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Basisinformation: Messiasgläubige aus den Völkern und ihre Identität

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In 1,24 nennt Paulus Messiasgläubige aus den Völkern in der korinthischen Gemeinde Hellenes und unterscheidet sie von Messiasgläubigen im jüdischen Volk. Der in älterer Literatur gebrauchte Ausdruck „Heidenchristen“ ist ungeeignet wegen des abwertenden Sinnes des Wortes Heiden, der weder dem jüdischen Sprachgebrauch (gojim, ethne) noch dem des Paulus entspricht. Das Wort „christlich“ ist für diese Zeit noch nicht anwendbar, wie auch das Folgende zeigt.

Die Messiasgläubigen aus den Völkern werden durch die Berufung des Gottes Israels nicht zu Juden und Jüdinnen. In ethnischer Hinsicht (denn so sind die Begriffe Joudaioi und Hellenes in 1 Kor 1,22–24 zu deuten) ändert sich an ihrer Identität nichts. Streng genommen ist jedoch auch der Kult Teil der ethnischen Identität. Ihren Kult haben sie jedoch geändert. Offensichtlich ist es kein Anliegen des Paulus, über Identitätsfragen genau nachzudenken. Die Schwierigkeit und Ungenauigkeit, die der Begriff Hellenes (s. zu 1,22–24) enthält, kann nicht aufgelöst werden. Es kann sein, dass diese Menschen weder griechischen noch römischen Völkern entstammen. Sie leben in Korinth und partizipieren an der dort herrschenden Kultur, Sprache und den imperialen Kulten.87 Der Brief des Paulus nimmt auf Kulte und Kultmahlzeiten in Tempeln Bezug (8,10)88 und auf Lebensmittel, die Gottheiten geweiht sind und auf dem Markt verkauft werden (s. 10,25 und die Kapitel 8–10 insgesamt). In 8,4–6 erwähnt Paulus eine Vielzahl von Gottheiten, die allerdings nicht mit der Einzigkeit des Gottes Israels vereinbar sind. Zum Konflikt musste diese Einzigkeit Gottes dann führen, wenn Messiasgläubige aus den Völkern ihre Loyalität mit dem römischen Imperium zeigen sollten. Die Kultstätten auf dem Forum Korinths und die Spiele und Schauspiele in Korinth dürften die Orte gewesen sein, die für Messiasgläubige aus den Völkern die Möglichkeit von Konflikten mit römischen Loyalitätserwartungen mit sich brachten.89 In dieser Hinsicht waren sie in derselben Situation wie Juden und Jüdinnen, die in Korinth lebten.

Was lässt sich über die Identität der Messiasgläubigen aus den Völkern im Verhältnis zum jüdischen Volk sagen? Wir haben zur Beantwortung dieser Frage fast nur die Perspektive des Paulus zur Verfügung. Nur in 5,1–13 nämlich wird ansatzweise eine unterschiedliche Sicht der Gemeindevollversammlung sichtbar. Die Gemeinde legt die Schrift in der Frage des Zusammenlebens eines Mannes mit seiner Stiefmutter anders als Paulus aus (s. zu 5,1–13). Dass die Schrift / die Tora (s. nomos 7,19) des jüdischen Volkes Grundlage der Lebensgestaltung aller Messiasgläubigen ist, zeigt sich in 1 Kor durchweg (s. zu 7,19). Paulus kann bei seinen Adressatinnen und Adressaten detaillierte Schriftkenntnisse voraussetzen, wie z. B. Kapitel 10 zeigt. Obwohl viele Leute in der Gemeinde nicht gebildet sind (1,26; s. auch schon oben zu 1,4–9), sind sie geübt, an der aktuellen Schriftauslegung aktiv teilzunehmen.90 Sie praktizieren jüdisch, leben nach der Tora, werden aber nicht als Jüdinnen und Juden verstanden, weder von sich selbst noch von jüdischen Menschen. Auch für sie und ihresgleichen wurde erst der Fiscus Judaicus nach 70 n. Chr. zur Notwendigkeit, sich in der Frage der jüdischen Identität römischen Behörden gegenüber zu erklären.

Die Einzigkeit des Gottes Israels (8,4–6) im Sinne des „Höre Israel / Sch’ma Israel“ gilt für sie ebenso wie für jüdische Menschen. In Kapitel 8–10 diskutiert Paulus halachische Konsequenzen der Einzigkeit Gottes für den korinthischen Alltag. Dieser Alltag ist durch Kulte definiert, die Israel fremd sind. Auch die Herkunftsreligionen sind jetzt für die Messiasgläubigen fremde Kulte, an denen teilzuhaben ihnen nicht mehr möglich ist. Die paulinische Halacha / Auslegung in diesen Fragen bewegt sich im Rahmen der Halacha des zeitgenössischen Judentums. Aus 7,19 geht hervor, dass Paulus es als Selbstverständlichkeit ansieht, dass die Messiasgläubigen aus den Völkern die Tora uneingeschränkt einhalten, auch wenn er ebenso selbstverständlich annimmt, dass die Männer nicht beschnitten werden – im Unterschied zu Juden. Er rechnet dabei nicht mit einer eingeschränkten Tora für die Völker (s. zu 7,19). Es wird vielmehr deutlich, dass bestimmte Seiten jüdischer Lebenspraxis das jüdische Volk als ethnos kennzeichnen und deshalb von Menschen, die einem anderen ethnos angehören, nicht praktiziert werden, vor allem der Tempelkult in Jerusalem (10,18) und die Beschneidung. Es ist zu vermuten, dass alle übrigen Aspekte jüdischen Lebens nach der Tora, sofern sie nicht im Paulustext auftauchen, auch zur Lebenspraxis der nichtjüdischen Messiasleute in Korinth gehören: Sabbat, Speisevorschriften u.a. In Kapitel 8–10 diskutiert Paulus den Umgang mit fremden Gottheiten und nicht Speisevorschriften, wie oft angenommen wird. Die Tempelsteuer scheint nicht gezahlt zu werden, aber die Sammlung für Jerusalem (16,1–4) wird als Ausdruck der Beziehung zu Jerusalem und damit zu Israel verstanden.91 Die Beziehung zu Israel wird von Paulus als Adoption durch Gott gedeutet92 oder auch als Hinzukommen oder Hinwenden zum Gott Israels (Apg 14,15; 15,19).

