hektischen Routinen ihrer Station einen moralischen Fehler zu begehen. Wenn Sie diese Sorge ausdrückt, ist Monika im »System 2«-Modus: Sie betrachtet die moralischen Probleme aus der Distanz und analysiert die situationalen Herausforderungen, die sie davon abhalten könnten, diejenigen Dinge zu tun, die sie für richtig hält. So hatte sie beispielsweise an einem Punkt bemerkt, dass sie in stressigen Zeiten mit Patientinnen und deren Familien kurz angebunden umging, um »Dinge schnell zu erledigen«. Patientinnen und deren Familien brauchen jedoch häufig nicht nur Informationen, sondern auch emotionale Zuwendung. Als sie mit zeitlichem Abstand über die Begegnungen nachdachte, sah Monika beide Seiten: Nicht nur sich selbst als die überarbeitete, gestresste Ärztin, sondern auch die ängstlichen Patientinnen oder Familienmitglieder, die Schmerzen hatten oder durch die ungewohnte Umgebung verängstigt waren. Als Reaktion auf diese Einsicht versuchte sie, ihre Gewohnheiten zu ändern und den emotionalen Bedürfnissen ihrer Gesprächspartnerinnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Ein solcher Ansatz der Charakterentwicklung in Reaktion auf situationale Herausforderungen ist jedoch nicht umfassend genug: Da er sich auf das einzelne Individuum konzentriert, übersieht er wichtige Elemente. Die Situationisten lagen letztlich richtig, wenn sie darauf bestanden, dass menschliches Verhalten sich in sozialen Kontexten abspielt. Diese Kontexte machen es einfacher oder schwieriger, sich im »System 1« richtig zu verhalten und sie bestimmen, wie viele Gelegenheiten wir haben, um in das »System 2« zu wechseln und unseren Charakter auf eine Art und Weise zu entwickeln, die unsere Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln stärkt.

Menschliche Wesen sind eingebettete, soziale Geschöpfe und es sollte uns nicht überraschen, dass sie gelernt haben, ihre Kontexte zur Überwindung ihrer Grenzen zu nutzen.42 Wir beziehen ständig Unterstützung aus unserer Umgebung – oder aus unseren »Gerüsten«43 – um sicherzustellen, dass unsere kognitiven und volitionalen Kapazitäten auf die von uns erwünschte Art und Weise arbeiten. So nutzen wir zum Beispiel Stift und Papier, um komplizierte Berechnungen durchzuführen oder unser Gedächtnis zu stützen. Wie ein Autor es formuliert hat: »Es ist das menschliche Gehirn zusammen mit diesen externen Gerüsten, die letztlich diese intelligente, rationale Inferenzmaschine konstituieren, die wir Geist nennen«.44

Insofern wir überhaupt von einem verantwortlichen Subjekt sprechen können, müssen wir es uns als abhängig von seiner Umwelt vorstellen, aber auch so, dass es sich diese Umwelt zunutze macht.45 Es ist nicht das Cartesianische Selbst, sozusagen innerhalb des Gehirns, das es uns ermöglicht, unsere Fähigkeiten des Denkens und der Verantwortungsübernahme zu entwickeln und umzusetzen. Statt allein auf das »einfache Gehirn« des Homo sapiens zu schauen, müssen wir vielmehr darauf achten, was wir tatsächlich nutzen, wenn wir denken: Einen »verkörperten, sozial und ökologisch eingebetteten Geist«.46 Und unsere Umwelt, insbesondere die soziale Umwelt, kann uns mehr oder weniger dabei helfen, unsere Gehirne zu nutzen: So kann sie uns konstant »kognitiv beschäftigt« halten, somit unsere Aufmerksamkeit absorbieren und problematische Tendenzen des »System 1« verstärken, oder sie kann uns dabei helfen, solchen Tendenzen entgegenzuwirken, beispielsweise indem sie uns an die Dinge erinnert, die wir gerne vergessen.47 Wir nutzen solche »Gerüste« auch, um Willensschwächen zu überwinden: Wir widerstehen Versuchungen, indem wir die uns versuchenden Gegenstände in weit entfernten Räumen platzieren, oder wir verwenden Sparpläne, die automatisch einen bestimmten Prozentsatz unseres monatlichen Einkommens auf ein Sparkonto transferieren.48 Indem wir unsere Umwelt beeinflussen, beeinflussen wir die Art und Weise, wie unsere Emotionen und unsere Willensstärke interagieren.49 Solche Unterstützungsstrukturen für unsere rationalen und volitionalen Fähigkeiten bringen uns näher an den Punkt, diejenigen verantwortlichen Subjekte zu sein, die viele Moraltheorien voraussetzen. Bieten wir erfolgreich genügend Rationalität und Willensstärke auf, um als moralisch verantwortliche Individuen zu handeln, so geschieht dies oft aufgrund passend eingerichteter Kontexte. Unser »System 2« kann dann die Kontrolle übernehmen und uns dabei helfen, nicht in die Fallen von »System 1« zu tappen – und wo der »System 1«-Modus nicht vermieden werden kann, ist zu hoffen, dass er von unseren vorherigen Versuchen geprägt wurde, einen tugendhaften Charakter zu entwickeln, und in Kontexten stattfindet, die auf die Eventualitäten typischer »System 1«-Fehler vorbereitet sind.50

