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1.2 Organisationen theoretisch erfassen:
Sozialphilosophie auf der Meso-Ebene

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Die Untersuchung der moralischen Dimensionen des Organisationslebens führt zu Themen, die auf der Meso-Ebene zwischen individueller Moral und den grundlegenden sozio-politischen Institutionen einer Gesellschaft liegen. Sie zielt auf ein besseres Verständnis des Zusammenspiels von Individuen und Organisationen und fragt danach, wie die Verletzung grundlegender moralischer Normen verhindert werden kann, ohne dabei Individuen oder Organisationen zu überfordern. In diesem Sinne ist sie Teil dessen, was ich »Sozialphilosophie« nennen werde: Ein Ansatz, der Individuen-im-sozialen-Kontext betrachtet, ohne dabei die Existenz individueller Verantwortung oder die Bedeutung institutioneller Kontexte zu leugnen. Ein solcher Ansatz stellt in meinen Augen eine notwendige Ergänzung der traditionellen Felder der Moralphilosophie sowie der politischen Philosophie dar.

Aus Sicht der Moralphilosophie verwandelt sich die Frage zum Verhältnis von Sozial- und Moralphilosophie in die Frage, warum man sich auf Individuen-im-sozialen-Kontext konzentrieren sollte, und nicht in Gänze auf das Individuum und seine moralischen Entscheidungen. Kurz gesagt lautet die Antwort wie folgt: Für gewöhnlich betrachten wir uns als rationale, autonome Individuen, die durch gute Gründe motiviert werden und verantwortliche Entscheidungen treffen. Diese Vorstellung bildet die Basis für den Großteil unserer moralischen Überlegungen. Allerdings zeigen zahlreiche Formen empirischer Evidenz, von der Geschichtswissenschaft über die Soziologie bis hin zur Psychologie, die Bedeutung sozialer Kontexte für moralisches Handeln und menschliches Handeln generell. Sie formen nicht nur über die Zeit hinweg unsere Identität, sondern beeinflussen auch konkrete Entscheidungen im Hier und Jetzt. Wie es ein Psychologe ausdrückte: »Moralisches Handeln ist eine Funktion sowohl des Geistes als auch der Umwelt.«23 Oder in einer anderen Metapher gefasst: »Das rationale Handeln des Menschen […] wird von einer Schere geformt, deren zwei Klingen die Struktur des Handlungskontextes und die Verarbeitungsfähigkeiten der handelnden Person sind.«24

Die Evidenz der Bedeutung des sozialen Kontextes hat manche Autoren veranlasst den »Tod des Subjekts«25 zu verkünden oder zumindest einen »Mangel an Charakter«.26 Solche Reaktionen laufen jedoch Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wir können die Bedeutung des sozialen Kontextes anerkennen und dennoch darauf bestehen, dass Individuen verantwortliche Entscheidungsträger und daher auch die Adressaten moralischer Normen sind. Auf Gründe zu reagieren und andere für ihre Entscheidungen und Handlungen verantwortlich zu machen, sind selbst menschliche Praktiken und daher Teil des Kontextes, in dem wir handeln.

Womöglich könnten menschliche Wesen gar keine moralisch verantwortlichen Personen werden, hätten sie nicht die Möglichkeit, an solchen Praktiken teilzuhaben. Manche sozialen Kontexte sind verantwortlicher Entscheidungsfindung dienlicher als andere und somit auch geeigneter, Individuen moralisch verantwortlich zu machen. Allerdings fallen solche sozialen Kontexte nicht vom Himmel. Sie entwickeln sich im Laufe der Geschichte und werden durch menschliche Praktiken erhalten – oder vernachlässigt, unterwandert, oder zerstört. Statt also »das Subjekt« abzuschaffen, sollte aus unserer Abhängigkeit von sozialen Kontexten eine geteilte Verantwortung für das Erschaffen und Erhalten von Kontexten folgen, die autonomem und verantwortlichem Entscheiden und Handeln zuträglich sind.

