Читать книгу Das System zurückerobern - Lisa Herzog - Страница 16
3. Moralische Normen in sozialen Kontexten 3.1. Einführung
ОглавлениеWenn man mit der moralischen Reflexion über Organisationen beginnt, stellen sich zahlreiche Fragen: Die faire Behandlung von Angestellten, umweltfreundliche Produktionsprozesse, der Schutz vulnerabler Stakeholdergruppen, etc. Worin aber bestehen die normativen Gründe für diese Erwartungen? Wie weit können sie gehen? Wer über Organisationen und die Rolle der in ihnen handelnden Individuen aus einer moralischen Perspektive heraus sprechen will, muss sich über die eigenen normativen Grundlagen im Klaren sein. Die Aufgabe dieses Kapitels besteht darin zu klären, auf welche moralischen Normen ich mich konzentriere und worin, meiner Meinung nach, das Wesen und der Stellenwert dieser Normen besteht.
Weite Teile der modernen Moralphilosophie zielen darauf ab, verschiedene moralische Theoriegebäude, wie beispielsweise deontologische, konsequentialistische oder kontraktualistische Theorien zu unterscheiden. Um dies zu tun, konzentrieren sich Theoretikerinnen auf Extremfälle, in denen die Unterschiede zwischen diesen Theorien sichtbar werden. Standardbeispiele sind moralische Dilemmata, die manchmal zur Vermeidung verkomplizierender Faktoren künstlich konstruiert werden, wie zum Beispiel das berühmte »Trolley-Problem«: Die Frage, ob man den Hebel einer Weiche in Bewegung setzen soll, um einen Wagen, der fünf Personen töten könnte, auf ein Nebengleis zu lenken, wo er nur eine Person töten würde.1 Solche Gedankenexperimente testen unsere Intuitionen hinsichtlich des Vorrangs bestimmter moralischer Prinzipien gegenüber anderen. Sie können uns dabei helfen, unsere moralischen Grundhaltungen deutlicher zu erkennen und eine größere Konsistenz zu erreichen.
Aufgrund dieses theoretischen Fokus auf moralische Prinzipien wurde anderen Dimensionen der Moral jedoch weniger Aufmerksamkeit zuteil. Die Tatsache, dass die meisten moralischen Theorien in ihrer Bewertung einer großen Anzahl von Fällen übereinstimmen, fiel weniger ins Gewicht, genauso wie viele Fragen danach, was es braucht, um moralische Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Für diese Umsetzung benötigen Individuen Orientierung in sozialen Situationen, die häufig komplizierter sind und in denen die verfügbaren Optionen oft weniger klar hervortreten als in den stilisierten Gedankenexperimenten abstrakten Theoretisierens. Sie brauchen Willensstärke und moralisches Urteilsvermögen. Und sie müssen moralische Fragen zunächst einmal als moralische Fragen erkennen – als Situationen, in denen sie verantwortungsvolle Entscheidungen treffen müssen, statt bloß anderen zu folgen oder zu tun, was am bequemsten erscheint.
Einige dieser Kritikpunkte und vernachlässigten Themen wurden bereits in der Debatte über die Tugendethik aufgegriffen, die sich seit den 1950er Jahren entwickelt hat.2 Ausgehend von älteren philosophischen Traditionen, wie beispielsweise der aristotelischen Moralvorstellung, haben Tugendethikerinnen an die Bedeutung der Tugend, der moralischen Erziehung sowie der Charakterentwicklung erinnert.3 Dabei haben sie sich allerdings zum größten Teil auf Individuen konzentriert und dabei relativ wenig darüber gesagt, wie Individuen in soziale Kontexte eingebettet sind. Wie in Kapitel 2 gezeigt, hat sie das gegenüber dem »Situationismus« angreifbar gemacht.4
Das, was ich »Sozialphilosophie« nenne, geht diesen nächsten Schritt und fragt danach, wie soziale Kontexte derart gestaltet werden können, dass sie die Umsetzung moralischer Normen unterstützen. Sie erkennt die zentrale Einsicht der Tugendethik an, dass die Charakterbildung ein wichtiger Aspekt der Moral ist, besteht allerdings darauf, dass moralisches Handeln und Charakterbildung nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern in sozialen Kontexten, die dabei mehr oder weniger unterstützend wirken. In dieser Hinsicht hat die Sozialphilosophie viel mit dem gemeinsam, was manche Theoretikerinnen eine »Verantwortungsethik« genannt haben, die sich nicht so sehr auf die Rechtfertigung moralischer Normen als vielmehr auf die Frage konzentriert, wie diese in sozialen Kontexten realisiert werden können.5
In diesem Kapitel werde ich zunächst eine Annahme verteidigen, die für Moraltheoretikerinnen offensichtlich erscheinen mag, die jedoch aus anderen theoretischen Perspektiven durchaus umstritten ist: Dass wir Moral als »allgegenwärtig« verstehen sollten, und zwar in dem Sinne, dass es keine sozialen Kontexte gibt, die irgendwie »außerhalb« der Moral liegen würden. Grundlegende moralische Normen behalten ihre Gültigkeit selbst in sozialen Sphären, die einen »systemischen« Charakter zu haben scheinen oder Teil einer institutionellen Arbeitsteilung sind (Abschnitt 3.2). Ich werde dann im Hauptteil dieses Kapitels diejenigen moralischen Normen besprechen, die dieser Arbeit zugrunde liegen und den Kern eines »übergreifenden Konsenses« verschiedener moralischer Theorien oder Weltanschauungen bilden (Abschnitt 3.3). Ich schließe mit einer Betonung der Notwendigkeit moralischer Urteilskraft für die Beantwortung konkreter Fragen, sowie des Beitrags theoretischer Reflexion (Abschnitt 3.4).