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4. Organisationen: Hierarchien geteilter Arbeit 4.1. Einführung
ОглавлениеModerne Gesellschaften lassen sich ohne Organisationen kaum vorstellen. Wirtschaftsunternehmen, Polizeidienststellen, Postdienstleister und Universitäten weisen allesamt Eigenschaften auf, die sie der Kategorie von »Organisationen« zuordnen. Manche Organisationen sind enorm mächtig: Regierungen, Armeen, aber auch transnationale Firmen können das Leben von Millionen von Menschen beeinflussen. Charles Perrow beschrieb Organisationen einmal als »Werkzeuge, um die Welt nach den eigenen Wünschen zu formen.«1 Angesichts dessen, wie allgegenwärtig und mächtig Organisationen sind, könnte es überraschen, dass ihnen bis vor kurzem weder politische Philosophen2 noch Unternehmensethikerinnen3 große Aufmerksamkeit geschenkt haben. Wenn sie es taten, konzentrierten sie sich meistens auf den ontologischen Status von Organisationen, insbesondere Wirtschaftsorganisationen.4 Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Organisationen, als Werkzeuge betrachtet, sowohl gutartig als auch schädlich sein können. Darüber hinaus sind sie menschengemachte Strukturen – wie sie sich verhalten und über die Zeit hinweg entwickeln, hängt von menschlichen Entscheidungen und menschlichem Verhalten ab. Es liegt also an uns, ob sie eine Kraft des Guten oder des Bösen sind.
Was aber haben diese ansonsten so unterschiedlichen Entitäten gemeinsam, das es rechtfertigt, sie als »Organisationen« zu klassifizieren? Um die moralischen Herausforderungen von Organisationen und dem, was es braucht, um sie moralisch »in der Spur« zu halten, zu verstehen, muss noch mehr über ihre spezifischen Eigenschaften gesagt werden. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht darin, das zu beschreiben, was die »organisationale Form« genannt werden könnte, und die mit dieser Form verbundenen moralischen Herausforderungen von anderen moralischen Problemen abzugrenzen, die ebenfalls innerhalb von Organisationen auftreten können. In anderen Worten: Ich möchte moralisches Fehlverhalten, dessen Ort zwar Organisationen sind, das allerdings auch an anderer Stelle auftreten könnte, abgrenzen von moralischem Fehlverhalten, dessen Quelle Organisationen als Organisationen sind.5 Letzteres wurde in der normativen Literatur kaum systematisch behandelt.
Mit Seumas Millers Worten ausgedrückt, benötigen heutzutage viele Organisationen dringend eine »ethische Erneuerung, wenn nicht gar eine ethische Neugestaltung und einen ethischen Neuaufbau«.6 Wie ich in der Einführung gezeigt habe, hat das viel mit der Tatsache zu tun, dass Organisationen lange Zeit anhand amoralischer Begriffe konzipiert wurden, und dass das Organisationsleben von dieser rein funktionalen Perspektive durchdrungen wurde. Die Organisationstheorie, selbst ein weites und facettenreiches Feld, ist nicht explizit normativ, und wo sie es doch implizit ist, sind die jeweiligen normativen Konzepte für gewöhnlich mit Ideen von Effizienz oder Funktionalität verknüpft, die selbst wiederum nicht mit anderen moralischen Normen oder Werten verbunden sind.7
In diesem Kapitel beziehe ich mich auf Erkenntnisse der »Theorie der Firma« sowie der Organisationstheorie, um Eigenschaften von Organisationen zu besprechen, die für meinen normativen Ansatz relevant sind: Ich charakterisiere Organisationen als Hierarchien geteilter Arbeit (Abschnitt 4.2), eine organisationale Form, die in verschiedenen Institutionen des öffentlichen und privaten Raums gefunden werden kann. Daran anschließend unterscheide ich verschiedene Arten, auf die moralisches Fehlverhalten innerhalb von Organisationen stattfinden kann: Fehlverhalten, das durch unmoralische Individuen verursacht wird, Fehlverhalten, das zwar in Organisationen stattfindet, allerdings bloß kontingenterweise, und Fehlverhalten – oder potentielles Fehlverhalten – das intrinsisch mit der organisationalen Form selbst verbunden ist (Abschnitt 4.3). Ich diskutiere, warum die vier Themen, die in Teil II dieser Studie analysiert werden – Regeln, Wissen, Kultur und Rollen – in letztere Kategorie fallen (Abschnitt 4.4) und schließe mit einer Betonung des positiven Potentials von Organisationen, insofern die beschriebenen moralischen Gefahren abgewendet werden (Abschnitt 4.5).