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1.3. »Das System« zurückerobern

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Für viele besteht zwischen den Begriffen »Organisation« und »Moral« keine natürliche Verbindung. Lange Zeit wurden Organisationen auf eine Art betrachtet, die blind für die moralischen Dimensionen des Organisationslebens war. Die überwältigende Mehrheit etablierter Theorien über Organisationen diskutieren deren vermeintliche Tugenden wie Effizienz, Schlankheit oder »Kundenorientierung« und die entsprechenden Sünden wie Ineffizienz, eine lasche, unterdurchschnittliche Leistung oder den Widerstand gegen Veränderungen. Aber sie alle betrachten Organisationen anhand rein funktionaler Begriffe, wodurch moralische Fragen an den Rand gedrängt werden. Diese scheinbare Amoralität von Organisationen wird in der Metapher des »Systems« eingefangen: Aus dieser Perspektive sind Organisationen Teil eines mächtigen »Systems«, das einer »Eigenlogik« jenseits allen menschlichen Handelns folgt.36

Dieser »systemische« Charakter von Organisationen wurde beispielsweise in Theorien der funktionalen Differenzierung beschrieben. Ihnen liegt die Idee zugrunde, dass Organisationen, zusammen mit anderen Institutionen, gemäß einer Logik funktionieren, die sich von der Logik des alltäglichen Lebens, die von moralischen Normen durchdrungen ist, unterscheidet. Das vielleicht bekannteste Beispiel solch einer theoretischen Perspektive ist Jürgen Habermas’ Unterscheidung zwischen »der Lebenswelt« und »dem System«.37 »Das System« beschreibt die sozialen Sphären, in denen nicht-intendierte, nicht-kommunikative Formen der Koordination stattfinden, insbesondere die Marktwirtschaft.38 Im »System« gibt es keinen Platz für moralisches Handeln, da es keinen Platz für irgendein intentionales Handeln gibt. Vielmehr steuern »systemische Mechanismen […] einen von Normen und Werten weitgehend abgehängten sozialen Verkehr, nämlich jene Subsysteme zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns, die sich nach Webers Diagnose gegenüber ihren moralisch-praktischen Grundlagen verselbstständigt haben.«39 Werden Organisationen als Teile eines solchen »Systems« verstanden, scheint es sinnlos, sie aus einer normativen Perspektive heraus betrachten zu wollen. Eine solche Herangehensweise suggeriert, dass Organisationen »wie Maschinen« sind und es »ein Kategorienfehler [wäre], zu meinen, dass eine Maschine die Prinzipien der Moral beachten könnte«, wie Ladd es einmal ausgedrückt hat.40

Aber Organisationen sind von Menschen geschaffene Institutionen; insofern sie einen »systemischen« Charakter haben, rührt dieser daher, dass er durch von Menschen entworfene Pläne hervorgebracht wurde, die wiederum von den Narrativen und Theorien über Organisationen abhingen, die den Gestaltern dieser Institutionen als Orientierung dienten. Die Organisationen unserer Tage sind durchdrungen von Ideen der Vergangenheit, die nun wirksam werden und unserer Realität ihren Stempel aufdrücken.41 Möglicherweise fußen diese Ideen auf Prämissen, die unsere heutige soziale Realität nicht mehr adäquat abbilden. So gehen sie beispielsweise oft implizit von einer institutionellen Arbeitsteilung aus, in der der Nationalstaat eine Art letzte moralische Instanz ist, die die Organisationen von moralischer Verantwortung entlastet und es ihnen erlaubt, zielgerichtet ihre eigenen Zwecke zu verfolgen. Viele ökonomische Theorien haben Organisationen auf ebenjene Weise in den Blick genommen – insofern sie diese überhaupt theoretisch erfasst haben. Seit dem 19. Jahrhundert haben sie Menschen als rationale Nutzenmaximierer betrachtet und nach »Gesetzen« im sozialen Raum gesucht, ähnlich der Gesetze der Newton’schen Physik. Dieser moralfreie, funktionale Ansatz der Wirtschaftswissenschaften, der sich allein auf Effizienz konzentriert, ist bis in die Kapillaren des Organisationslebens eingesickert und hat dort moralische Fragen verdrängt.