Das ist der Grund, warum Fragen der Verantwortung tout court, sowie Fragen der moralischen Verantwortung, nicht isoliert von den Kontexten betrachtet werden können, in denen sie auftreten. Verantwortungsversagen tritt oft dann auf, wenn die Gerüste versagen: Wir erwarten, uns wie gewöhnlich auf sie verlassen zu können und sind überrascht, wenn wir dies nicht können. In solchen Situationen zeigen Faktoren, die für gewöhnlich einander unterstützen und uns gemeinsam bei der Navigation durch unsere Umwelt helfen, eine plötzliche Diskrepanz. Im Falle des Asch-Experiments ist es die Diskrepanz zwischen dem, was wir sehen und dem, was andere Personen behaupten zu sehen; im Falle des Milgram-Experiments ist es die Diskrepanz zwischen dem, was eine Autoritätsperson – die zu wissen scheint, was sie tut und scheinbar auch Verantwortung für die Ergebnisse übernimmt – uns zu tun befiehlt, und dem, was wir glauben, moralisch tun zu dürfen.51

All dies bedeutet nicht, dass wir diese Ergebnisse auf die leichte Schulter nehmen sollten. Statt aber anzunehmen, dass sie die Nicht-Existenz unserer Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln demonstrieren, sollten wir sie so verstehen, dass sie die vielen und komplexen Arten aufzeigen, auf die menschliches Handeln von adäquaten Kontexten abhängt. Als ein verantwortliches Selbst behandelt zu werden ist tatsächlich selbst Teil unserer sozialen Praktiken und somit auch der Kontexte, in denen wir handeln. Wir machen einander sowohl hinsichtlich der Frage verantwortlich, wie wir auf situationalen Druck reagieren, als auch hinsichtlich der Frage, auf die wir unseren Charakter langfristig formen. Diese Praxis ist tief mit dem Verständnis unseres Selbst und unserem Verständnis anderer Personen verwoben und es ist schwer vorstellbar, wie wir ohne sie verantwortliche moralische Akteure werden und bleiben könnten. Es ist zutiefst unklar, wie menschliche Rationalität, menschliche Moralität und das menschliche soziale Leben im Allgemeinen ohne die Praxis, oder das Bündel an Praktiken, einander für unsere Entscheidungen und Handlungen verantwortlich zu machen, aussehen würden.52 Wir tun dies hinsichtlich einer grundlegenden Vorstellung von Verantwortung im Sinne selbstbestimmten Handelns, aber auch hinsichtlich moralischer Verantwortung oder unserer Fähigkeit, moralischen Normen gerecht zu werden.

