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Kiel, 21. 3. 2011

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Jörg war an diesem Montag achtundvierzig Jahre alt geworden und er ließ es sich nicht nehmen, mit seiner Arbeitsgruppe ausgiebig zu feiern. Wie immer gab er sich besondere Mühe, seinen Leuten, deren Arbeitstage gewöhnlich Überlänge hatten, an seinem Geburtstag etwas Besonderes zu bieten. Am Vormittag wurde noch emsig gearbeitet, ab Mittag gab es im Seminarraum ein reichhaltiges Büfett mit exquisiten Delikatessen. Für den Abend hatte er alle zum Besuch eines Musicals im Stadttheater eingeladen. Tanz der Vampire stand auf dem Programm. Seine Arbeitsgruppe zählte neunzehn Köpfe, zehn Studenten, sechs technische Assistentinnen und drei Wissenschaftler. Die Studenten rissen sich darum, bei ihm ihre Examensarbeiten durchführen zu können und so konnte er sich aus jedem Semester die besten Leute aussuchen.

Mit Jörg, dessen plötzliche Stimmungsschwankungen gefürchtet waren, hatte Harald bisher nicht viel zu tun gehabt. Haralds Arbeit wurde von Jörgs rechter Hand, dem frisch promovierten Alexander Curtius betreut. Alexander war nur ein paar Jahre älter als Harald und hatte seine Doktorarbeit an einer amerikanischen Eliteuniversität, Harvard oder Princeton, Harald wusste es nicht so genau, mit Auszeichnung abgeschlossen. Jörg hatte Alexander auf einem Kongress in Boston kennengelernt und ihn prompt eine Stelle in seiner Arbeitsgruppe angeboten. Von Alexander, der selbst noch praktisch im Labor arbeitete, konnte Harald eine Menge lernen.

Trotz der Vorteile für seine berufliche Karriere empfand Harald den Alltag im Labor als eine Härte. Ein Arbeitstag von durchschnittlich zehn Stunden, am Wochenende wurde auch gearbeitet. Für das Gehalt einer halben Wissenschaftlerstelle musste man sich auf eine harte 60-Stundenwoche einstellen, aber trotzdem fanden sich genügend gute Leute, für die das kein Hindernis war. Schließlich lernte man hier viel und allein die Tatsache, bei Jörg Puster gearbeitet zu haben, war ein gutes Sprungbrett für die eigene Karriere.

Jörg nutzte sein Revier, um ausgiebig zu wildern. Wenn ihm eine der Studentinnen gefiel, machte er ihr irgendwann ein ziemlich direktes Angebot, mit ihm ins Bett zu gehen. Die, die Nein sagten, waren die Ausnahme, wenn er zu später Stunde im Labor auftauchte und fragte, ob sie für heute Abend schon etwas vorhätte. Manch eine fühlte sich danach als etwas Besseres und das führte häufiger zu Reibungen innerhalb der Arbeitsgruppe. Nachdem Jörg das mitbekommen hatte, hielt er sich mehr an Frauen, die kurz vor ihrem Examen standen und sehr auf ihn angewiesen waren. Die hielten vor den anderen auch den Mund darüber, was Jörgs Launen und seine Bettkünste betraf. Arbeit ging schließlich vor Sex. Mit dem Effekt, dass Frauen, die nicht sein Typ waren, es leichter hatten, ihre Arbeit erfolgreich abzuschließen.

Einer von beiden, Jörg oder Alexander, war fast immer im Labor anzutreffen. Jörg tauchte gerne zu den unmöglichsten Zeiten auf. Er genoss es, wenn, wie er sagte, der Laden brummte, die Arbeitsplätze rund um die Uhr und sieben Tage die Woche besetzt waren. Die Arbeit machte Harald auch Spaß, es war das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, das ihm seine Existenz als fremdbestimmt erscheinen ließ. Für die wenige Zeit, die ihm nach der Arbeit noch verblieb, suchte er nach Möglichkeit ein wenig Abwechslung.

Der dritte Wissenschaftler in der Gruppe, Marko Brant, war der ganze Gegensatz zu Alexander. Er wurde von den anderen gemieden und galt allgemein als fünftes Rad am Wagen. Ein introvertierter Eigenbrötler, der stundenlang allein im Labor vor sich hin werkelte. Wie manche meinten, kompensierte er auf diese Weise seine Probleme mit dem anderen Geschlecht. Marko war schon am Institut gewesen, bevor Jörg kam. Damals hatte Marko beste Aussichten gehabt, selbst Gruppenleiter zu werden. Er hatte mit ungewöhnlichen Ideen auf sich aufmerksam gemacht und mit seinen Experimenten internationale Beachtung gefunden. Eine Affäre um angeblich gefälschte Daten in der Arbeit seiner Doktorandin, die nie richtig aufgeklärt, zum Skandal hochkochte, versetzte Markos Karriere einen Knick. Mit dem Ergebnis, dass von da an seine Forschungen weniger gefördert wurden und er keine Studentinnen mehr ausbilden wollte. Marko war der Dienstälteste in der Arbeitsgruppe und betreute einen Studenten, Holger Prerow, der ihn in seiner Introvertiertheit noch übertraf.

