Читать книгу Das System zurückerobern - Lisa Herzog - Страница 23

4.4. Moralische Normen in organisationale Strukturen einbetten

Оглавление

Akzeptiert man das Argument, dass die organisationale Form selbst bestimmte moralische Herausforderungen mit sich bringt, könnte man annehmen, dass die Aufgabe ihrer Bewältigung zuerst bei denjenigen liegt, die an der Spitze der organisationalen Hierarchie stehen: Bei Vorgesetzten und Managern, oder schlicht bei denjenigen, die für die organisationalen Abläufe zuständig sind. Es ist zweifellos wahr, dass diese Individuen eine beträchtliche moralische Verantwortung tragen, und zwar aus Gründen, die im weiteren Verlauf dieses Buches deutlicher werden sollten. Es wäre aber ein Fehler zu meinen, dass die Moral allein an der Spitze der Entscheidungsstrukturen verortet werden könne und dass all die in den Weisungsketten weiter unten stehenden Individuen nichts anderes zu tun hätten, als Anweisungen zu folgen. Wollen Organisationen die der organisationalen Form entspringenden moralischen Herausforderungen meistern, müssen sie sich dafür Unterstützung auf allen Ebenen einholen.

Das ist deshalb der Fall, da Organisationen kaum jemals vollständig von oben herab kontrolliert werden können, wobei sich dieses Problem mit zunehmender Größe der Organisation verstärkt.60 Dass es sich bei der Annahme, Organisationen könnten vollständig durch diejenigen in Führungspositionen kontrolliert werden, um eine Illusion handelt, ist eine der klassischen Erkenntnisse der Organisationstheorie. Sie wurde beispielsweise von Anthony Downs in einer Reihe von »Gesetzen der Kontrolle« festgehalten, darunter:

Das Gesetz unvollständiger Kontrolle: Keine Person kann das Verhalten einer großen Organisation vollständig kontrollieren.

Das Gesetz abnehmender Kontrolle: Je größer eine Organisation wird, desto schwächer wird die Kontrolle über ihr Handeln durch diejenigen an der Spitze.

Das Gesetz der Gegenkontrolle […]: Je größer der Aufwand, der durch einen Souverän oder hochrangigen Offiziellen aufgebracht wird, um das Verhalten der ihm oder ihr unterstellten Offiziellen zu kontrollieren, desto größer ist der durch die Untergebenen geleistete Aufwand, einer solchen Kontrolle zu entkommen oder etwas entgegenzusetzen.

Obwohl Downs diese »Gesetze« aus einer rein funktionalen Perspektive formuliert, gelten sie auch für die moralischen Dimensionen von Organisationen: Es wäre eine Illusion zu meinen, dass es bloß moralische Führungskräfte bräuchte, um sicherzustellen, dass Organisationen keine moralischen Fehler machen; es handelt sich dabei zwar um eine notwendige, jedoch keinesfalls hinreichende Bedingung. Es gibt schlicht zu viele Möglichkeiten, wie Dinge in einem moralischen Sinne falsch laufen können: Scheinbar kleine Fehler bei der Verteilung von Verantwortlichkeiten, Unaufmerksamkeit gegenüber kulturellen Veränderungen oder andauerndes Versagen darin, Respektsverweigerungen zu »sehen«, können zu moralischen Katastrophen führen. All diese Faktoren können niemals vollständig von der Spitze einer Organisation aus kontrolliert werden.

Die Kehrseite dieser Tatsache besteht darin, dass Individuen in Organisationen oft über beträchtliche Handlungsspielräume verfügen. Dieser Aspekt von Organisationen wurde insbesondere von Michel Crozier und Erhard Friedberg betont: »Menschliches Handeln darf auf keinen Fall mit mechanischem Gehorsam oder den Zwängen struktureller Gegebenheiten gleichgesetzt werden«; vielmehr »ist [es] immer der Ausdruck und die Folge von Freiheit, unabhängig davon, wie gering diese Freiheit auch sein mag«.61 Organisationale Einschränkungen können stark sein und als stark empfunden werden, allerdings gibt es immer gewisse »Freiheitsräume«62, die es ermöglichen, Verantwortung zu übernehmen oder sich dieser zu verweigern. Sicherlich nutzen manche Organisationen moralisch fragwürdige Mittel, um die Konformität ihrer Mitglieder zu sichern, von sozialem Ausschluss bis hin zu physischer Gewalt. Allerdings handelt es sich auch hier wieder um Fälle offensichtlichen moralischen Fehlverhaltens und glücklicherweise finden solche Maßnahmen im Großteil der Organisationen westlicher Länder keine Anwendung, wie beispielsweise in Wirtschaftsunternehmen und öffentlichen Bürokratien, wo die schlimmste Form der Sanktion im Verlust des eigenen Arbeitsplatzes besteht – eine zwar schwerwiegende, aber nicht unbedingt existentielle Bedrohung der moralischen Handlungsfähigkeit der betroffenen Personen. Im Verlauf der Kapitel 58 wird ersichtlich werden, wo und wie Individuen auf verschiedenen Ebenen der organisationalen Hierarchie moralische Verantwortung für die Prävention moralischen Fehlverhaltens übernehmen können und in vielen Fällen auch tatsächlich übernehmen.