Die Messiasgläubigen aus den Völkern verpflichten sich also auf die Einzigkeit des Gottes Israels (8,4–6) und auf das Halten der ganzen Tora (7,19). Israels Vorfahren werden auch zu ihren Vorfahren (10,1) – doch sie gehören weiterhin einem anderen ethnos an.

Aus der Perspektive von außen werden sie später christianoi bzw. christiani genannt.93 Diese Bezeichnung bedeutet, dass sie von außen als jüdisch-messianische Gruppe verstanden werden, wie es schon vorher und neben ihnen auch andere im Judentum gab. Als solche werden sie auch von Rom verfolgt, denn es gibt eine kontinuierliche Politik römischen Misstrauens gegen jüdischen Messianismus.94 Das Wort christianoi bzw. christiani sollte in Texten des ersten und beginnenden 2. Jahrhunderts mit „Messiasanhängerschaft“ übersetzt werden. Das Wort christlich impliziert eine Abgrenzung vom Judentum, die es weder von innen noch von außen gab.

Die Frage nach der Identität der Messiasgläubigen in Korinth erlaubt keine einfache Antwort. Menschen aus nichtjüdischen Völkern leben jüdisch und binden sich uneingeschränkt an den Gott Israels. Die Frage nach ihrer Identität im Sinne von inneren und äußeren Behörden hat offensichtlich niemand gestellt. Dazu passt, dass auch die Frage, was eigentlich einen Judaios ausmacht, nicht Gegenstand von Definitionen war, sondern wenn sie überhaupt gestellt wurde, durch Aufzählungen von Aspekten der Lebenspraxis beantwortet wurde.95

Im Blick auf die spätere christliche Geschichtsschreibung, auch über die Gemeinde in Korinth, ist klar festzustellen: Die von christlicher Seite später betriebene Abgrenzung von Judentum wird zwar oft schon in die Zeit des 1. Jahrhunderts hineinprojiziert, aber dieses Geschichtsbild ist falsch. Eine Abgrenzung vom Judentum gab es weder bei den Messiasleuten aus den Völkern noch wurde ihnen gegenüber eine Abgrenzung durch jüdische Mitglieder der Synagoge, die den Messias Jesus ablehnten, betrieben. Auch von römischer Seite waren beide Gruppen demselben gesellschaftlichen Druck und politischen Misstrauen ausgesetzt. Die Trennungspolitik war dann im 2. Jahrhundert das Werk einiger „Kirchenväter“.96

Erst für den fiscus Judaicus nach der jüdischen Niederlage gegen Rom im Jahre 70 n. Chr. haben römische Behörden das Interesse gehabt, genau zu wissen, wer jüdisch ist und wer nicht.97 In diesem Zusammenhang tauchen auch kurze Beschreibungen von Leuten auf, die auf Messiasgläubige aus den Völkern passen könnten: „inprofessi Judaicam viverent vitam / Leute, welche, ohne sich zum Judentum zu bekennen, nach jüdischem Ritus lebten“;98 Cassius Dio berichtet von zwei Verwandten des Kaisers, die wegen Atheismus verurteilt wurden und schließt dann eine allgemeine Notiz an über „alloi es ta tou Joudaion ethe exokellontes / andere, die sich in jüdische Lebensformen hineintreiben ließen“.99 Auch wenn nicht genau zu erschließen ist, ob es sich um Messiasgläubige aus den Völkern handelt oder um andere Leute aus den Völkern, die mit dem Judentum sympathisieren, sind diese Notizen für 1 Kor interessant. Sie zeigen, wie der Blick von außen auf solche Gruppen aussieht.

Shaye Cohen (1999, 140–174) hat sechs heuristische Kategorien für die „Beginnings of Jewishness“ / Anfänge des Jüdischseins aufgelistet (z. B. die Macht des jüdischen Gottes anerkennen oder / und einige oder mehrere jüdische Rituale praktizieren). Sie zeigen, wie wir uns den Weg von Menschen aus den Völkern vorstellen können, die in irgendeiner Weise jüdisch lebten ohne jüdisch zu sein. Es waren unorganisierte, undefinierte und dezentrale Prozesse. Der Befund für die korinthische Gemeinde fügt diesem Bild nur eine Variante hinzu, eine Variante unter vielen, die aber insgesamt ins Bild passt.

Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth

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