Was für die Unterstützung unserer rationalen Fähigkeiten gilt, trifft auch auf unsere moralischen Fähigkeiten zu.53 In vielen Fällen resultiert erfolgreiches moralisches Handeln aus einem adäquat gestalteten Kontext. Wenn wir die Fähigkeit entwickeln konnten, das Richtige selbst unter Druck mehr oder weniger automatisch zu tun, ist dies wahrscheinlich deshalb der Fall, weil wir uns in der Vergangenheit auf unterstützende Gerüste verlassen haben. Für uns alle, außer vielleicht den überaus selten unter uns wandelnden »moralisch Heiligen«, hängt das Widerstehen gegenüber Versuchungen, die Zügelung unserer Emotionen auf das moralisch angemessene Maß und selbst die Fähigkeit, die moralischen Besonderheiten von Situationen zu verstehen, von unterstützenden Kontexten ab. Moralität ist etwas, dass wir gemeinsam erreichen.

Dieser Punkt wird durch die Tatsache bestätigt, dass wir in unseren Urteilen über moralisches Fehlverhalten oftmals die Rolle sowohl von vergangenen als auch gegenwärtigen Kontexten in Betracht ziehen. Das Anerkennen situationaler Zwänge ist Teil des gewöhnlichen moralischen Lebens.54 In vielen Kontexten ist es eine ausreichende Entschuldigung zu sagen, dass »sie darauf nicht vorbereitet war« oder dass »sie abgelenkt war«.55 Aber wir wissen auch, dass es Kontexte gibt, in denen es moralisch nicht erlaubt ist, unvorbereitet oder abgelenkt zu sein, beispielsweise, wenn wir ein Auto durch eine Straße steuern, in der Kinder spielen. Es ist Teil unserer Sozialisierung, zu lernen, welche Situationen derart sind, dass wir in ihnen, um moralische Normen nicht zu verletzen, nicht situationalen Zwängen zum Opfer fallen dürfen. Wenn sich herausstellt, dass eine Situation, die keine spezielle moralische Aufmerksamkeit zu erfordern scheint, diese Aufmerksamkeit nun doch erfordert, kann das zu tragischen Situationen führen, in denen wir in unserer moralischen Bewertung tatsächlich hin und hergerissen sind: Hat der Akteur seine moralische Verantwortung ernst genommen? War er vielleicht zu naiv hinsichtlich möglicher Konsequenzen oder hat er seine Fähigkeit überschätzt, sich selbst zu kontrollieren? Hätten andere Personen anders reagiert, wenn sie in einer ähnlichen Situation gefangen gewesen wären?

Das können extrem schwierige Fragen sein, aber sie sind weit davon entfernt, die Idee des verantwortlichen Selbst oder die Idee des Charakters aufzugeben. Es ist tatsächlich sehr wahrscheinlich, dass wir eine Vorstellung von Charakter voraussetzen, wenn wir über solche Fälle nachdenken: Oft schauen wir nicht nur auf den Moment, in dem die Handlung oder Unterlassung stattgefunden hat, sondern auch darauf, wie die Person die Situation angegangen ist und wie sie auf ihren Fehler im Nachhinein reagiert hat. War sie schockiert oder gleichgültig; hat sie Reue gezeigt? Hat sie darüber nachgedacht, wie solche Situationen in der Zukunft verhindert werden können? Hierbei handelt es sich um übliche Elemente moralischen Denkens und moralischer Diskurse, in denen sowohl das Subjekt, sein Charakter und dessen Entwicklung über die Zeit hinweg als auch die Kontexte, in denen es gehandelt hat, einbezogen werden.

Es ist daher eine falsche Dichotomie, individuelle Verantwortung und die Abhängigkeit von Kontexten als fundamental entgegengesetzt, statt als auf komplexe Weise miteinander verflochten, zu betrachten. Entsprechend ist es auch eine falsche Dichotomie, zu meinen, dass unsere Analyse moralischer Probleme sich entweder für die Perspektive auf ein verantwortliches Selbst oder eine Perspektive, die sich allein auf Kontexte konzentriert, zu entscheiden hätte. Wenn unser Interesse darin liegt, moralische Normen zu realisieren, spielt gerade diese Interaktion zwischen Individuen und Kontexten eine zentrale Rolle.56 Es ist diese Einsicht, die wir aus der Situationismus-Debatte übernehmen können, ohne dabei ihre stärker revisionistischen Behauptungen zu akzeptieren: Wir müssen unsere Aufmerksamkeit wieder auf die Kontexte richten, in denen verantwortliches Handeln, inklusive moralisch verantwortlichem Handeln, stattfinden kann.57

Das System zurückerobern

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