Schon kurze Zeit, nachdem Jörg im Institut aufgetaucht war, begann Markos Abstieg. Man munkelte, dass Jörg mit seinen Beziehungen zum Präsidenten den intelligenten, aber sozial inkompetenten, Marko ausgebootet hatte. Jörg avancierte bald zum Gruppenleiter und wurde Markos Vorgesetzter. Marko blieb trotzdem in der Gruppe, aber das Verhältnis zwischen ihm und Jörg war von Misstrauen und gegenseitiger Abneigung gekennzeichnet.

Jörgs Geburtstagsfeier war wirklich gelungen. Alle waren begeistert und hatten Spaß daran, sich in einem anderen, nicht von der Arbeit bestimmten Rahmen, zu treffen. Die Idee mit dem Musical, als kulturelles Highlight, fanden alle toll. Zumindest sagten sie so. Marko hatte sich nach dem Sturm auf das Büffet in sein Arbeitszimmer verkrümelt. Er hätte noch zu tun und keine Lust seine Zeit unproduktiv zu verschwenden. Holger, sein Student, fand ebenfalls einen Grund, um nicht mit ins Theater zu müssen. Jeder wusste, dass Marko es schwer ertragen konnte, wie das Alphatier Jörg in der Gruppe brillierte. Aber Jörg war das schon lange egal. Marko Brant war als Person und als Wissenschaftler für ihn zu einer Belanglosigkeit geworden, die seine Kreise nicht mehr stören konnte.

Kurz bevor sie den Seminarraum, wo das Büfett angerichtet war, verließen, um ins Stadttheater zu gehen, sah sich Jörg noch einmal um. Er grunzte zufrieden, als er sah, dass alles so gut wie abgeräumt war. Ein dreigängiges Mittagsmenü, danach Kaffee und Petit Fours vom besten Konditor der Stadt. Die Party war ein Erfolg gewesen. Jörg war zufrieden und führte seine Gruppe vor das Portal des Institutes, wo schon fünf Taxen warteten, um alle zum Stadttheater zu bringen.

Später, als Harald mit den anderen aus dem Theater kam, schätzte er sich glücklich, einen Platz in Jörgs Arbeitsgruppe ergattert zu haben. Für einen Studenten der Biologie in Kiel war es das große Los. Auch wenn die Arbeit im Labor keine leichte Zeit für ihn war, besonders neben Ines, die ihn in allem immer übertraf.

Haralds Tage, Wochen und schließlich Monate im Labor waren ihm wie ein Einerlei aus den immer gleichen Abläufen erschienen. Wenn er auf die drei vergangenen Monate zurückblickte, konnte er sich nicht mehr erinnern, ob er dieses oder jenes vor drei Tagen, einer Woche oder vor einem Monat gemacht hatte. Dazu ähnelten sich die Tage mit ihren ewig gleichen Versuchsabläufen im Labor zu sehr.

Aber vor Kurzem hatte sich etwas Grundlegendes in Haralds Alltag geändert. Eine Frau war in seinem Leben aufgetaucht. Eine Frau, die den geordneten Ablauf zwischen Pipettieren, Essen und Schlafen durcheinander gerüttelt und ihn damit aus dem Konzept gebrachte hatte. Er hatte Marie eines Abends in der pequeño cantina, einer kleinen Bar unweit von seiner Wohnung in der Ringstraße kennengelernt. In diese Pinte ging er manchmal nach der Arbeit, wenn er nicht zu müde war, um gleich ins Bett zu fallen. José war Spanier und Betreiber der kleinen Bar. Er hielt seinen Laden auch noch spät abends geöffnet, wenn die Kneipen im Umkreis längst die Schotten dichtgemacht hatten.

An diesem Samstagabend hatte Marie dort auf einem Barhocker gesessen und Harald stand zufällig neben ihr, um ein Bier zu bestellen. Sie hatte ihn angeschaut und gelächelt, er hatte spontan zwei Biere bestellt und sie eingeladen. Marie wirkte so entspannt und natürlich, ganz anders als die Frauen, die er aus dem Institut kannte. Die schienen ständig unter Strom zu stehen. Bei denen wusste man nie, ob sie nicht mitten im Gespräch durch Gedanken an ihre Arbeit abgelenkt wurden, und die Hoffnung auf tiefere Kontakte sich in hektischem Wegrennen zur Bench, wie man den Laborarbeitsplatz nannte, zerstob. Marie war anders. Sie trug ihre halblangen, blonden Haare offen, schminkte sich kaum, besaß eine lebendige Ausstrahlung. Ihr Gesicht und ihre Haut waren von einer Frische, wie er es bei seinen Institutsbekanntschaften nie gesehen hatte.

