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2.2. Der Angriff auf das verantwortliche Selbst

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Wenn wir über uns selbst als moralische Akteure nachdenken, haben wir wahrscheinlich das Bild einer souveränen, unabhängig handlungsfähigen Person vor Augen, wie sie in vielen theoretischen Ansätzen der Moralphilosophie, aber auch vielen anderen Disziplinen wie beispielsweise der politischen Theorie oder den Wirtschaftswissenschaften, vorausgesetzt wird. Dieses Bild kommt durch die Verbindung dreier Idealisierungen zustande. Die erste Idealisierung betrifft unsere kognitiven Kapazitäten, insbesondere die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten. Die zweite Idealisierung betrifft unsere volitionalen Kapazitäten: Während Willensschwäche, oder akrasia, ein zentrales Thema in Aristoteles’ Ethik darstellte7, hat die moderne Moralphilosophie sie an den Rand gedrängt.8 Diese zwei Idealisierungen implizieren, dass Individuen sich selbst vollständig unter Kontrolle haben, woraus eine dritte Idealisierung folgt: Unabhängigkeit von sozialen Kontexten. Für einen derart idealisierten Akteur macht es keinen Unterschied, ob eine moralische Frage dann aufkommt, wenn er alleine oder in der Gesellschaft andere Menschen ist, ob am Tag oder bei Nacht, ob zu Hause im Rahmen der eigenen Kultur oder an einem fremden Ort, ob unter Zeitdruck oder in der Freizeit. Dieser idealisierte Akteur handelt aufgrund eigener, von der Vernunft diktierter Präferenzen, einschließlich der eigenen moralischen Präferenzen.

Es gibt jedoch eine große und wachsende Menge an Evidenz, die nahelegt, dass menschliche Wesen in all den genannten Bereichen fehlbarer sind als die entsprechenden Idealisierungen suggerieren.9 Ein Forschungszweig beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie die kognitiven Kapazitäten von Individuen von den Standards vollkommener Rationalität abweichen, die in der Theorie oft vorausgesetzt werden. Im Gegensatz zu den Akteuren vieler Theorien berechnen Menschen aus Fleisch und Blut kaum jemals »optimale« Strategien. Sie nutzen viel eher »zufriedenstellende« Strategien, ein von Herbert Simon eingeführter Begriff: Sie suchen nach Ergebnissen, die »gut genug« sind (»zufriedenstellend« oder »ausreichend«), da sie oft nicht über die kognitiven Ressourcen verfügen, die für eine »Optimierung« nötig wären – ihre Rationalität ist »begrenzt«.10

Andere bekannte Abweichungen vom Modell vollkommener Rationalität sind die systematische Überschätzung geringer und die Unterschätzung hoher Wahrscheinlichkeiten, sowie irrationale Unterschiede in der Bewertung von Gewinnen und Verlusten.11 Solche Tendenzen können sowohl hinsichtlich moralischer als auch hinsichtlich nicht-moralischer Verhaltensweisen beobachtet werden. Es gibt auch viele Belege dafür, dass Individuen nicht immer die Willensstärke haben, um gemäß den von ihnen getroffenen Entscheidungen zu handeln. Individuen zeigen oft »zeitinkonsistentes« Verhalten: Sie wählen nicht die Optionen, die in ihrem langfristigen Interesse sind, sondern bevorzugen Optionen, die allein ihrem kurzfristigen Interesse dienen.12 Diese Tendenz kann selbstbezogenes Verhalten beeinflussen, das langfristige Planung voraussetzt, aber auch moralische Entscheidungen, beispielsweise wenn eine Person plant, einen bestimmten Geldbetrag zu spenden um die globale Armut zu bekämpfen, dies jedoch zugunsten kurzfristiger Vergnügungen immer wieder aufschiebt.13

