Читать книгу EHEC-Alarm - Lothar Beutin - Страница 5

Dein Leben kannst du nur alleine bewältigen, ohne die anderen geht es nicht.

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Als man sie bemerkte, war sie schon längst da. Eine Epidemie ist immer schon da, bevor man von ihr Kenntnis nimmt. Es dauerte seine Zeit, bis die zuständigen Stellen in der Gesundheitsüberwachung bemerkten, dass die Zahl der Infektionen mit EHEC-Bakterien über das sonst übliche Maß anstieg. Dazu trug auch die schlechte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Behörden bei, die sich gegenseitig ihre Zuständigkeiten streitig machten. Aber auch Scheu vor Verantwortung, Bequemlichkeit, Ignoranz und Profilneurosen in manchen Führungsetagen taten ihr Übriges, um eine Zusammenarbeit zu behindern.

Ab einem bestimmten Pegelstand bei der Zahl der Neuerkrankungen hielten die Dämme der persönlichen Befindlichkeiten und der Abgrenzungen zwischen den Institutionen nicht mehr stand. Nachdem in der an der Elbe gelegenen Kreisstadt Brunsbüttel die Fälle von akutem Nierenversagen unerklärlich zugenommen hatten, lichtete sich der Dunst in den Betonköpfen, der die Störung der alltäglichen Geschäfte nicht freiwillig zuließ. Die EHEC-Epidemie tauchte in ihren Konturen aus dem Nebel auf und von da an überschlugen sich die Ereignisse.

Die Epidemie kümmerte das nicht, sie fand einfach statt. Wie man sich auch zu ihr stellte, man wurde mitgerissen, wie von einer Flut, die sich nicht darum schert, was ihr in den Weg kommt. Am Morgen des 29. April 2011 hatte Leo Schneider es schwarz auf weiß auf seinem Bildschirm. Eine E-Mail aus dem Richard Pfeiffer Institut mit der lapidaren Meldung über eine ungewöhnliche Häufung von Patienten mit Nierenversagen im Landkreis Dithmarschen. Zuerst dachte Schneider an einen Zusammenhang zwischen den Erkrankten. Das war nur logisch. Es kam öfter vor, dass sich mehrere Restaurantgäste auf einen Schlag mit Krankheitserregern infizierten, wenn das Essen mit Bakterien verseucht war. In den meisten Fällen waren es Salmonellen. Seltener waren es EHEC, aber dann verliefen die Erkrankungen viel dramatischer. Die übelste Komplikation bei EHEC-Infektionen war eine Form des Nierenversagens, die als HUS bezeichnet wurde. Von HUS war die Rede gewesen in der Meldung des RPI. Für Schneider bedeutete HUS, dass sein Labor und er gefordert waren.

EHEC stand für enterohämorrhagische Kolibakterien. Ein paar Hundert dieser Bakterien in einer Mahlzeit reichten schon aus, um blutigen Durchfall oder HUS hervorzurufen. Meist blieb es bei wenigen Erkrankungen, wenn der Ausbruch sich auf eine Familie, einen Kindergarten, ein Altenheim, oder ein Restaurant begrenzte. Die mit EHEC verseuchten Lebensmittel hatte man in der Regel schnell identifiziert und aus dem Verkehr gezogen. Damit blieb der Ausbruch auf das unmittelbare Ereignis beschränkt. Aber dieses Mal sah es nicht so aus. Nachdem im Laufe des Vormittags mehr Informationen zu den HUS-Fällen in Brunsbüttel eintrudelten, wurde klar, dass es sich nicht um ein isoliertes Geschehen handelte. Es gab mehrere Ausbruchsnester in der Stadt und im Landkreis Dithmarschen, zwischen denen kein erkennbarer Zusammenhang bestand.

Schneider griff zum Telefon und rief Karsten Seiboldt an, den Leiter des Brunsbütteler Lebensmitteluntersuchungsamtes. Seiboldt war freundlich, blieb in der Sache aber vage. Es sei noch zu früh, um über mögliche Ursachen zu spekulieren, man müsse abwarten. Hilfe wollte Seiboldt nicht, meinte nur, das sei zu früh und zu diesem Zeitpunkt nicht nötig. Außerdem hätte er in der Sache schon Kontakte zur Arbeitsgruppe von Professor Puster am Exzellenzinstitut in Kiel aufgenommen.