Allerdings hat dieser die organisationalen Praktiken so stark prägende ökonomistische Ansatz möglicherweise mehr Schaden angerichtet als Gutes getan. In den kritischen Worten Sumantra Ghoshals: »Schlechte Managementtheorien zerstören gute Managementpraktiken«.42 Die Theorien, gegen die sich seine Kritik wendet, gehen allgemein davon aus, dass Individuen sich opportunistisch verhalten, und suggerieren, dass diesem Opportunismus mit Zuckerbrot und Peitsche begegnet werden sollte.43 Managementstudien behaupteten, über wissenschaftliche Kenntnisse auf Basis mathematischer Modelle zu verfügen, statt anzuerkennen, dass es in menschlichen Angelegenheiten keinen Determinismus gibt.44 Zudem gilt, dass, wie Ghoshal es ausdrückt, »Business Schools durch die Verbreitung ideologisch inspirierter, amoralischer Theorien ihre Studentinnen aktiv von jeglichem Sinn für moralische Verantwortung befreit haben«.45 Sie haben Konzeptionen und Vorstellungen geschaffen, die eine »skrupellos treibende, strikt von oben herab wirkende, auf Befehle und Kontrolle fokussierte, vom Shareholder-Value besessene und bedingungslos am Sieg orientierte« Form von Führung befördert haben.46

Es überrascht also nicht, dass manche Organisationen eher als »System« denn als von Menschen erschaffene Institutionen erscheinen. Aber nicht nur auf diese Weise haben bestimmte theoretische Perspektiven unser Bild von Organisationen verzerrt. Aufgrund der zu ihrer Beschreibung verwendeten Ansätze sind viele Eigenschaften von Organisationen faktisch unsichtbar geworden. So betrachten beispielsweise viele ökonomische Theorien die soziale Welt als ein Netz von Verträgen zwischen vollkommen rationalen Individuen. Das bedeutet, dass Phänomene wie Macht, kulturelle Einflüsse oder andere als »soziologisch« verstandene Faktoren entweder ignoriert oder wegerklärt wurden.47 Bündel von Verträgen zwischen atomistischen Individuen erscheinen auf diese Weise als absolut harmlos, was die Macht, über die Organisationen heutzutage verfügen, nicht im Ansatz adäquat abbildet. Der Organisationstheorie, oder zumindest einigen ihrer Varianten, sind solche Phänomene eher bewusst geblieben. Allerdings waren Organisationstheoretikerinnen, wie auch Wirtschaftswissenschaftlerinnen, mit einer anderen Form methodologischer Blindheit geschlagen: Zu einem großen Teil ignorierten sie Fragen zu den moralischen Dimensionen individuellen oder organisationalen Verhaltens.

Wenn also der »systemische« Charakter von Organisationen beschworen wird, muss sorgfältig zwischen theoretischen Ansätzen und sozialen Realitäten unterschieden werden – und zugleich anerkannt werden, wie diese Ansätze jene Realitäten beeinflusst haben könnten. Die zentrale Frage lautet, ob wir uns Organisationen auch anders vorstellen und sie auch anders gestalten können: Menschlicher und eher im Einklang mit den moralischen Normen, die wir in anderen Sphären unseres Lebens für selbstverständlich halten. Hierfür muss anerkannt werden, dass ihre Strukturen nicht in Stein gemeißelt und nicht durch eine unabhängige, unabänderliche »Logik« vorherbestimmt sind. Daraus folgt jedoch nicht, dass der spezifische Charakter von Organisationen geleugnet werden sollte; schließlich müssten wir ihre charakteristischen Eigenschaften kaum aus einer normativen Perspektive heraus untersuchen, wenn es solche Eigenschaften nicht gäbe. Die spezifischen Charakteristika von Organisationen anzuerkennen ist allerdings durchaus damit vereinbar, eine amoralische, rein funktionale und »systemische« Vorstellung von Organisationen zurückzuweisen – zumindest werde ich diese Position im Verlauf dieser Untersuchung verteidigen.

Mit der »Rückeroberung« des Systems meine ich eine Neuorientierung des Organisationslebens, sodass es innerhalb des Bereichs verbleibt, der durch jene grundlegenden moralischen Normen definiert wird, die wir alle teilen. Mit dem Begriff »Moral« beziehe ich mich nicht auf hochtrabende Ideale wie Altruismus oder Gemeinschaftssinn. In unseren pluralistischen Gesellschaften muss die Tatsache ernst genommen werden, dass Moral für verschiedene Personen unterschiedliches bedeuten kann. Aber es gibt einen gemeinsamen Kern der Moral, der grundlegende Normen beinhaltet, darunter die Norm, andere Personen als moralisch Gleiche zu respektieren, die Norm, anderen nicht zu schaden, sowie die Norm, nicht zu kollektivem Schaden beizutragen.48 Während es an den Rändern unterschiedlicher Theorien einige Meinungsverschiedenheiten darüber geben mag, wie solche grundlegenden Normen zu verstehen sind, gibt es auch eine beträchtliche Übereinstimmung – und in sozialen Sphären jenseits von Organisationen erkennen wir diese Tatsache für gewöhnlich auch an.

