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3.2. Die Allgegenwärtigkeit der Moral

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Das von mir in diesem Abschnitt verteidigte Prinzip mag in seiner abstrakten Formulierung wenig kontrovers erscheinen: Es gibt keine sozialen Kontexte, die außerhalb des Bereichs der Moral liegen würden oder in denen moralische Normen keine Geltung hätten. Samuel Scheffler nennt dies die »Allgegenwärtigkeit« der Moral: »Keine menschliche Handlung ist prinzipiell vor einer moralischen Bewertung gefeit (obwohl selbstverständlich die ein oder andere bekannte entschuldigende Bedingung gelten mag)«.6 Wie er hinzufügt, folgt daraus nicht, dass die Moral immer »übergeordnet«, also andere Erwägungen übertrumpfend, oder »strikt«, d. h. »unabhängig vom jeweiligen Anwendungsbereich höchst fordernd«, sei.7 Unter günstigen Umständen lässt die Moral den Akteuren »innerhalb weiter Grenzen« große Freiheit.8 Diese Grenzen sind jedoch von entscheidender Bedeutung: Sie bestehen gemäß der »Allgegenwärtigkeitsthese« unabhängig vom sozialen Kontext, in dem sich eine Person befindet.

Wenn es um individuelle Handlungen geht, insbesondere solche mit bösartigen Absichten, ist dieses Prinzip intuitiv plausibel. Keinerlei kontextuelle Faktoren können dafür sorgen, dass ein heimtückischer Mord auf irgendeine Weise moralisch nicht »zählen« würde. Es mag zwar extreme Umstände geben, unter denen Handlungen, die wir in anderen Fällen als moralisch falsch betrachten würden, gerechtfertigt sind; typischerweise würde ein Verbot dieser Handlungen einen zu hohen Preis im Hinblick auf andere moralische Werte bedeuten. Aber zu sagen, dass moralische Bewertungen sich in Abhängigkeit von den Umständen ändern könnten, ist etwas anderes, als die Behauptung, dass manche Handlungen jenseits einer moralischen Bewertung liegen würden! Viele moralisch falsche Handlungen bleiben falsch, egal in welchem sozialen Kontext sie stattfinden; andere aus reinem Sadismus zu schädigen ist falsch, sei es innerhalb der Familie, am Arbeitsplatz, im Krieg, in der Politik, etc. Trotz ihrer praktischen Relevanz sind solche Fälle aus einer theoretischen Perspektive in gewissem Sinne uninteressant – das moralische Unrecht ist aus der Perspektive jeder Theorie offensichtlich und unstrittig.

Die »Allgegenwärtigkeitsthese« ist weniger offensichtlich korrekt und umstrittener, wenn es um Fälle geht, in denen die Verletzung moralischer Normen nicht aufgrund intendierten Fehlverhaltens passiert, sondern aufgrund eines Zusammentreffens von Faktoren wie kontextuellen Zwängen, Nachlässigkeit, schuldhafter Unwissenheit oder unverantwortlichem Gruppenverhalten – wenn wir also nicht unmittelbar auf einen »bösen« Akteur zeigen können, sondern uns erst darum bemühen müssen, die Komplexität der Situation zu verstehen, bevor wir sie normativ analysieren können.9 Wie bereits in der Einführung erwähnt, könnte für manche sozialen Kontexte behauptet werden, dass moralisch problematische Resultate aus »systemischen« Kräften, statt aus moralischem Fehlverhalten resultieren würden. Genau an dieser Stelle besteht die »Allgegenwärtigkeitsthese« darauf, dass, solange diese Strukturen von Menschen gemacht und veränderbar sind, wir nicht aufhören sollten, sie aus einer moralischen Perspektive zu bewerten. Der Punkt bei einer solchen Bewertung ist nicht nur, die Schuld oder Bestrafung für vergangenes Fehlverhalten zu verteilen; von noch größerem theoretischen und praktischen Interesse ist, wie solche Strukturen verändert werden könnten, sodass die Verletzung moralischer Normen zukünftig verhindert werden kann.10