Er weiß mehr, als er sagt, dachte Schneider. Aus Seiboldts Stimme spürte er den Druck, der auf ihn lastete. Möglich, dass er das nächste Mal gar nicht mehr zu sprechen sein würde, wenn Schneider anrief.

Bei dem Namen Puster kamen Schneider Erinnerungen. Als Schneider noch am Institut für experimentelle Infektiologie (IEI) geforscht hatte, musste er Puster mit seinen Äußerungen auf die Füße getreten sein. Puster schien es nicht zu tolerieren, wenn andere in Deutschland unabhängig von ihm auf dem gleichen Gebiet arbeiteten.

„Den Schneider werde ich wissenschaftlich fertigmachen“, hatte Puster damals einem Kollegen gesteckt, der die Botschaft an Schneider weitergab. Dazu kam es jedoch nicht mehr, denn bevor Pusters Bestrebungen wirksam wurden, hatte der Direktor des IEI, Professor Krantz, schon reinen Tisch gemacht und Schneiders Forschungen auf Abwehr gegen Bioterrorismus umgestellt. Schneider musste sein Arbeitsgebiet wechseln, und schlug sich von da an mit Giftstoffen wie Rizin und Botox herum, bis er dem IEI endgültig den Rücken kehrte. Ein gutes Jahr lang hatte er seine Verbindung zur Wissenschaft gekappt, um mit seiner Frau Louisa monatelang durch die Welt zu ziehen. In dieser Zeit lebten sie eher bescheiden von dem, was sie erspart hatten und was Louisa als Übersetzerin verdiente. Nachdem Leo Schneiders Wissen für die Geheimdienste und das Militär uninteressant geworden war, hatte sich das unsichtbare Netz, das sich um ihn und seine Frau zusammengezogen hatte, in Luft aufgelöst. Seitdem waren fast drei Jahre vergangen.

Irgendwann hatte er sich wieder mit der Idee angefreundet, in seinem alten Beruf als Mikrobiologe zu arbeiten. Jetzt war er gerade achtundvierzig geworden und hatte es sich an seiner neuer Arbeitsstelle mit wenig Illusionen, was seine berufliche Zukunft betraf, eingerichtet. Es war das ehemals staatliche, inzwischen in eine Stiftung umgewandelte, Institut für Lebensmittelkontrolle und Hygiene. Das ILH, wie es allgemein abgekürzt wurde, hatte zur Aufgabe, sich um spezielle Fragen zur Lebensmittelsicherheit zu kümmern.

Das ILH lag im Norden Berlins, im Bezirk Reinickendorf. Eine große Anlage mit mehreren Gebäudekomplexen, die größtenteils aus den 1960er Jahren stammten. Die wirklich große Forschung, wie Schneider sie früher einmal kennengelernt hatte, war am ILH nicht möglich. Dafür sorgten die Beschränkungen einer gut zementierten Bürokratie und die Vorgesetzten, die noch aus dem alten Beamtenapparat stammten. Diese Leute spürten, wie mit der Umwandlung des ILH in eine Stiftung ihre Zeit ablief, und hatten nur ein Ziel, keinen der neu eingestellten Mitarbeiter hochkommen zu lassen. Jeder innovative Ansatz wurde von diesen Leuten als Abweichung von den Aufgaben des Institutes gebrandmarkt und unterdrückt. Die ehemals gültigen, gesetzlich festgelegten Aufgaben des ILH dienten immer noch als Begründung für eine Fülle von Vorschriften, welche die Beantragung einer simplen Forschungsarbeit zu einem Kräfte verzehrenden Marsch durch das Dickicht der Dienstwege mutieren ließ.

Das Ganze lief unter dem Stichwort Abstimmung. Das klang vordergründig nach Absprache, Beteiligung und Demokratie, aber in Wirklichkeit war Stagnation das Wort, welches diese Situation am besten beschrieb. Ein Motivationsaushöhlungsprozess, der sich durch alle Bereiche des Institutes wie zäher Kleister zog. Mit der Folge, dass viele am ILH nur noch daran interessiert waren, ihre Arbeit zu einer Routine schrumpfen zu lassen, welche die Zeit zwischen den Pausen ausfüllte. Neue Ideen und Veränderungen störten dabei nur. Als Schneider das am Anfang nicht einsehen wollte, sah er sich bald einem wachsenden Widerstand gegenüber, der von seinen Vorgesetzten noch bestärkt wurde.

