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Kiel, im März 2011

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Harald stand einen knappen Meter neben Ines an einem der langen Arbeitstische in einem der Laborräume, die zu Jörg Pusters Projektgruppe gehörten. Jeder hatte etwa einen Meter Arbeitsfläche, die mit Pipetten, Spitzen, Reagenzgefäßen und den paar Kleingeräten für die täglichen Versuche bestückt war. Ines und er waren erst vor drei Monaten nach einem harten Auswahlverfahren in Jörgs Arbeitsgruppe aufgenommen worden, was beide als große Chance und Auszeichnung betrachteten. Außer Harald und Ines gab es noch acht weitere Studenten in der Arbeitsgruppe. Alle ehrgeizig, auf ihr vorgegebenes Forschungsziel gerichtet und alle wussten nur das Nötigste darüber, was ihre Kommilitonen, die einen Meter entfernt neben ihnen arbeiteten, genau machten. Gerüchte kursierten, der Chef würde auf ein neues Projekt immer zwei Studenten ansetzen, ohne dass sie davon wussten. Nur einer der beiden würde nach drei Monaten weitermachen dürfen.

Zu Beginn ihrer Labortätigkeit blickten die Studenten kaum über den Tellerrand ihrer eigenen Projekte und konnten nicht erkennen, wer von den anderen ihr Konkurrent war. Sie machten auch nicht dieselben Versuche, das wäre zu durchsichtig gewesen. Aber viele Wege führen nach Rom und viele Versuchsansätze können dazu dienen, um dieselbe Fragestellung zu bearbeiten. Irgendwann würden die Studenten das wissen, aber dann war es für einen von ihnen bereits zu spät.

Ines Waldmann hatte ihre langen, braunen Haare zum Arbeiten hochgesteckt. Es fehlt bloß noch, dass sie eine Chirurgenhaube trägt, dachte Harald. Sie trug einen Kittel mit Rückenschluss, der ihre Körperformen vorteilhaft betonte und der, wie sie sagte, mehr Sicherheit gäbe, als die ewig halb offenen Vorderschlusskittel, mit denen ihre männlichen Kollegen herumliefen. Damit riskierten sie nur ihre Kleidung, oder noch schlimmer, ihre Haut mit winzigen Tröpfchen, die beim Pipettieren manchmal entstanden, zu bespritzen. Unsichtbare Spritzer von Bakterien konnten schon ausreichen, um sich anzustecken, wenn man unvorsichtig war. Harald blickte Ines verstohlen von der Seite an. Sie arbeitete so konzentriert, dass sie ihn kaum wahrnahm, zumindest schien es ihm so. Anfangs hatte er gedacht, sie würde sich vielleicht für ihn interessieren, aber das hatte sich bald als Irrtum herausgestellt, als er versuchte, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. Auf diesem Ohr hörte Ines nicht, sie hatte nur ein Ziel, erfolgreich zu sein, und die Zeit in Jörgs Arbeitsgruppe betrachtete sie nur als ein Sprungbrett für ihre weitere Karriere.

Harald bewunderte die Zielstrebigkeit, mit der Ines und die meisten der Studenten ihre Arbeit verrichteten. Auch er hatte sein Projekt und ein Ziel, das sich eigentlich nicht von dem der anderen unterschied. Auch er suchte den Erfolg. Aber Harald fehlte der letzte Biss, der den von der Forschung Besessenen ausmacht. Er ließ sich leichter von privaten Dingen ablenken, im Gegensatz zu Menschen wie Ines, die ihm wie aus einem Guss gemacht schienen.

Als es kurz vor neunzehn Uhr war, hängte Harald seine Pipetten in das Drehkarussell, das vor ihm auf dem Labortisch stand. Er entleerte die Styroporbox mit dem inzwischen zu Wasser geschmolzenen Eis, auf dem er seine Versuchsansätze pipettiert hatte, in das Waschbecken und stellte die Gasflamme des Bunsenbrenners aus. Als er sich umdrehte, um seinen Kittel auszuziehen, bemerkte er, wie Ines ihn kurz mit einem abschätzenden Blick streifte. Sie fuhr fort, ihre Ansätze in die kleinen Plastikröhrchen, die Tubes genannt wurden, zu pipettieren.

„Tschüss“, sagte Ines, bevor Harald den Mund aufmachen konnte.

Er hängte seinen Kittel an einen Haken neben der Labortür und verließ den Raum mit einem gemurmelten Satz, der wie eine Entschuldigung klang, weil er um diese Zeit schon nach Hause ging. Wenn er morgen früh zur Arbeit erschien, war Ines wahrscheinlich schon da und man konnte ihr nicht ansehen, ob sie etwa die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. So etwas war in Jörgs Gruppe durchaus üblich. In den Seminarräumen standen für solche Zwecke aus Privatwohnungen ausgemusterte Sofas, auf die man sich bei Nachtschichten zu Pausen hinlegen konnte. Harald verließ das Labor. Auf dem Flur, gerade als die Tür hinter ihm zuklappte, kam ihm ausgerechnet Jörg entgegen.

„Na Harald, schon fertig für heute?“, näselte er. Harald konnte nicht einschätzen, ob diese Frage nur Small Talk war, oder ob der lauernde Unterton Jörgs Erstaunen ausdrückte, Harald um diese Zeit schon gehen zu sehen.

„Äh, ich hab noch einen Termin wegen meiner Wohnung“, hörte Harald sich reden, nachdem er vorher seinen Chef mit einem unsicheren „Hallo“ begrüßt hatte. Harald lief wie auf Eiern weiter den Flur entlang, als befürchtete er, jemanden zu wecken. Seine Worte hatten nicht sehr überzeugend geklungen. Das nächste Mal, wenn Jörg ihn um diese Zeit schon gehen sah, musste er sich etwas Überzeugenderes einfallen lassen.

Nachdem Harald die Pforte des Instituts hinter sich gelassen hatte, verflog die Müdigkeit, die sich in dem neonbeleuchteten Labor nach ein paar Stunden Arbeit immer einstellte, augenblicklich. Seine Schritte führten ihn auf eine ungerichtete Wanderung durch die Straßen der Landeshauptstadt Kiel, an deren Universität er sein Biologiestudium absolviert hatte, um danach mit seiner Doktorarbeit am Exzellenzinstitut in der Arbeitsgruppe von Jörg zu beginnen. Er war unschlüssig, ob er noch irgendwo ein Bier trinken oder gleich nach Hause gehen sollte. Der Weg, den er einschlug, führte ihn vom Institut in die Ringstraße, wo er wohnte. Eine billige Wohnung in einem Viertel der einfachen Wohnlage, gesäumt von roten Backsteinhäusern, das Studenten, Lebenskünstler und Migranten anzog. Harald lief an dem Haus, in dem er wohnte, vorbei. Er wollte den Tag nicht schon jetzt in seinen vier Wänden beenden. Seine Schritte führten ihn weiter entlang zum Bahnhof, vor dem die roten Busse der Kieler Verkehrsgesellschaft standen. Harald lief quer durch den Bahnhof, kreuzte die Kaistraße und ging dann weiter entlang den Anlegestellen des Ostsee- und Skandinavienkais. Ein frischer Wind vom Meer blies ihm ins Gesicht. Kneipen gab es an dieser Ecke nicht und seine ursprüngliche Idee, ein Bier trinken zu gehen, hatte sich mit dem kalten Wind verflüchtigt. Was Harald auf seinem Weg durch die Straßen begleitete, war ein unbestimmtes Gefühl, nicht recht zu wissen, woran er eigentlich war und was er in seinem Leben anfangen wollte.

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