Diese Zweifel hinsichtlich unserer kognitiven und volitionalen Fähigkeiten werden durch Untersuchungen verstärkt, die zeigen, wie stark menschliches Verhalten von Kontexten abhängt. Oft hat der soziale Kontext den stärksten Einfluss darauf, wie wir uns verhalten. Wir beobachten instinktiv, wer auf unser Verhalten mit Zustimmung oder Stirnrunzeln reagiert, oder folgen anderen, ohne ihre Autorität zu hinterfragen. Wir tendieren dazu, uns dem Verhalten anderer anzupassen, wobei wir der Heuristik folgen, »zu tun, was die Mehrheit unserer Peergroup tut«,14 vielleicht aus einem »Bedürfnis nach Zugehörigkeit«.15 Wie ein bekanntes Experiment von Solomon Asch gezeigt hat, kann die Tendenz zur Konformität unser Vertrauen in die eigenen Sinneswahrnehmungen untergraben, selbst wenn es um etwas so Einfaches wie den Vergleich der Länge verschiedener Linien geht. Wenn sechs von sieben Personen selbstbewusst die kürzere Linie als länger bezeichnen, ist es dann nicht vielleicht sicherer, ihrem Urteil zu folgen?16 Konformitätseffekte wurden auch hinsichtlich unethischen Verhaltens festgestellt: Wenn die Mitglieder einer Gruppe in einem Experiment betrügen, oder selbst wenn sie auch nur eine Frage zum Thema Betrug stellen, hat das ansteckende Effekte auf andere.17 Nicht zuletzt können soziale Kontexte das Verhalten auch durch die Sprache beeinflussen, in der Situationen beschrieben werden, wenn zum Beispiel die sozialen oder konfliktbehafteten Dimensionen der jeweiligen Situation betont werden.18

In extremen Fällen kann der soziale Kontext Personen auch dazu bringen Dinge zu tun, die sie andernfalls als zutiefst unmoralisch zurückweisen würden. Diese Beobachtung wurde in berühmten Untersuchungen wie beispielsweise den »Milgram Experimenten«19 oder dem »Stanford Prison Experiment« gemacht.20 Wie diese Experimente, und auch unzählige Episoden der Menschheitsgeschichte, zeigen, können selbst relativ harmlose Umweltfaktoren eine große Zahl von Personen dazu bewegen, grundlegende moralische Normen zu verletzen. Auch alltäglichere Situationen moralischen Handelns hängen zu einem Großteil von Kontexten ab, wie nicht nur durch die weiter oben erwähnte »Barmherziger Samariter«-Studie gezeigt wurde, sondern auch durch Studien, in denen Faktoren wie das Auffinden eines 10-Cent-Stücks in einer Telefonzelle oder der Duft aus einer Bäckerei die Wahrscheinlichkeit für das Leisten von Hilfe signifikant erhöhten.21

Diese Studien legen ein Bild des Menschen nahe, in dem dieser lediglich das passive Spielzeug kontextueller Kräfte ist. Dieser Schluss wurde von vielen sogenannten »situationistischen« Autorinnen gezogen, die ursprünglich als Kritikerinnen der Tugendethik auftraten.22 Nach der Lesart von John Doris, einem der führenden »Situationisten«, zeigt die empirische Evidenz, dass »situationale Faktoren das Verhalten oft besser vorhersagen als personale Faktoren.«23 Ihm zufolge hat die Tugendethik »die Existenz von Charakterstrukturen [vorausgesetzt], über die tatsächlich existierende Menschen sehr oft nicht verfügen«,24 nämlich Charakterstrukturen, die über verschiedene Situationen hinweg konsistent und stabil sind.25

Der Situationismus griff die Tugendethik an, aber was auf dem Spiel stand, war die Moral selbst. Sollte es nämlich stimmen, dass das Bild des stabilen, moralisch verantwortlichen Individuums nichts als eine schmeichelhafte Autosuggestion ist, dann zielt der Situationismus auch auf das Herz anderer moralischer Theorien.26 Wie Bernard Williams es formuliert hat: Der Vorwurf, dass wir die Idee des Charakters nicht sinnvoll begreifen könnten, ist »ein Einwand gegen das ethische Denken selbst, nicht nur gegen eine bestimmte Art, es zu betreiben«.27 Ohne ein Subjekt, dass mehr oder weniger über sich selbst verfügt, erscheint das Aufstellen moralischer Forderungen, ob es nun auf Basis der Tugendethik oder auf der Grundlage einer kantianischen, konsequentialistischen oder kontraktualistischen Ethik geschieht, als von vornherein fehlgeleitet. Würde der Situationismus in seiner ursprünglichen, starken Form zutreffen, hätte eine große Zahl von Moralphilosophen einen Großteil ihrer Zeit für ein Projekt verschwendet, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.28

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