Schließlich hatte er das System, nach dem es am ILH lief, verstanden. Durch strikte Auslegung von immer neuen Vorschriften war es möglich, die Arbeitsabläufe so zu verlangsamen, dass schlichte Bequemlichkeit sich als korrektes Einhalten von Verwaltungsabläufen darstellte. Schneiders anfängliche Bestrebungen wurden schwächer, bis zu einem Grad, wo er die Abläufe nicht mehr störte und noch geduldet wurde. Diese Ebene bewahrte ihm noch eine gewisse Handlungsfreiheit, sich um Dinge, die er selbst für notwendig hielt, kümmern zu können. Es war nicht so wichtig, was er gerade tat, solange er nicht an den Eckpfeilern der Hierarchie und der Verwaltungsabläufe rührte.

Karsten Seiboldts immer ungeduldiger klingende Stimme schreckte Leo Schneider aus seinen Gedanken auf. Es war klar, dass Seiboldt nichts weiter über die Epidemie herauslassen wollte. Nach den immer drängenderen Fragen von Schneider beendete Seiboldt schließlich das Gespräch mit dem Satz: „Ich schicke dir eine Mail, sobald ich mehr weiß.“ Leo Schneider wusste, er würde von dieser Seite auch in Zukunft nichts Neues mehr erfahren.

***

Es war einfach gewesen, fast zu einfach. Alles, was er brauchte, passte auf einen halben Quadratmeter eines gewöhnlichen Labortisches. Ein Styroporgefäß mit ein wenig gestoßenem Eis, um das Ganze kühl zu halten. Im Eis halb eingebettet ein Plastikständer mit leeren Reaktionsgefäßen und den konisch zulaufenden Röhrchen, die mit den notwendigen Reagenzien gefüllt waren. Einige Pipettierschritte, eine Wärmebehandlung, danach eine Fällungsreaktion bei -20 °C. Jeder halbwegs begabte Biologiestudent im Hauptsemester hätte diese Arbeiten machen können.

Den Bakterienstamm für sein Experiment hatte er vor fünfzehn Jahren von einer Kollegin bekommen. Sie arbeitete als Ärztin in Zentralafrika und wusste, dass er sich gerne mit ungewöhnlichen Mikroben beschäftigte. Dieses kleine Biest hier war ein Kolibakterium, isoliert aus dem Stuhl eines HIV-Patienten, der im städtischen Krankenhaus in Bangui verstorben war. Seine Kollegin hatte ihm geschrieben, dass der Mann an einer langwierigen, schwer therapierbaren Durchfallerkrankung gelitten hatte. Sie hatte den E. coli Keim aufgehoben, weil er ihr ungewöhnlich erschien und hoffte, er würde etwas an ihm finden, was die langwierige Durchfallerkrankung erklären konnte.

Er war damals noch jung gewesen, nahm neue Herausforderungen gerne an und hatte sich mit diesem Bakterium eine Zeit lang beschäftigt. Damals waren die technischen Möglichkeiten beschränkter gewesen. Trotzdem hatte er etwas herausgefunden. Es war die Eigenschaft dieser Mikrobe, sich hartnäckig an das menschliche Darmgewebe anzuheften. Hatte man sie erst einmal in den Eingeweiden, wurde man sie so schnell nicht wieder los. Damit war klar, warum seine Kollegin den Afrikaner mit seiner Immunschwäche nicht hatte retten können.

Er schrieb ihr, er hätte etwas Neues entdeckt, aber bald stellte sich heraus, dass solche Bakterien schon früher beschrieben worden waren. Daher gab er weitere Arbeiten an dem Keim auf, um sich aktuell dringlicheren Projekten zu widmen.

Diese Entscheidung hatte sich gelohnt, denn er wurde mit seinen Forschungen über Bakterien, die Giftstoffe bilden, sehr bekannt. Ein Abschnitt seiner wissenschaftlichen Laufbahn war von Erfolgen aus diesen Arbeiten gekrönt. Dementsprechend wurden seine Forschungsarbeiten bald großzügig gefördert. Aber diese Hochphase hielt nicht für immer an. Es gab Neider und Intrigen. Konkurrenten holten auf, machten ihm den Erfolg streitig und hatten ebenso gute Ideen und Mitarbeiter wie er.

