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4.3. Moralisches Fehlverhalten und die organisationale Form

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Warum sollte man Organisationen als Organisationen in den Fokus einer normativen Untersuchung stellen? Nach dem, was ich bisher über sie gesagt habe, scheint es so, als ob an Organisationen, zumindest im Prinzip, nichts falsch sein muss. Die Teilung der Arbeit muss nicht an sich moralisch problematisch sein, solange sie keine extremen, die Individuen dehumanisierenden Formen annimmt. Auch Hierarchien müssen nicht moralisch problematisch sein, solange sie nicht das Prinzip grundlegender moralischer Gleichheit unterwandern, und es gibt gute Gründe, die ihre Existenz rechtfertigen – Gründe, die sowohl in der politischen als auch der ökonomischen Sphäre existieren können. Werden sie in wohldefinierten Grenzen gehalten, können gerechtfertigte Hierarchien mit einer, wie Miller es formuliert, »Verpflichtung auf das Prinzip moralischer Gleichheit menschlicher Wesen, die auf ihrer Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen beruht«, einhergehen.48 Welchen Grund sollte es also geben, sich über den moralischen Charakter organisationaler Strukturen den Kopf zu zerbrechen, anstatt sich an ihren funktionalen Vorteilen zu erfreuen? Liegen nicht diejenigen schlicht falsch, die davor warnen, die Form der Organisation selbst bedrohe die Fähigkeit zum moralischen Handeln?49 Organisationen mögen der individuellen Handlungsfähigkeit nicht besonders zuträglich sein und die Arbeit in Organisationen mag auch nicht den höchsten Idealen eines gelingenden menschlichen Lebens oder menschlicher Beziehungen entsprechen50 – aber warum sollten wir meinen, dass sie eine Bedrohung für grundlegende moralische Werte darstellen könnten?

In Kapitel 3 habe ich bereits zwei zentrale Gründe angedeutet, weshalb Organisationen als Organisationen in sich schon moralische Risiken bergen: Die Intensität, mit der Angestellte organisationalen Hierarchien ausgesetzt sind, sowie die Tatsache, dass »Skaleneffekte« den durch Organisationen verursachten Schaden verstärken können. Aufbauend auf der vorhergehenden Diskussion der organisationalen Form können wir nun sehen, dass diese Gründe mit genau denjenigen Gründen verbunden sind, aufgrund derer Organisationen überhaupt existieren.

Die Tatsache, dass Angestellte in direkten Autoritätsbeziehungen stehen, kann mit dem Bedarf an Formen der Koordination erklärt werden, die über die Koordination durch Märkte hinausgehen. Hierarchien erlauben spezifische Investitionen, was allerdings auch bedeutet, dass Individuen nicht einfach aus Arbeitsverträgen aussteigen können. Oft können Individuen zwar bestimmte Jobs in bestimmten Organisationen verlassen, müssen dann jedoch einen anderen Job in einer ähnlichen Organisation finden, da sie ihre Fähigkeiten und ihre Expertise nur in Kontexten hochgradig geteilter und durch Hierarchien koordinierter Arbeit einsetzen können. Mit anderen Worten: Sie können der Tatsache nicht entkommen, dass sie an ihrem Arbeitsplatz die Autorität einer anderen Person akzeptieren müssen. Daraus folgt jedoch nicht, dass es keine moralisch relevanten Unterschiede zwischen verschiedenen Arten gibt, jene Autoritätsbeziehungen auszugestalten. Daher stellt sich die Frage, warum und inwiefern organisationale Strukturen eine Bedrohung für die moralische Gleichwertigkeit von Individuen darstellen können und wie diese Bedrohung minimiert werden kann.

Auf ähnliche Weise ist auch der zweite Grund dafür, sich über die moralische Dimension von Organisationen Gedanken zu machen – ihre Fähigkeit, »schädliche Skaleneffekte« zu produzieren – die Kehrseite dessen, wofür sie gut sind: Die Integration der Arbeit einer großen Zahl von Individuen. In Organisationen »handeln« Individuen auf sehr spezifische Weise: Ihre Handlungen sind nicht in dem Sinne »vollständig«, wie es Handlungen privater Individuen sind, sondern stellen vielmehr Elemente in umfassenderen Prozessen dar. Daraus ergeben sich Fragen darüber, wie viel sie über die moralisch relevanten Aspekte ihrer Arbeit wissen. Innerhalb von Organisationen wird Verantwortung geteilt und da diese im wahren Leben nicht die vollständig rationalen Maschinen sind, die Weber sich vorstellte, gibt es oft Lücken oder Unklarheiten in der Verteilung von Verantwortung, sodass sich letztendlich niemand für bestimmte Resultate verantwortlich fühlt – ein Phänomen, dass Dennis Thompson das »Problem der vielen Hände« genannt hat.51 Daraus folgt, dass moralisches Fehlverhalten stattfinden kann, ohne dass eine Person es intendiert hätte oder sich unmittelbar verantwortlich fühlen würde.