Folglich werden Organisationen nicht dadurch »moralisch gemacht«, dass ihre Führungskräfte auf moralische Herausforderungen achten und alle anderen die Regeln befolgen. Die Aufgabe, Organisationen moralisch »in der Spur« zu halten, muss auf viele Schultern verteilt werden. Verantwortliche Führungskräfte müssen sich dieser Tatsache bewusst sein und sicherstellen, dass die organisationalen Strukturen und die organisationale Kultur eine solche Verteilung ermöglichen. Wenn ich also davon spreche, dass »Organisationen« bestimmte Pflichten haben, zum Beispiel bestimmte Strukturen einzurichten, fallen diese Pflichten durchaus denjenigen zu, die über die Macht verfügen, sie zu erfüllen. Allerdings wäre es falsch, diese als allein verantwortlich dafür zu betrachten, was in Organisationen passiert. Wo Arbeitsteilung herrscht, muss auch die Verantwortung für die Vermeidung des aus dieser Arbeitsteilung resultierenden moralischen Schadens geteilt werden.

Was also sind die Dimensionen der organisationalen Form, die selbst dann moralische Herausforderungen schaffen, wenn keine der beteiligten Personen böse Absichten hat, die Organisation selbst keine unmoralischen Ziele verfolgt, und es nicht um offensichtlich falsche Praktiken wie physische oder psychische Gewalt geht? In den Kapiteln 58 werde ich mich auf vier solche Dimensionen konzentrieren, die ich der Literatur über Organisationen und meinen Diskussionen mit in Organisationen arbeitenden Personen über die moralischen Dimensionen ihrer Arbeit entnommen habe.

Der erste Fokus wird auf Regeln liegen, die ein unverzichtbares Werkzeug für die Koordination geteilter Arbeit darstellen und daher ein zentrales Element der organisationalen Form sind. Regeln sind moralisch ambivalent: Sie haben oft selbst moralisches Gewicht, können in speziellen Fällen jedoch auch zu moralischem Unrecht führen. Im Falle einer mechanischen Anwendung können sie den zu ihrer Anwendung verpflichteten Individuen jenen Respekt verweigern, der ihnen als moralisch urteilsfähigen Individuen gebührt. Die Frage, wie mit Regeln so umgegangen werden kann, dass keine grundlegenden moralischen Normen verletzt werden, muss deshalb von allen Organisationen beantwortet werden, eben da sie ihrem Wesen nach regelbasierte Gebilde sind.

Eine zweite Eigenschaft der organisationalen Form besteht darin, dass sie das oftmals hoch spezialisierte und entsprechend kaum von oben kontrollierbare Wissen verschiedener Individuen zusammenzuführt. Um ganzheitliche Entscheidungen treffen zu können, müssen verschiedene Wissensbestände miteinander verbunden werden. Daraus entstehen moralische Herausforderungen, und zwar nicht nur hinsichtlich solcher Lücken bei der Wissensvermittlung, die potentiell moralischen Schaden verursachen können, sondern auch hinsichtlich der Verweigerung des Respekts, der Individuen als Trägerinnen von Wissen zusteht.

Eine dritte Eigenschaft von Organisationen als Organisationen besteht darin, dass sie auf einer mittleren Ebene zwischen kleinen face-to-face-Konstellationen und der Anonymität von Massen operieren. In solchen Kontexten entwickeln sich informelle Normen oder eine »Organisationskultur«. Eine solche Kultur kann Individuen entweder dabei unterstützen, die moralischen Dimensionen ihrer Aufgaben wahrzunehmen und moralische Verantwortung zu übernehmen, oder aber jene Unterstützung versagen. Daher besteht eine weitere moralische Herausforderung für Organisationen als Organisationen in der Aufrechterhaltung einer förderlichen Organisationskultur.

Und schließlich kreieren alle Organisationen als Netze hierarchisch strukturierter Arbeitsteilung verschiedene Rollen. Die diese Rollen ausfüllenden Individuen sind mit moralischen Fragen darüber konfrontiert, wie sie sich zu diesen Rollen verhalten sollen: Ob sie all die mit ihnen verbundenen Gebote akzeptieren oder sich von ihnen abwenden sollen, sofern sich herausstellt, dass diese Rollen mit den eigenen moralischen Überzeugungen nicht kompatibel sind. Organisationale Rollen können moralisches Handeln sowohl untergraben als auch fördern. Ich werde die Idee des »transformativen Handelns« entwickeln, um das Handeln von Individuen zu beschreiben, die moralische Überzeugungen in Organisationen hineintragen, insbesondere in Organisationen, die in moralischen Graubereichen operieren.

Das System zurückerobern

Подняться наверх