Als die finanzielle Unterstützung seiner Forschungsarbeiten nachließ und ihr völliges Ausbleiben zu einer realen Gefahr wurde, war ihm dieser afrikanische Keim wieder eingefallen. Mit den Kenntnissen, die er sich über Gift bildende Bakterien erworben hatte, erschien ihm nur folgerichtig, was er tun musste. Er musste dem afrikanischen Bakterium, das sich im menschlichen Darm so innig ansiedelte, nur eine weitere Eigenschaft verleihen. Die Eigenschaft bestimmte Giftstoffe zu bilden, Shigatoxine, die den menschlichen Organismus angriffen und zu Nierenversagen führten.

Ein solches Bakterium hatte es vorher noch nicht gegeben. Vermutlich war es um ein Vielfaches gefährlicher als seine Stammväter, aus denen er es zusammensetzen wollte. Ein Killerbug. So nannte man einen Krankheitserreger, der durch genetische Veränderungen noch aggressiver geworden war. Das Auftreten eines solchen Killerbakteriums würde nicht unbemerkt bleiben und die Gesundheitsbehörden in Alarm versetzen. Dem Ersten, der den Killerbug erkannte und ihn erfolgreich bekämpfen konnte, waren wissenschaftliche Anerkennung und millionenschwere, finanzielle Förderung so gut wie sicher. In diesem Fall würde er der Erste sein.

Die Kontrollexperimente zeigten, dass seine Manipulation geklappt hatte. Die Mikrobe hatte die Eigenschaft, Shigatoxine zu bilden, angenommen. Nachdem er mit der Laborarbeit fertig war, setzte er sich für einen Moment und sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Es spiegelte wieder, wie er sich in diesem Moment fühlte. Er war einfach genial. Für diesen Augenblick konnte er mit sich zufrieden sein. Andere in seiner Position gaben sich nur damit ab, sich Versuche auszudenken, die sie selbst nicht realisieren konnten. Er aber konnte alle Experimente, die er geplant hatte, auch selbst durchführen. Seine Leidenschaft zum Laborhandwerk hatte er nie völlig verloren. Eben das war es, was ihn als einen genialen Wissenschaftler auszeichnete.

Nachdem er seinen Killerbug konstruiert und auf einem Nährboden zum Wachsen gebracht hatte, war der erste Schritt getan. Die Prüfung, ob seine Kreatur die Shigatoxin Gene angenommen hatte, war erfolgreich verlaufen. Nun wurde die Sache schwieriger, denn mit Experimenten im Reagenzglas war es nicht mehr getan. Er musste prüfen, ob sein Konstrukt in der Lage war, bei Menschen ernste Erkrankungen hervorzurufen. Das afrikanische Kolibakterium war eng an den menschlichen Wirt angepasst. Mit Tierversuchen war es also nicht getan. Nach Lage der Dinge musste es ein menschliches Versuchskaninchen sein.

Also blieb nur noch eine Lösung.

Sein Versuchskaninchen musste ahnungslos sein. Der Zufall würde entscheiden, wer an diesem Versuch teilnahm. Eigentlich war das genauso wie im täglichen Leben. Man ging irgendwo in ein Restaurant und zufällig erwischte es einen, Salmonellen oder noch etwas Schlimmeres. Gingen die Leute deswegen nicht mehr Essen? Keineswegs, die vollen Restaurants bewiesen das Gegenteil.

Er brauchte nicht zu wissen, wen der Zufall für sein Experiment ausgewählt hatte. Nur die Kontrolle über seinen Probanden und dessen Entwicklung musste er behalten. Nur so konnte er beurteilen, welches Potenzial sein Killerbug hatte. Das war alles.

Er hatte sein Experiment beendet, das Eis in den Ausguss geschüttet und ging zum Waschbecken, um sich seine Hände zu desinfizieren. „Eigentlich doch fair, oder?“, sagte er laut zu seinem Konterfei, das im Spiegel über dem Handwaschbecken zu sehen war. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, als hätte er einen Gesprächspartner, der gerade sein Einverständnis signalisiert. Der Zufall würde entscheiden. Genauso wie in der Natur und er war nur ein Teil davon. Seine Konkurrenten und die Neider würden das Nachsehen haben und die Fördergelder würden wieder fließen.

***

EHEC-Alarm

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