Hierin besteht eine der großen Gefahren, vor der Kritikerinnen bereits gewarnt haben: Durch die Entkopplung der Individuen von den Konsequenzen ihrer Handlungen können sie sehr viel einfacher zu Komplizen werden, als wenn sie mit den Konsequenzen ihrer Handlungen direkt konfrontiert würden.52 Unsere moralischen Gefühle und Intuitionen scheinen im kleineren Maßstab am besten zu funktionieren, also dann, wenn wir die potentiellen Opfer unseres Fehlverhaltens von Angesicht zu Angesicht treffen.53 In Organisationen hingegen können wir zu einer Art moralischen Fehlverhaltens, insbesondere der Schädigung Dritter, beitragen, das sowohl schwieriger zu analysieren und zu verhindern ist als das, was im kleineren Maßstab passieren kann, als auch von größerer Reichweite ist.

Bislang habe ich mich darauf konzentriert, welche Arten von Fehlverhalten in und durch Organisationen auftreten können – ich habe sie sozusagen aus der Perspektive eines potentiellen Opfers betrachtet. Aber es bedarf weiterer Differenzierungen auf Seiten der Übeltäter. Und zwar, weil manche Arten moralischen Fehlverhaltens nicht allein innerhalb von Organisationen vorkommen: Organisationen als Organisationen sind in einem solchen Falle zwar der Ort, nicht aber die Quelle des Fehlverhaltens. So könnte beispielsweise ein Chef mit sadistischen Tendenzen psychologischen Druck auf Angestellte ausüben (denen dann Fehler mit weitreichenden Konsequenzen unterlaufen könnten). Aber es ist nicht schwer zu verstehen, dass Sadismus moralisch falsch ist; eine solche Situation könnte auf ähnliche Weise auch in anderen Lebensbereichen stattfinden. Organisationen müssen Wege finden, solche Probleme anzugehen, und ihre Antworten könnten mitunter etwas anders lauten als die Antworten, die wir in anderen Lebensbereichen geben würden. Die Wurzel des Problems kann in diesen Fällen allerdings nicht im Wesen organisationaler Strukturen verortet werden – sie liegt im Verhalten eines unmoralischen Individuums. Sofern es in diesem Fall ein Spezifikum organisationaler Kontexte gibt, ist es der Machtunterschied zwischen dem Sadisten und seinem Opfer.54 In Teil III dieser Studie werde ich auf die Frage zurückkommen, wie Machtunterschiede in Organisationen verringert und die Rechte von Individuen gestärkt werden können, um Missbrauchsmöglichkeiten auszuschließen.

Zusätzlich zu moralischem Fehlverhalten, das seinen Ursprung in der Böswilligkeit von Individuen hat, kann es auch moralisches Fehlverhalten geben, das innerhalb oder in der Umgebung von Organisationen auftritt, dabei allerdings nicht wesentlich mit der organisationalen Form im zuvor beschriebenen Sinne verbunden ist, beispielsweise der Integration geteilter Arbeit in Hierarchien. Eine Testfrage zur Unterscheidung dieser zwei Kategorien lautet, ob die Probleme dadurch vermieden werden könnten, dass schlecht geführte Organisationen – die für gewöhnlich, allerdings nicht notwendigerweise, auch von Individuen mit fragwürdigen Motiven geführt werden – durch besser geführte Organisationen ersetzt werden, ohne dabei die organisierte Produktion der infrage stehenden Güter oder Dienstleistungen vollständig aufzugeben. So ist es beispielsweise offensichtlich moralisch problematisch, wenn ein Unternehmen systematisch Individuen entlässt, die der Unternehmenslinie widersprechende politische Überzeugungen vertreten.55 Allerdings können wir uns auch durchaus Firmen vorstellen, die die gleichen Produkte und Dienstleistungen produzieren und nicht auf diese Weise handeln. Vor allem aber können wir uns vorstellen, institutionelle Sicherheitsvorkehrungen gegen ein solches Vorgehen einzurichten, wie beispielsweise Gesetze gegen Diskriminierung, ohne dabei die organisationale Form selbst aufgeben zu müssen.