Diese Kontexte, in denen Individuen entweder auf moralisch verantwortliche Weise handeln oder solches Handeln unterlassen, sind wiederum in die umfassenderen institutionellen Strukturen einer Gesellschaft eingebettet, die traditionell das Feld der politischen Philosophie sind. Allerdings hat die politische Philosophie bloß selten nach den Anforderungen an diese Strukturen gefragt, die sich aus der Tatsache ergeben, dass in ihnen Organisationen – zusammen mit den Institutionen anderer sozialer Sphären – eine bedeutende Rolle in der Gestaltung derjenigen Strukturen auf der Meso-Ebene spielen, in denen individuelles Entscheiden und Handeln stattfinden.27 Aus diesem Grund muss die politische Philosophie mit ihrem Fokus auf die Makroebene der gesellschaftlichen Institutionen um einen Ansatz ergänzt werden, der sich auf die Meso-Ebene konzentriert. Und in diesem Sinne bildet die Sozialphilosophie als derjenige Ansatz, der sich explizit auf die Meso-Ebene bezieht, die Verbindung zwischen Moral- und politischer Theorie.

Wie bereits deutlich geworden sein sollte, fasse ich unter dem Begriff »Organisation« nicht nur Unternehmen, sondern auch öffentliche Bürokratien. Politische Philosophinnen haben die soziale Welt oft in den »privaten« und den »öffentlichen« Raum aufgeteilt, wobei Unternehmen ersterem und öffentliche Bürokratien letzterem zugeordnet wurden. Obwohl diese Unterscheidung von verschiedenen Seiten kritisiert wurde, ist sie tief im politischen Denken von sowohl Theoretikern als auch Laien verankert. Die Organisationstheorie hingegen hat eine lange Tradition darin, öffentliche und private Organisationen gemeinsam zu behandeln.28 Während sie nicht verneint, dass es Unterschiede zwischen verschiedenen Organisationen gibt, konzentriert sie sich darauf, was sie gemeinsam haben. Das trifft auch auf mein Vorhaben zu, allerdings möchte ich statt eines deskriptiven Ansatzes von Organisationen – der insofern implizit normativ sein könnte, als er an die Funktionalität von Organisationen gebunden ist29 – einen explizit normativen Ansatz formulieren: Ich konzentriere mich auf die moralische Dimension, die Organisationen gemeinsam haben.30

In der Diskussion der moralischen Dimension von Organisationen müssen zwei Fallstricke vermieden werden. Der erste besteht darin, Organisationen als Räume zu verstehen, die jenseits des Geltungsbereichs der Moral liegen und daraus zu schließen, dass moralisches Handeln in ihnen keinerlei Rolle spielen würde. Manche Ansätze, die sich auf den »systemischen« Charakter von Organisationen fokussieren – und auf die ich unten kurz eingehe – leugnen implizit oder explizit, dass Organisationen Räume sind, in denen Individuen auf eine mehr oder weniger moralische Weise handeln könnten. Sollte das der Fall sein, wäre es sinnlos, Organisationen zum Gegenstand normativer Theoriebildung zu machen. Aber Organisationen sind, obwohl sie unter spezifischem Druck stehen und manchmal einer »Eigenlogik« zu folgen scheinen, von Menschen erschaffene Strukturen und es gibt keinerlei Grund, anzunehmen, dass sie prinzipiell von moralischen Erwägungen ausgeschlossen werden könnten oder sollten. Vielmehr müssen ihre spezifischen Eigenschaften sorgfältig analysiert werden, um verstehen zu können, ob und warum wir moralische Fragen auf andere Art und Weise beantworten sollten, wenn sie innerhalb von Organisationen anstatt in anderen sozialen Kontexten auftreten.

Der zweite Fallstrick ist spiegelbildlich zum ersten: Er besteht darin, die spezifischen Eigenschaften von Organisationen nicht ernst zu nehmen und sie so zu behandeln, als würde sich ihr moralisches Leben nicht von demjenigen in anderen sozialen Bereichen unterscheiden. Das Innenleben von Organisationen unterscheidet sich sowohl von der Intimität, die Gruppen eigen ist, deren Mitglieder unmittelbaren Kontakt untereinander haben, als auch von der Anonymität des freien Marktes oder anderer Großinstitutionen. Dieses Innenleben bringt Herausforderungen mit sich, die in anderen sozialen Bereichen schlichtweg nicht oder zumindest nicht in der gleichen Form vorliegen. Um einige Themen vorwegzunehmen, die im Verlauf dieses Buches diskutiert werden: Organisationen stützen sich stark auf formale Regeln, was Fragen danach aufwirft, wie ernst diese Regeln zu nehmen sind und wie sie sich zu moralischen Regeln verhalten. In Organisationen gibt es Arbeitsteilung und entsprechend auch eine Teilung von Wissen, woraus neue Herausforderungen erwachsen, vor die unser moralisches Handeln in anderen Kontexten nicht gestellt wird. Organisationen haben jeweils eigene Kulturen, die durch individuelles Handeln beeinflusst werden und die es leichter oder auch schwieriger machen können, moralisch korrekt zu handeln. Schließlich handeln Individuen innerhalb von Organisationen nicht als Privatpersonen oder politische Bürgerinnen, sondern haben bestimmte Rollen inne, was Fragen über die Beziehungen zwischen ihrer privaten Moral und der Moral, oder dem Mangel an Moral, ihrer Rolle aufwirft.31 In all diesen Bereichen gibt es komplexe Zusammenhänge zwischen dem, was Individuen, und dem, was Organisationen tun – und was sie jeweils tun sollten.