Innerhalb von Organisationen scheint hingegen etwas vorzuherrschen, das wie eine Mischung aus Unwillen und Unfähigkeit anmutet, sich mit moralischen Normen zu befassen. In gewisser Hinsicht ist das nicht überraschend: Über Jahre hinweg ist das Organisationsleben von moralfreien Theorien und Narrativen durchdrungen worden, sodass vielen Organisationen und den in ihnen aktiven Individuen die Erfahrung fehlt, moralisches Vokabular zu nutzen und anzuwenden. Bird und Waters haben das die »moralische Stummheit« vieler Managerinnen genannt: Ihre Unfähigkeit, moralische Fragen als moralische Fragen zu durchdenken, was die Tendenz verstärken kann, sie letztlich gar nicht erst zu durchdenken.49 Individuen, die sich tatsächlich um moralische Probleme kümmern, müssen oft große Anstrengungen unternehmen, um diese Probleme in eine Sprache der Legalität oder Effizienz zu »übersetzen«, beispielsweise dadurch, dass sie unmoralische Praktiken als »Reputationsrisiken« und somit als Gefahr für die Effizienz präsentieren.50

Es gibt viele voneinander unabhängig Gründe für die Zurückweisung ökonomistischen Denkens, besonders, wenn es auf Organisationen angewendet wird. Selbst aus einer rein funktionalen Perspektive heraus hat es sich nicht als erfolgreich erwiesen, Organisationen als Maschinen zu betrachten, in denen menschliche Wesen als rein eigennützige Geschöpfe allein durch finanzielle Anreize gesteuert werden.51 Wichtiger ist jedoch, dass Organisationen aus einer moralischen Perspektive neu gedacht werden müssen.52 Über die moralischen Dimensionen des Organisationslebens zu reden ist eine Kulturtechnik, die unsere Gesellschaften zu einem gewissen Grad wieder neu lernen müssen, da sie über Jahrzehnte hinweg von einer aggressiv auftretenden, ökonomistischen und folglich amoralischen Rhetorik verdrängt wurde. Organisationen müssen ein Selbstverständnis, eine Kultur und organisationale Strukturen wiedergewinnen, die es ihnen erlauben, die Aufmerksamkeit für grundlegende moralische Normen als eine ihrer zentralen Verantwortlichkeiten zu betrachten, unabhängig davon, was sie sonst tun und welche anderen Verantwortlichkeiten sie sonst haben mögen. Habermas warnte vor der »Kolonialisierung« der »Lebenswelt« durch »das System«,53 wobei er die »systemischen« Eigenschaften als gegeben annahm. In gewisser Hinsicht will ich zeigen, dass eine umgekehrte Kolonialisierung stattfinden sollte: Wir sollten Organisationen – und letztlich auch »das System« als Ganzes – als Räume konzeptualisieren und gestalten, in denen die moralischen Normen, die wir in der Lebenswelt für selbstverständlich halten, ernst genommen werden und in denen moralisches Handeln sowie moralische Verantwortung einen Platz haben.

Eine andere Art, das Vorhaben dieses Buches zu verstehen, besteht darin, es als eine Neubewertung der »moralischen Arbeitsteilung«54 zwischen Individuen, Organisationen und dem umfassenderen institutionellen Rahmen zu beschreiben: Wer ist wofür, und aus welchem Grund, moralisch verantwortlich? Mit diesem Vorgehen stelle ich die unter Praktikerinnen ebenfalls weit verbreitete Annahme infrage, dass alles, was für die Moralität von Organisationen zählt, ein guter rechtlicher Rahmen ist.55 Diese Antwort ist nicht nur deshalb unzureichend, weil Organisationen in unserer globalisierten Welt oft in Kontexten handeln müssen, in denen die rechtlichen Rahmenbedingungen offensichtlich ungenügend sind. Wichtiger ist, dass selbst dort, wo vernünftige rechtliche Rahmenbedingungen herrschen, diese nicht alle moralischen Angelegenheiten des Organisationslebens abdecken können. Rechtliche Werkzeuge sind ein zu stumpfes Instrument, um alle moralischen Probleme behandeln zu können, besonders im Hinblick auf zwischenmenschliche Beziehungen und den bereits weiter oben formulierten Imperativ, Verletzungen der Norm moralischer Gleichheit zu verhindern.

In unserer heutigen Welt müssen wir die Teilung der moralischen Arbeit anpassen, und zwar derart, dass Organisationen daran gehindert werden, die seelenlosen »Systeme« oder unmoralischen »Monster« zu sein, als die sie manchmal beschrieben wurden. Es gibt einfach zu viele drängende moralische Fragen um uns herum, als dass wir solch ein »System« unsere Leben beherrschen lassen sollten. Vielleicht ist »das System« aufgrund der Tatsache so mächtig, dass wir uns selbst zu lange erzählt haben, dass es keine Alternativen gäbe, und dass wir Verantwortlichkeiten derart umhergeschoben haben, dass jede und jeder einzelne von uns sich machtlos fühlt. Durch ein besseres Verständnis davon, wie bestimmte »systemische« Zwänge entstehen und wie wir mit ihnen umgehen können, werden wir fähig, »das System zurückzuerobern« und mit den Normen der »Lebenswelt« zu rekolonialisieren.

Das System zurückerobern

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