Andere moralische Herausforderungen sind hingegen mit der organisationalen Form als solcher verbunden: Sie entspringen der hierarchischen Integration geteilter Arbeit selbst. Damit diese moralischen Risiken nicht Wirklichkeit werden, müssen Organisationen und die in ihnen arbeitenden Individuen ständig auf der Hut sein. Es braucht keine moralischen Monster, damit sie passieren, bloß normale menschliche Wesen, die beispielsweise dazu tendieren, sich der Meinung einer Gruppe anzuschließen, nachlässig zu handeln, oder etablierte Verhaltensmuster unhinterfragt zu übernehmen – jene Verhaltensweisen also, die weiter oben als typisches »System 1«-Verhalten beschrieben wurden. Einzelne Individuen mit großer moralischer Scharfsichtigkeit und Willenskraft könnten zwar in der Lage sein, solche Gefahren zu erkennen und ihnen zu widerstehen. Solange aber die meisten von uns die meiste Zeit über keine moralischen Heiligen sind, müssen die Antworten auf diese Herausforderungen in die Organisationen selbst eingebettet werden: In Strukturen, die das moralische Handeln von Individuen unterstützen, statt sie zu unterwandern und dabei helfen, moralische Katastrophen zu verhindern.

Seit einigen Jahren springen beim Stichwort »Organisationsethik« diejenigen Organisationen zuerst ins Auge, die sich selbst explizit auf bestimmte ethische Werte verpflichtet haben. Es können nicht-wirtschaftliche Organisationen, wie beispielsweise NGOs, aber auch Wirtschaftsorganisationen sein, die über das Ziel der Profitmaximierung hinausgehen und »für« etwas »stehen«, beispielsweise ethisch beschaffte Rohmaterialien. Amitai Etzionis Begriff der »normativen Organisationen« stellt einen Sammelbegriff für solche Organisationen dar.56 In normativen Organisationen wird die Einhaltung der Vorschriften nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – durch Zwang oder ökonomische Anreize gesichert; vielmehr »beruht [sie] prinzipiell auf der Internalisierung von als legitim akzeptierten Direktiven«.57 Solche Organisationen können sich auf »normative Kontrolle« verlassen, da ihre Mitglieder moralische Werte teilen, die über diejenigen hinausgehen, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft in einem übergreifenden Konsens geteilt werden.

In normativen Organisationen haben Individuen zusätzliche Pflichten, die aus diesen innerhalb der Organisation geteilten Werte entspringen. Sie bekennen sich öffentlich zu ihnen; daher haben sie gegenüber Dritten die Pflicht, diese Versprechen einzuhalten (promissory duties) und diesen Werten auch gerecht zu werden. Obwohl normative Organisationen eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung bestimmter Güter und Dienstleistungen spielen – und auch dabei, unsere Vorstellung davon, welche Arten von Organisationen möglich sind, herauszufordern – sollten wir unsere Diskussion einer »Organisationsethik« nicht auf normative Organisationen begrenzen. Für die Produktion bestimmter Güter und Dienstleistungen scheint es aus moralischer Perspektive nicht verwerflich, auf die organisationale Form als solche zurückzugreifen, und das auch ohne weitere Verpflichtungen – solange garantiert werden kann, dass es zu keiner Verletzung grundlegender moralischer Normen kommt.58

Zusammengefasst liegt mein Fokus auf den moralischen Herausforderungen für normale Organisationen als Organisationen. Während es ungeheuerliche Missbräuche gibt, die durch das Fehlverhalten einzelner Individuen oder ganzer Organisationen verursacht werden, sind viele von ihnen nicht mit der organisationalen Form selbst verknüpft und daher aus einer theoretischen Perspektive recht einfach zu begreifen. Ebenso ist recht leicht ersichtlich, dass es für »normative Organisationen« falsch wäre, den speziellen moralischen Verpflichtungen nicht gerecht zu werden, die sie eingegangen sind.

Was hingegen oftmals übersehen wird, ist die Art und Weise, auf die »normale« Individuen in »normalen« Organisationen in die Verletzungen grundlegender moralischer Normen verstrickt werden können, und das oft ohne böse Absichten. Diese moralischen Herausforderungen werden deshalb vernachlässigt, weil wir uns an einen rein funktionalen Ansatz zum Verständnis von Organisationen gewöhnt haben – die Sprache, die wir nutzen, um sowohl innerhalb der Organisationen als auch über diese zu sprechen, beinhaltet kein moralisches Vokabular.59 Dieses Aufmerksamkeitsdefizit ist selbst wiederum Teil der Herausforderung: Werden moralische Probleme nicht als solche wahrgenommen, können Individuen und Organisationen nicht die erforderlichen Schritte zur Prävention moralischen Fehlverhaltens einleiten. An diesem Punkt kann die Sozialphilosophie dadurch einen Beitrag leisten, dass sie die Strukturen bestimmter moralischer Herausforderungen, die durch die organisationale Form selbst verursacht werden, analysiert und in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt.

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