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4.5. Schluss
ОглавлениеOft kommen beim Gedanken an Organisationen die anonymen Glasfassaden von Bürogebäuden und Reihen von Büros in den Sinn, in denen Angestellte wie Hühner in Käfigen sitzen. Unzählige Arbeitsplätze in den ökonomischen und öffentlichen Sphären unserer Gesellschaften sind Teil solcher Strukturen. Kritikerinnen betrachten Organisationen als entfremdend und gefährlich, als Entitäten, die Individuen um die Früchte ihrer Arbeit bringen und Verantwortlichkeiten bis zu einem solchen Grad verdünnen, dass moralische Katastrophen scheinbar ohne Schuldige geschehen können. Für sie können Organisationen, wenn überhaupt, nur aufgrund ihrer funktionalen Vorteile gerechtfertigt werden: Weil wir keinen besseren Weg haben, hochspezialisierte, geteilte Arbeit zu integrieren, für die der Tausch auf dem Markt als Koordinationsmechanismus unzureichend ist.
Allerdings akzeptieren diese Kritikerinnen durch dieses Bild von Organisationen implizit eine Prämisse sowohl der Organisationstheorie als auch der Wirtschaftswissenschaften: Die Prämisse, dass die funktionale Perspektive die einzige ist, die wir auf Organisationen anwenden können. In der Tat ist diese Prämisse so mächtig, dass sie viele der realen Praktiken von Organisationen durchdrungen hat und die moralischen Dimensionen dieser Praktiken entsprechend an den Rand gedrängt worden sind. Die von vielen Individuen erfahrene Realität des Organisationslebens ist sehr viel komplexer, aber auch sehr viel farbenfroher, als das stereotype Grau und Beige der Büros es mitunter erscheinen lassen. Organisationen werden schließlich von Menschen bevölkert und wo diese miteinander interagieren, ist die moralische Dimension stets präsent. Und sie verschwindet auch dann nicht, wenn es uns manchmal an moralischen Instinkten mangeln mag, da unser moralischer Apparat auf soziale Kontexte kleineren Maßstabs kalibriert ist. Wenn es gutgeht, können Organisationen unsere Fähigkeit zu moralischem Handeln unterstützen, statt sie zu untergraben.
Im moralischen Sinne gut geführte Organisationen können Individuen dabei helfen, diejenigen kognitiven und volitionalen Fehler zu vermeiden, die die Ursache vieler moralischer Probleme sind. Sind ihre Strukturen darauf eingestellt, moralische Fragen ernst zu nehmen, können sie für die Vermeidung moralischer Fehler tatsächlich überaus nützlich sein. Wie Daniel Kahneman es einst ausgedrückt hat: »Organisationen können Fehler besser vermeiden als Individuen, weil sie naturgemäß langsamer denken und die Macht haben, geordnete Abläufe durchzusetzen.«63 Mit anderen Worten: Gute Organisationsstrukturen können die Art von »Gerüst« sein, die menschliche Wesen aus Fleisch und Blut dabei unterstützen, das Richtige zu tun.64 In Kontexten geteilter Arbeit geht damit einher, sich mit den der organisationalen Form entspringenden moralischen Herausforderungen zu befassen. Zusätzlich bedeutet es, auch diejenigen moralischen Herausforderungen anzugehen, die aufgrund des jeweils spezifischen Charakters und der jeweils speziellen Aufgaben unterschiedlicher Organisationen entstehen, wobei ich diesen Komplex im Folgenden nicht weiter diskutieren werde, nicht zuletzt deshalb, weil er sich von Organisation zu Organisation stark unterscheidet.
Ist die Aufmerksamkeit für moralische Herausforderungen in die Organisationsstrukturen selbst eingebaut, können sich Organisationen von einer anderen Seite zeigen. Sie können Räume für moralisches Handeln eröffnen, für Freundlichkeit, Humor und gegenseitige Unterstützung. Vor dem Hintergrund, dass unsere Gesellschaften sehr stark von den durch Organisationen produzierten Gütern und Dienstleistungen abhängen und dass so viele Individuen so viel Zeit in ihnen verbringen, sollte genau das unser Ziel sein: Organisationen zu schaffen, die in dem durch die grundlegenden moralischen Normen definierten Rahmen handeln und ein menschliches Antlitz bewahren. Das können wir allerdings nur dann erreichen, wenn wir die moralischen Herausforderungen der organisationalen Form sichtbar machen und bei unseren Überlegungen, wie Organisationen strukturiert und geführt werden sollen, auch tatsächlich ernst nehmen. Das ist die Aufgabe der nächsten vier Kapitel.