Widerstand gegen diesen Ansatz könnte sich von einem bestimmten Verständnis der Theorien funktionaler Differenzierung her regen – einem Verständnis, das ich letztlich als Missverständnis charakterisieren würde. Theorien der funktionalen Differenzierung heben hervor, dass unterschiedliche Institutionen oder soziale Sphären unterschiedlichen Logiken folgen, wie beispielsweise in Habermas’ bekannter Unterscheidung zwischen den Logiken »der Lebenswelt« und »des Systems«.11 Im »System« geschieht Koordination nichtintentional und nichtkommunikativ, wie bei der indirekten Verhaltenskoordination von Märkten durch Preise.12 Aufgrund der Steuerung durch »systemische Mechanismen« scheint »das System« keinen Raum für moralisches Handeln oder überhaupt irgendeine Form intentionalen Handelns zu lassen. Einer bestimmten Lesart folgend würde die Formulierung moralischer Fragen hinsichtlich der Funktionsweise des »Systems« dann ein fehlgeleitetes Unterfangen darstellen – Moral scheint in ihm keinen Platz zu haben.

Ich möchte mich an dieser Stelle nicht in exegetische Auseinandersetzungen begeben, aber mir scheint eine solch extreme Lesart den Theorien der funktionalen Differenzierung gegenüber wenig wohlwollend. Zum einen erkennen sie für gewöhnlich die Rolle des Rechtssystems innerhalb einer Gesellschaft an, das zahlreiche grundlegende moralische Normen in positives Recht übersetzt und den Logiken verschiedener sozialer Sphären zugrunde liegt. Darüber hinaus können wir weiterhin moralische Fragen über »das System« oder andere soziale Sphären stellen – erst, wenn wir sie beantworten, müssen wir mitunter bestimmte Herausforderungen in Betracht ziehen, denen wir in »der Lebenswelt« keine Relevanz zuschreiben würden. Diese Position ist kompatibel mit der Ansicht, dass es oberhalb eines durch grundlegende moralische Normen definierten Schwellenwerts – den ich in Kürze detaillierter besprechen werde – unterschiedliche Gebote, moralische wie nicht-moralische, geben kann, die spezifisch für verschiedene Lebensbereiche gelten. Diese Gebote können beispielsweise verschiedenen Arten sozialer Beziehungen oder unterschiedlichen Rollen, die wir in den jeweiligen Sphären innehaben, entspringen.

Tatsächlich handelt es sich bei der Annahme, dass unsere Gesellschaften in bloß zwei Arten von Sphären mit zwei fundamental unterschiedlichen Koordinationsformen aufgeteilt wären, um eine dramatische Simplifizierung. Gibt es nicht vielmehr unzählige soziale Sphären mit je eigenen Zwängen und Herausforderungen, die wiederum eine Rolle dabei spielen können, wie wir moralische oder unmoralische Handlungen bewerten, die in oder zwischen diesen Sphären stattfinden? Keine dieser Sphären aber ist derart, dass wir nicht moralische Fragen sowohl hinsichtlich individuellen Verhaltens in ihr als auch ihrer strukturellen Eigenschaften stellen könnten. »Das System« löscht moralische Verantwortung nicht aus; weder Marktzwänge noch die Instruktionen des eigenen Chefs, weder familiäre Erwartungen noch religiöse Traditionen verwandeln Individuen in bloße »Rädchen«.13 Dies gilt, da, wie Seumas Miller es ausgedrückt hat, »soziale Institutionen durch Menschen konstituiert und belebt werden und Menschen an sich moralische Akteure sind.«14

