Читать книгу Das System zurückerobern - Lisa Herzog - Страница 6
1. Einführung: Subjekte und Systeme 1.1. Individuen in Organisationen:
Der blinde Fleck normativer Theorien
ОглавлениеModerne Gesellschaften sind organisierte Gesellschaften. Große Organisationen, sowohl öffentliche als auch private, prägen die Welt der bezahlten Arbeit und, wie ein Kommentator schrieb, »beeinträchtigen vermehrt unsere Lebensweisen.«1 Durch die Arbeit in solchen Organisationen scheinen Menschen ihr Wesen als moralisch verantwortliche Geschöpfe zu verlieren: Sie scheinen zu »Zahnrädern«2 im Getriebe dieser Maschinen zu werden. Und während sie am laufenden Band verschiedene Formen von »Output« produzieren, verursachen diese Maschinen großen Schaden: Ausbeutung, Diskriminierung, Umweltschäden und unablässig ansteigende CO₂-Emissionen sind Teil der verschiedenen Übel, die durch Organisationen und die in ihnen arbeitenden Individuen verursacht werden, wobei sie zugleich darin versagen, für die Moral ihrer Handlungen Verantwortung zu übernehmen.
Diese Studie untersucht die spezifisch moralischen Herausforderungen, mit denen Organisationen konfrontiert werden, und legt ihren Fokus dabei nicht nur auf solche moralischen Herausforderungen, deren Ort, sondern auch solche, deren Quelle3 Organisationen sind. Dabei lässt sich das moralische Leben von Organisationen weder auf individuelle Moral noch auf institutionelle Strukturen reduzieren. Vielmehr bestimmt für gewöhnlich das Zusammenspiel individueller moralischer Akteure und organisationaler Strukturen die Ergebnisse.4 Wie diese zwei Seiten ineinander greifen ist daher von größter Bedeutung für den moralischen Charakter von Organisationen.
Den Prototyp einer Organisation stellt die klassische Bürokratie dar, die bekanntlich von Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben worden ist.5 Ihre zentralen Eigenschaften sind die Arbeitsteilung mit entsprechend geteilter Verantwortlichkeit, ein System von Regeln sowie hierarchische Beziehungen, die anhand von Weisungsketten die Arbeitsteilung koordinieren. Heutzutage ist die Sprache, in der Organisationen beschrieben werden, eine andere, und auch ihre Formen stellen sich unterschiedlicher dar. Aber im Grunde ist uns Webers Modell immer noch nahe, sowohl im öffentlichen Sektor als auch in der Privatwirtschaft, wo es typischerweise die Form großer Unternehmen annimmt. Individuen interagieren mit Organisationen als Kundinnen, Auftraggeberinnen und Bürgerinnen, am bedeutendsten jedoch ist ihre Beziehung zu ihnen als Angestellte. In vielen Gesellschaften findet der Großteil der Lohnarbeit nach wie vor in solchen Organisationen statt. In ihnen treffen Individuen auf spezifische moralische Herausforderungen, die sich von denjenigen unterschieden, die sich ihnen in anderen Lebensbereichen stellen.
Nehmen Sie den Fall von Henry, einem Ingenieur mittleren Alters, der in einer großen Firma arbeitete, die technische Apparaturen herstellte, und den ich zu den moralischen Herausforderungen seiner Arbeit befragte.6 Viele der moralischen Fragen, über die er nachdachte, betrafen die Verteilung von Wissen und die Verantwortung für dieses Wissen. Die von ihm geleiteten Projekte waren hoch spezialisiert und Henry geriet regelmäßig in Situationen, in denen Spezialwissen auf moralisch problematische Weise gehandhabt wurde. So standen beispielsweise Machtstrukturen und Zeitdruck einer sorgfältigen, verantwortlichen Analyse technischer Details und der mit ihnen potentiell verbundenen Risiken im Weg. Henry, der all seine Expertise einsetzte, um die Projekte auf eine verantwortliche Weise durchzuführen, wurde manchmal schroff angefahren, wenn er nicht diejenigen Nachrichten brachte, die man weiter oben in der Hierarchie hören wollte. In einem Fall trug ihm sein Chef auf, die Machbarkeit eines neuen Produktionsprozesses zu untersuchen. Henry arbeitete hart, um die Ergebnisse fristgerecht präsentieren zu können, aber es ergaben sich nicht die Schlussfolgerungen, die sein Chef hören wollte – daraufhin glaubte er Henry schlichtweg nicht. Henry war zutiefst besorgt: Er wurde als Träger von Wissen, und letztendlich als vernunftbegabter Akteur, nicht ernst genommen und der unachtsame Einsatz von Wissen konnte leicht zu gefährlichen Fehlern führen. Könnten Organisationen auf eine Weise geführt werden, die ein solches Fehlen von Respekt für die Träger von Wissen vermeidet und mit diesem Wissen auf eine moralisch verantwortliche Art und Weise umgeht?