Marie hätte ebenso wie er studieren können, es aber nicht gewollt und sich ihr Leben anders eingerichtet. Als sie sich das zweite Mal trafen, erzählte ihm Marie von ihrer Arbeit auf einem Bauernhof in der Nähe der Stadt. Nicht irgendein Bauernhof, ein ökologisch wirtschaftender Betrieb war das. Sie würde dort zwar nicht viel verdienen, aber mit ihrer Arbeit etwas Positives für die Menschen und die Erde bewirken. Für Harald war das eine andere Welt. So ein Leben hätte er nicht einmal in Gedanken in Erwägung gezogen.

„Wir sind eine tolle Gemeinschaft auf dem Hof“, hatte Marie erzählt. „Wir leben und arbeiten zusammen, ohne uns gegenseitig Konkurrenz zu machen. Das würde dir gefallen, es ist ganz anders als bei euch.“

Das hatte sie ihm geantwortet, nachdem Harald ihr vom Alltag im Labor, dem Konkurrenzgerangel in der Gruppe, vom Rennen um Forschungsgelder, Anerkennung, Vertragsverlängerung und Gunst der Chefs erzählt hatte. Von zehn Studenten durften höchstens zwei nach ihren Abschlüssen weiter in der Gruppe bleiben. Diese Aussicht schuf ein Klima des gegenseitigen Belauerns und Misstrauens. Als Marie das hörte, hatte sie nur ihren Kopf geschüttelt und ihn angelächelt. So etwas schien sie gar nicht zu kennen, dachte Harald und merkte, wie neidisch und ungläubig er sie dabei angesehen haben musste.

Als Harald zwei Jahre alt war, war seine Familie nach Angola gezogen. Sein Vater hatte dort als Ingenieur eine lukrative Beschäftigung für drei Jahre bei einer Kupfermine gefunden. Harald konnte sich an diese Zeit kaum erinnern. Danach kehrte seine Familie ins Ruhrgebiet zurück. Einige Jahre hatten sie dann auf dem Land in der Nähe von Dortmund gewohnt. Eine Zeit, die Harald als öde in Erinnerung geblieben war. Marie nahm das Leben in ländlicher Umgebung ganz anders wahr. Nachdem, was sie erzählte, schienen die Leute auf dem Hof aber glücklicher zu sein als jene, die er in seinem Umfeld bisher kennengelernt hatte.

Als sie das erste Mal miteinander schliefen, kannten sie sich seit drei Wochen. Es hatte sich spontan ergeben. Marie war am Samstagabend zu ihm mitgekommen, nachdem es zu spät geworden war, um noch mit dem Bus vom Bahnhof zurück zum Hof zu fahren. Harald hatte kein Auto, nicht einmal ein Fahrrad. Er wohnte nur knapp zwei Kilometer vom Institut entfernt und erledigte die meisten Wege zu Fuß. Also ging Marie mit zu ihm, und als es spät genug geworden war, um ins Bett zu gehen, war es für beide die natürlichste Sache von der Welt. Für eine Weile wurden sie eins miteinander und vergaßen die Zeit.

Nachdem sie beide ihre Körper entdeckt und danach viel zu aufgekratzt waren, um einschlafen zu können, hatte Harald viel von seiner Arbeit erzählt. Als er dann damit rausrückte, er müsse morgen früh ins Labor, fiel Marie aus allen Wolken. Selbst auf dem Hof, wo die Arbeitszeit sich an den Bedürfnissen von Mensch und Natur orientierte, war der Sonntag, bis auf das absolut Notwendigste, arbeitsfrei.

Im Exzellenzinstitut war das anders. Es war üblich, dass alle aus Jörgs Gruppe auch sonntags wenigstens für ein paar Stunden im Labor tätig waren. Er musste mitmachen, wenn er seine Chance wahren wollte, in der Gruppe zu bleiben. Die meisten aus der Arbeitsgruppe hatten keine privaten Beziehungen außerhalb des Institutes und waren froh, den Sonntag nicht allein verbringen zu müssen.

Halb mit Bewunderung, halb angewidert hatte er das erzählt, fand Marie. Als sie ihm das auf den Kopf zusagte, widersprach Harald nicht.

So trafen sie sich weiter nur an den Wochenenden. Sie gingen in die pequeno cantina, ins Kino und manchmal übernachtete Marie bei ihm. Jedes Mal war sie von Neuem enttäuscht, dass er am Sonntag arbeiten ging und kaum Zeit für sie hatte. Das verstärkte ihre Neugier auf diese, ihr fremde Welt, die Harald wie eine böse Fee im Bann hielt. Vielleicht war sie auch eifersüchtig, ob es dort nicht eine andere Frau gab, die Harald ihr verschwieg.

EHEC-Alarm

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