Die Sozialphilosophie, die diese Fragen auf der Meso-Ebene zwischen individueller Moral und umfassenderen institutionellen Strukturen untersucht, bedarf hierzu eines Zugangs zu den infrage stehenden sozialen Praktiken. Werden allgemeine Fragen zum Wesen der Moral untersucht, stellt sich keine damit vergleichbare Herausforderung: Als menschliche Wesen sind wir bereits Teil der moralischen Gemeinschaft und nehmen an zahlreichen moralischen Praktiken teil.32 Wenn allerdings ein Forschungsinteresse hinsichtlich spezifischerer Praktiken besteht, steht nicht in jedem Fall die Perspektive eines Teilnehmenden zur Verfügung. Daher müssen Wege gefunden werden, um einen Zugang zu diesen sozialen Bereichen zu gewinnen.

Es gibt selbstverständlich eine Vielzahl an Theorien über Organisationen aus soziologischer, wirtschaftswissenschaftlicher oder psychologischer Perspektive. Die »Organisationstheorie« ist selbst ein großes Forschungsfeld.33 Aber diese Literatur wendet sich nur selten moralischen Fragen zu. Zudem bietet sie nur selten die Art von Innenperspektive, die dabei helfen würde, die Bedeutung sozialer Praktiken von innen heraus zu verstehen. Nur sehr wenige Ansätze liefern »dichte« Beschreibungen dessen, was es bedeutet, in einer Organisation zu arbeiten und moralischen Herausforderungen aus einer organisationalen Rolle heraus zu begegnen. Es gibt einige wenige literarische Werke mit solchen Beschreibungen,34 aber im Großen und Ganzen scheint das Organisationsleben für Romanautorinnen kein allzu faszinierendes Thema zu sein, vielleicht, weil sie die herkömmliche Meinung akzeptiert haben, dass Organisationen technische, maschinengleiche Phänomene seien, in denen tiefe moralische Fragen und die menschlichen Leidenschaften, die sie entfachen könnten, keinen Platz hätten.

Als ich mich für die moralischen Dimensionen des Organisationslebens zu interessieren begann, hatte ich daher das Gefühl, mehr tun zu müssen, um ein Gespür dafür zu bekommen, was es für moralische Akteure bedeutet, in Organisationen zu arbeiten. Ich entschied mich dazu, mit denjenigen zu sprechen, die mir etwas darüber sagen könnten: Praktikerinnen mit unmittelbaren Erfahrungen aus dem Organisationsleben. Dabei habe ich eine Schneeballmethode verwendet um Menschen in einer Vielzahl von öffentlichen und privaten Organisationen zu kontaktieren, von Berufsanfängerinnen bis hin zu Vorstandsmitgliedern, Spezialistinnen und Managerinnen. Die 32 von mir geführten Interviews waren semi-strukturiert und um Themen wie moralische Konflikte oder die Beziehung zur eigenen organisationalen Rolle gruppiert. Allerdings stellte ich fest, dass die interessantesten Geschichten und Einsichten oft dann zum Vorschein kamen, wenn die Unterhaltung sich von meinem Leitfaden entfernte, weshalb ich versuchte, meinen Gesprächspartnerinnen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen Fragen und Reflexionen darüber, was sie als die wichtigsten moralischen Dimensionen des Organisationslebens ansahen, zur Sprache zu bringen. Diese Interviews waren eine unschätzbar wertvolle Quelle für Einsichten und halfen mir zu verstehen, was es bedeutet, als das berüchtigte »Rädchen im Getriebe« zu arbeiten – und dennoch seine moralische Verantwortung nicht aufzugeben. In manchen Kapiteln dieses Buches nutze ich Geschichten aus diesen Interviews als Ausgangspunkt für die Diskussion der moralischen Herausforderungen des Organisationslebens.35

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