Diese Position ist kompatibel mit der Ansicht, dass es innerhalb des Geltungsbereichs der Moral unterschiedliche soziale Sphären geben kann, die jeweils unterschiedliche, ihre sozialen Beziehungen regulierende »Logiken« besitzen. Sie ist auch damit kompatibel, eine gewisse institutionelle »Arbeitsteilung« anzuerkennen, wenn es darum geht, unterschiedliche moralische Gebote zu erfüllen. So wird beispielsweise in einem gut funktionierenden Sozialstaat die Verantwortung für die Versorgung von wohnungslosen Personen durch spezifische Institutionen mit spezialisierten Mitarbeiterinnen getragen. Erledigen diese Institutionen ihre Aufgabe gut, müssen andere Institutionen, wie beispielsweise Wirtschaftsunternehmen, ihre moralische Energie nicht auf die Versorgung Wohnungsloser verwenden; vielmehr müssen sie sicherstellen, dass sie andere, für sie direkt geltende moralische Verantwortungen erfüllen: Ihre Steuern zu zahlen und vielleicht gelegentlich an Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. Je mehr jedoch das öffentliche Sozialsystem ausgedünnt wird, desto mehr fallen Fragen hinsichtlich der Verantwortung für bedürftige Individuen auf andere Institutionen zurück, darunter auch Wirtschaftsunternehmen.

Allerdings gibt es bestimmte moralische Normen, die durch kein Individuum und keine Institution verletzt werden dürfen. In diesem Sinne können manche moralischen Normen schlichtweg nicht an andere Institutionen »outgesourced« werden, beispielsweise das Gebot, andere Individuen als moralisch gleichwertig zu respektieren.15 In anderen Fällen müssen für die Erfüllung moralischer Verpflichtungen das lokale Wissen und die lokalen Beiträge zahlreicher Individuen und Institutionen mobilisiert werden, weshalb sie nicht durch eine spezialisierte Institution alleine erfüllt werden können. Unsere soziale Welt, so differenziert sie auch sein mag, ist von bestimmten Normen durchdrungen, die unabhängig von derjenigen Sphäre gelten, in der wir uns befinden.

Tatsächlich sehen wir die Allgegenwärtigkeit dieser grundlegenden, die Grenzen der sozialen Sphären überschreitenden moralischen Normen manchmal wahrscheinlich schlicht deshalb nicht, weil wir sie für selbstverständlich halten. Viele konkrete moralische Fragen gehen über diese grundlegenden Normen hinaus und betreffen eher die Bestimmung der für die jeweils unterschiedlichen Sphären geltenden moralischen Normen; ist es beispielsweise moralisch gerechtfertigt, sich als Kollegin auf andere Art zu verhalten, als es für eine Freundin geboten wäre? Zu welchem Grad befreit die institutionelle Arbeitsteilung eine Person in manchen sozialen Sphären von bestimmten moralischen Verpflichtungen? Was, wenn bestimmte Individuen oder Institutionen ihren Beitrag zur institutionellen Arbeitsteilung nicht leisten – müssen dann andere für sie einspringen? Wichtig dabei ist jedoch, dass solche Reflexionen nicht von der Annahme ausgehen, dass manche sozialen Sphären jenseits des Geltungsbereichs der Moral liegen würden, sondern vielmehr von der Annahme geleitet werden, dass wir gewisse Unterschiede hinsichtlich dessen anerkennen sollten, was in unterschiedlichen sozialen Sphären moralisch angemessen ist. Personen, die bezüglich der Antworten auf solche Fragen uneins sind, können sich zumindest darauf einigen, dass manche moralische Normen von solch grundlegender Art sind, dass sie in keiner sozialen Sphäre verletzt werden sollten und tatsächlich besteht eine solche Einigkeit auch oft.

Wird die »Allgegenwärtigkeitsthese« akzeptiert, besteht eine entscheidende Frage darin, welche moralischen Normen über alle sozialen Sphären hinweg und welche speziell für bestimmte Sphären oder bestimmte soziale Beziehungen gelten, sodass durch diese spezifischeren Normen nur diejenigen verpflichtet werden, die sich in diesen Sphären und Beziehungen befinden. Im Folgenden werde ich für eine Reihe allgemeiner, aber grundlegender moralischer Normen argumentieren, die in meinen Augen für die meisten, wenn nicht gar alle, sozialen Sphären gelten – und in jedem Fall für die Sphäre der Organisationen.

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