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3.4. Schluss
ОглавлениеIn diesem Kapitel habe ich das Bild der moralischen Welt gezeichnet, auf der meine Diskussion der moralischen Dimensionen von Organisationen beruht. Ich habe für ein Verständnis der Moral als »allgegenwärtig« argumentiert und erklärt, warum ich mich auf eine Reihe grundlegender moralischer Normen konzentriere: Eine Norm des Respekts gegenüber allen Individuen und Normen, keinen Schaden zu verursachen oder zu kollektiv verursachtem Schaden beizutragen. Während es kontrovers diskutierte Grenzfälle gibt, besteht ein breiter »übergreifender Konsens« zwischen verschiedenen moralischen Lehren und Weltanschauungen, der diese Normen beinhaltet. Wenn ich mich in den folgenden Kapiteln auf »grundlegende moralische Normen« beziehe, oder darüber spreche, »moralische Verletzungen« zu vermeiden und Organisationen moralisch »in der Spur« zu halten, beziehe ich mich auf diese Normen.
Die Aufgabe der Sozialphilosophie besteht meinem Verständnis dieses Begriffs nach darin, zu erforschen, wie dieser moralische Kern in menschlichen Institutionen und Praktiken realisiert werden kann. Die Sozialphilosophie liegt zwischen der Moralphilosophie mit ihrem Fokus auf individuellem Handeln und der politischen Philosophie, die sich auf die »Grundstruktur« von Gesellschaften konzentriert. Sie nimmt die moralischen Praktiken von Individuen-in-sozialen-Kontexten in den Blick, wobei sie Moral als eine menschliche, praktische Angelegenheit begreift, als etwas, dass zwischen uns passiert und »worin« wir immer schon sind.42
Die Sozialphilosophie kommt daher denjenigen praktischen Fragen der Moral näher, die in den unterschiedlichen sozialen Sphären aufkommen. Allerdings sollte betont werden, dass sie keinen Ersatz für die praktische moralische Urteilskraft darstellt und dies auch nicht sollte.43 Die Umsetzung konkreter Veränderungsvorschläge hängt von deutlich mehr kontextuellen Faktoren ab, als jemals in einem einzelnen theoretischen Ansatz abgebildet werden könnten. Um von theoretischen Einsichten zu praktischen Reformen zu gelangen, bedarf es eines geübten Auges für moralische Nuancen und Komplexitäten, aber auch eines realistischen Sinnes dafür, was kurz- und langfristig möglich ist, ohne Gegenbewegungen auszulösen. Die moralische Theorie kann daher keine »Rezepte« bereitstellen, die einfach im Sinne einer technischen Anwendung in die Praxis umgesetzt werden müssten.
Die moralische Theorie kann nichtsdestotrotz wichtige Beiträge für einen moralischen Wandel liefern. Oft besteht ihre wichtigste Rolle darin, neue Konzeptualisierungen oder Perspektiven bereitzustellen, die existierende Praktiken in einem neuen Licht erscheinen lassen. Wie Martha Nussbaum es einst formulierte: »Das erste, was die Theorie für die Praxis tun muss, ist […] schlechte Theorien zu widerlegen, die wichtige Gedanken verstummen lassen.«44 Organisationen bilden bloß einen der vielen Räume, auf die diese Aussage zutrifft. Allerdings stellen sie vermutlich einen Raum dar, für den sich diese Aufgabe besonders dringlich stellt, da die durch sie geschaffenen moralischen Herausforderungen seit Jahren vernachlässigt und, wie bereits in der Einleitung erklärt, Organisationen auf eine Art theoretisiert wurden, die ihre moralischen Dimensionen fast unsichtbar gemacht und somit in der Tat »wichtige Gedanken verstummen lassen« hat. Es ist daher eine entscheidende Aufgabe, reichhaltigere theoretische Perspektiven und neue begriffliche Werkzeuge für das Verständnis von Organisationen zu entwickeln. Bevor wir uns jedoch auf dieses Unterfangen einlassen, ist ein letzter vorbereitender Schritt nötig: Genauer zu untersuchen, was ich mit dem Begriff »Organisationen« meine und zu untersuchen, welche ihrer Eigenschaften welche Art von moralischen Herausforderungen schaffen. Dieser Aufgabe wende ich mich in Kapitel 4 zu.