Manchmal können durch eine schlechte Organisationsstruktur sogar bedeutendere moralische Güter, wie beispielsweise das Leben oder die Gesundheit von Individuen, auf dem Spiel stehen. Monika, eine junge Ärztin, berichtete mir über ihre Erfahrungen an ihrem ersten Arbeitstag. Das Treiben auf der Station war hektisch und als sie ankam, noch in ihrer Straßenkleidung, wurde sie sofort dazu aufgefordert, sich um einen Patienten zu kümmern. Sie wurde in ihren neuen Job geworfen, ohne dass ihr das Team oder die Strukturen der Organisation vorgestellt wurden. Sie hatte keine Chance, sich mit den Abläufen und Verantwortlichkeiten in den verschiedenen Abteilungen vertraut zu machen. Zwei Tage später musste sie sowohl die Nachtschicht übernehmen als auch in der Notaufnahme aushelfen. Als in den frühen Morgenstunden ihre Schicht schließlich vorbei war, erschien eine Patientin in akuter Notlage und mit unklaren Symptomen – und es war niemand da, um sich ihrer anzunehmen. Monika wusste nicht, auf welchem Weg sie die Patientin für eine Diagnose in die Abteilung für innere Medizin bringen konnte. Letztendlich rief sie den Nachtportier an und zusammen hetzten sie mit der Patientin auf der Liege durch die langen Korridore des Krankenhauses. Wie könnten Organisationen auf eine Weise geführt werden, die sowohl eine Überlastung von Individuen verhindert als auch dafür sorgt, dass die Erfüllung grundlegender moralischer Normen, wie die angemessene Pflege von Patientinnen, nicht von der Bereitschaft einzelner Individuen wie Monika abhängt, mehr zu leisten, als fairerweise von ihnen erwartet werden kann?
Wenn Dinge in Organisationen schiefgehen, können die Schäden enorm sein. Technische Katastrophen oder Verwerfungen wie die große Finanzkrise von 2008 können eine hohe Zahl unschuldiger Personen schädigen. Oftmals entstehen solche Schäden ohne böswillige Absichten auf Seiten der Beteiligten, aufgrund von Faktoren wie Fahrlässigkeit, blindem Autoritätsgehorsam oder falschen Anreizen.7 Das Innenleben von Organisationen ist komplex und ihre Mitglieder müssen häufig Entscheidungen treffen, ohne alle mit ihnen verbundenen Folgen abschätzen zu können. In den vernetzten Prozessen des Organisationslebens kann ein falscher Schritt oder die Verbindung einiger scheinbar harmloser Fehler, besonders im Kontext komplexer technischer Systeme, zu einem »Systemunfall« führen.8 In einer globalisierten Welt sind die Opfer solcher »Systemunfälle« mitunter nicht nur die lokale Bevölkerung, sondern auch weit entfernt lebende Personen, die nichts getan haben, was einen solchen Schaden rechtfertigen würde, aber oft das schwächste Glied in den globalen Wirtschaftsketten sind.
Die moralischen Herausforderungen des Organisationslebens bleiben der Öffentlichkeit oft verborgen: Sie geschehen hinter den anonymen Fassaden der Organisationen. Manchmal ist es den Angestellten nicht einmal erlaubt, auftretende Probleme mit ihren Familien oder Freunden zu besprechen. Sie werden erst dann zu einer öffentlichen Angelegenheit, wenn eine Katastrophe eingetreten ist und die juristische Maschinerie in Gang kommt – oder wenn ein Whistleblower an die Öffentlichkeit geht beziehungsweise Informationen über mögliche Missstände an die Medien weiterreicht. In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche prominente Fälle von Whistleblowing und Informationsweitergabe.9 An ihnen entzündeten sich heftige Kontroversen: Manche sehen in solchen Personen gefährliche Einzelgänger, während andere sie als die moralischen Helden unserer Zeit betrachten. Was aber, wenn die durch Whistleblower und Geheimnisverräter aufgedeckten Fälle hinsichtlich moralischer Fragen des Organisationslebens bloß die Spitze des Eisbergs darstellen? Während wir, insbesondere nach der großen Finanzkrise, eine Menge über Marktversagen gehört haben und Regierungen regelmäßig des Regierungsversagens beschuldigt werden, ist Organisationsversagen, und vor allem moralisches Organisationsversagen, bloß selten ein Thema. Die vorliegende Studie versucht, diese Lücke zu schließen und die Diskussion darüber anzustoßen.
Große Organisationen, insbesondere große Unternehmen, gehören zu den mächtigsten Akteuren der gegenwärtigen globalisierten Welt.10 Die regulatorische Macht von Nationalstaaten, die das Verhalten von Organisationen von außen bremsen könnte, befindet sich seit längerer Zeit im Niedergang. Individuen fühlen sich oft machtlos angesichts großer Organisationen, obwohl ein weithin geteiltes Gefühl dafür besteht, dass moralischer Wandel nötig ist und auch Organisationen sich ändern müssen. Die Art, wie wir uns mit Organisationen eingerichtet haben scheint den Geistern in Goethes »Zauberlehrling« zu ähneln: Wir haben sie gerufen und jetzt werden wir sie nicht mehr los.11 Die Analyse der moralischen Herausforderungen des Organisationslebens ist ein erster Schritt, die Strategien zu verstehen, die uns für die Rückeroberung dieser Geister zur Verfügung stehen.12 Wir müssen grundlegende Fragen stellen, wenn wir »das System zurückerobern« und es mit unseren wohlüberlegten moralischen Überzeugungen in Einklang bringen wollen – zu Arbeitsteilung, Hierarchien, der Verantwortung für Wissen, den Beziehungen zur eigenen Rolle innerhalb der Organisation und zu vielen anderen Problemen.
Es könnte der Eindruck entstehen, dass das goldene Zeitalter der Organisationen schon längst vorüber sei und sie in den 60er oder 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ein wertvolleres Studienobjekt dargestellt hätten. Damals schrieb John K. Galbraith über den »Neuen Industriestaat«, indem er die Mechanismen großer Firmen mit dem ungezügelten Spiel von Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt kontrastierte.13 Seitdem sind die monolithischen Strukturen großer Firmen flexibleren und mitunter kurzlebigeren Strukturen gewichen, zugleich sind die Märkte sehr viel mächtiger und dynamischer geworden. Allerdings ändert all dies nichts an der Tatsache, dass Organisationen eine ungemein einflussreiche Rolle in unseren Gesellschaften spielen. Wie James K. Galbraith, der Sohn von John K., im Jahr 2007 in Erinnerung an den vierzigsten Geburtstag des Buchs seines Vaters schrieb:
Es ist unmöglich, die Welt der Heuschrecken, der informationstechnologischen Blase, des Kontrollbetrugs, der bizarren Symbiose, die derzeit zwischen dem post-kapitalistischen Amerika und dem post-kommunistischen China besteht, und vor allem des Big Government-, Big Corporation-, Beltway-Boom-Republikanismus von George Bush, durch die Linse freier und kompetitiver Märkte zu begreifen. Die Ideen aus The New Industrial State – eine Ökonomie der Organisationen, Informationen, Kontrolle und Macht – sind andererseits genau das, was wir brauchen.14
Vierzehn Jahre später fokussieren sich unsere Ängste gegenüber Organisationen zumeist auf die Giganten des Internet-Zeitalters wie Google, Facebook oder Amazon. Mit Sicherheit haben diese Organisationen ganz eigene Merkmale und bieten Anlass für zahlreiche komplexe, normative Fragen. Aber sie sind auch genau das: große Organisationen. In den letzten Jahrzehnten hat die Gewohnheit, unsere ökonomischen Systeme als »Marktwirtschaften« zu denken, viele derjenigen Fragen in den Schatten gestellt, die durch die Strukturen von Organisationen aufgeworfen werden.15 Es wird sich zeigen, ob die Veränderungen, die unter den Begriffen »Plattformkapitalismus« oder »Gig-Economy« firmieren, Organisationsstrukturen wirklich obsolet machen werden. Es könnte sich bei all dem durchaus auch um alten Wein in neuen Schläuchen handeln – oftmals zu schlechteren Bedingungen für die Einzelnen, aber weiterhin mit all den moralisch beunruhigenden Eigenschaften von Organisationen. Aus Gründen, die ich später in diesem Buch, besonders in Kapitel 4, besprechen werde, bin ich skeptisch, ob Organisationsstrukturen in nächster Zeit verschwinden werden. Wahrscheinlicher ist, dass sie auch weiterhin ein essentieller Teil sowohl der Privatwirtschaft als auch der öffentlichen Verwaltung sein werden – und dass daher ihre moralische Qualität auch weiterhin Anlass zur Sorge bieten wird.
Das Fehlen einer öffentlichen Diskussion über die moralische Dimension von Organisationen deckt sich mit ihrer Vernachlässigung im akademischen Raum. Wahrscheinlich liegt das auch an der Tatsache, dass Organisationen auf der Meso-Ebene des sozialen Lebens liegen, zwischen den Mikro-Fragen individueller Moral und den Makro-Fragen gerechter sozialer Strukturen. Emmet, deren Werk eine der wenigen Ausnahmen von dieser allgemeinen Vernachlässigung darstellt, stellte im Jahre 1966 fest: »[W]ährend viele unserer drängendsten moralischen Probleme aus der Tatsache erwachsen, dass wir zunehmend in großen Organisationen leben müssen, wird ein Großteil der Moralphilosophie immer noch auf eine Weise betrieben, die davon ausgeht, dass Moralität eine Angelegenheit unmittelbarer persönlicher Beziehungen ist.«16 Das scheint auch heute noch zu gelten: Während viele Diskussionen innerhalb der Moralphilosophie auf die ein oder andere Weise für das Organisationsleben relevant sind, findet sich kaum eine systematische Analyse seiner spezifischen moralischen Herausforderungen.
Ähnlich verhält es sich in der politischen Philosophie: Kaum ein Theoretiker diskutiert explizit große Organisationen, wie beispielsweise Firmen oder öffentliche Bürokratien. Wie Néron bemerkte: »Kein zeitgenössischer Theoretiker der Gerechtigkeit scheint sich eine gerechte Gesellschaft vorzustellen, in der Organisationen keine Rolle spielen, also scheint daraus zu folgen, dass Gerechtigkeitstheorien dazu imstande sein müssten, etwas über die Arten von Organisationsbeziehungen und Führungsstrukturen zu sagen, die akzeptabel oder inakzeptabel sind.«17 Ein Grund dafür, warum dies nicht der Fall ist, mag in der Trennung sowie dem Mangel an Kommunikation zwischen der politischen Philosophie und der Unternehmensethik liegen.18 Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, dass der Fokus auf Gerechtigkeitsprinzipien anstatt auf den Institutionen liegt, die diese Prinzipien in die Praxis umsetzen würden, ein Ansatz, der die analytische politische Philosophie im Nachgang zu Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit dominiert hat.19
Aber Organisationen sind zu mächtig und für unsere Gesellschaften zu bedeutsam, als dass man sie in der normativen Theorie derart vernachlässigen dürfte. Zwar wurden Organisationen, insbesondere Unternehmen, als verantwortungslose Monster beschrieben, die unfähig seien, moralisch zu handeln und die auch ihre Angestellten dieser Fähigkeit berauben würden.20 Aber sie können auch zum Guten wirken – wenn sie im Bereich des moralisch Erlaubten bleiben und Individuen dabei unterstützen, dies ebenfalls zu tun. Im Jahr 1999 schlugen Phillips und Margolis die »Organisationsethik« als ein neues Forschungsfeld vor, was zu einer Debatte darüber Anlass gab, wie ein solches Feld entwickelt werden könnte.21 Bislang gab es jedoch nur wenige Reaktionen auf ihren Aufruf.22 Dieses Buch versucht, die »Black Box« der Organisationen zu öffnen, um sie der normativen Theoriebildung zugänglich zu machen. In Abschnitt 1.2 werde ich detaillierter besprechen, was ich unter »Sozialphilosophie« als einem Ansatz zur Untersuchung der Meso-Ebene des sozialen Lebens verstehe. Die folgenden Abschnitte legen dar, wie ich »das System« verstehe und warum es »zurückerobert« werden muss (1.3). Zudem geben sie eine Übersicht über die Struktur dieser Studie.