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2,6–16

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6 Wir reden dennoch von Weisheit, Weisheit unter den Vollkommenen. Dies ist aber eine Weisheit, die nicht von dieser Welt abhängt und auch nicht von den Herrschenden dieser Welt. Sie sind dabei, ihre Macht zu verlieren. 7 Wir reden von göttlicher Weisheit, im Geheimnis verborgen, die Gott vor aller Zeit bereitet hat, um uns an der göttlichen Gegenwart teilhaben zu lassen. 8 Niemand von den Herrschenden dieser Welt hat sie erkannt. Denn wenn sie die Weisheit erkannt hätten, hätten sie den Repräsentanten der göttlichen Gegenwart nicht gekreuzigt. 9 Vielmehr ist es gekommen, wie es geschrieben steht: Was kein Auge sah und kein Ohr hörte und was in keines Menschen Herz hinaufstieg, das hat Gott denen, die sie lieben, bereitet. 10 Uns hat es Gott durch die Geistkraft enthüllt. Die Geistkraft ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes. 11 Welche Menschen können andere Menschen verstehen, wenn nicht Menschengeist in ihnen ist? So versteht auch niemand Gott ohne Gottes Geistkraft. 12 Wir haben nicht den Geist der Welt erhalten, sondern die Geistkraft, die von Gott kommt, damit wir verstehen, was Gott uns geschenkt hat. 13 Diese Erfahrung geben wir weiter, nicht in der gelehrten Sprache menschlicher Weisheit, sondern in der Sprache, die die Geistkraft lehrt. Den Menschen, die von der Geistkraft erfüllt sind, öffnen wir die Geschenke der Geistkraft. 14 Menschen, die einfach vor sich hin leben, nehmen das Geschenk der göttlichen Geistkraft nicht an, weil sie das für unklug halten. Sie können das Geschenk nicht erfassen, denn es kann nur mit Hilfe der Geistkraft zur Wirkung kommen. 15 Die von der Geistkraft Erfüllten aber befragen alles, ihr göttlicher Geist jedoch kann von keinem Menschen bewertet werden. 16 Denn: Wer hat die Gedanken der Ewigen erkannt, wer will sie belehren? Wir haben Gedanken der Ewigen.

Dieser Abschnitt ist oft als Fremdkörper innerhalb des Briefes empfunden worden. Ursachen dafür waren vor allem die Vorstellung von den Vollkommenen (teleioi) in 2,6 als widersprüchlich zu 3,1–4 und die Sprache insgesamt. Es finden sich Parallelen zu dieser Sprache in der jüdischen Weisheit, der Gnosis und in hellenistischen Kulten.131 Ich setze hier jedoch folgende Entscheidungen bereits voraus: Der Text stammt von Paulus, und es ist nicht hilfreich anzunehmen, dass er eine Auseinandersetzung mit Gegnern führt (s. zu 1,10). Das „Wir“ des Textes ist von zentraler inhaltlicher Bedeutung. Es bezieht sich auf die Gemeinde als Körper / Leib Christi (s. o. Basisinformation nach 2,5). Das „Wir“ bezieht sich nicht exklusiv auf besonders qualifizierte Verkündiger oder auf eine Gruppe innerhalb der Gemeinde, die sich als durch Gottes Offenbarung herausgehoben ansieht. Paulus spricht in diesem Abschnitt von einer überwältigenden Glückserfahrung der „Wir“, der Gemeinde.

Adolf Deissmann 1925 (1911), 86, schrieb zu Recht von 2,6–16, diese Sätze seien eine von Paulus’ „größten Konfessionen“. Sie müssten „der Ausgangspunkt sein, wenn man ein großes Verständnis des Paulus gewinnen will“.

2,6 2,6 Die Glückserfahrung im Leib Christi werden zur Sprache gebracht (2,6.7.13). Das Wort lalein umfasst nicht nur das rationale zwischenmenschliche Sprechen, sondern auch das Lallen der Kinder, Musik, Geschwätz und die Sprache der Tiere.132 1 Kor 12–14, die drei Kapitel über Erfahrungen mit dem pneuma, der Geistkraft Gottes, können als Kommentar zu 2,6–16 gelesen werden. Paulus kritisiert in 1 Kor 14 zwar chaotische Gottesdienste, nicht aber das glossolalein grundsätzlich, das geistgewirkte Reden in vielen Muttersprachen (s. Basisinformation zu 14,1). In 14,15 wird im Detail klarer, was er hier in 2,6–16 mit der geistgewirkten Sprache (lalein) meint: Mit dem Herzen133 und dem Verstand beten und singen, d. h. mit pneuma und nous. Es gibt z. B. Lieder und Gebete in der Muttersprache, die für andere unverständlich sind (14,14). Im Deutschen können wir dazu sagen: Sie kommen aus tiefstem Herzen; Paulus sagt dazu „beten mit dem pneuma“. Er will dieses Beten und Singen nicht trennen oder gar ausspielen gegen ein Beten und Singen in der Verkehrssprache. Beides ist wichtig. Das lalein in 2,6 bezieht sich nicht nur auf das sich mitteilende Sprechen, sondern auch auf Beten aus tiefstem Herzen und auf Singen. Auch das Singen in der „Sprache der Engel“ ist Paulus nicht fremd (s. 13,1). Es ist nicht abwegig, auch Visionen in die Erfahrung des lalein einzubeziehen.134 2,6–16 umfasst auch das rationale Sprechen wie besonders 2,16 zeigt, wo Paulus das Wort nous betont.

Um den Reichtum des geistgewirkten lalein (2,6.7.13) zu veranschaulichen, soll ein Text berücksichtigt werden, der traditionell zur Erläuterung des „Redens in Sprachen“ im Sinne von 1 Kor 14 verwendet wird: Das Testament Hiobs. Es ist eine jüdische Schrift aus der römischen Kaiserzeit, die sich nicht genau datieren lässt. In dieser Schrift werden Offenbarungserfahrungen narrativ beschrieben. Hiob spricht mit seinen drei Töchtern am Ende seines Lebens und vermacht ihnen drei Gürtel, die Gott ihm geschenkt hatte, als er in großer Not war. Er hatte sie umgelegt, und sofort waren alle seine Krankheiten verschwunden:

7 „Und danach war mein Leib gestärkt durch den Herrn, als hätte er überhaupt nichts erlitten. 8 Ja, auch den Schmerz im Herzen vergaß ich. 9 Der Herr aber sprach machtvoll mit mir und tat mir das Vergangene und das Künftige kund. 10 Daher, meine Kinder, jetzt, da ihr diese (Gürtel) besitzt, wird der Feind euch gewiß niemals angreifen, ja, ihr werdet auch nicht seine Gedanken in eurem Herzen haben. 11 Denn (sie) sind ein Schutz vom Vater. Steht nun auf, umgürtet euch (mit ihnen), bevor ich sterbe, damit ihr schauen könnt (die Engel), die zu meiner Seele kommen, damit ihr die Geschöpfe Gottes bewundert.“ XLVIII 1 Also stand die erste (der drei Töchter) Hemera genannt, auf und legte sich ihr Band um, wie der Vater gesagt hatte. 2 Und sie bekam ein anderes Herz, so daß sie nicht mehr an irdische Dinge dachte. 3 Sie redete begeistert in engelhafter Sprache und schickte ein Lied zu Gott empor gleich dem Gesang der Engel.135

Die beiden anderen Töchter Hiobs legen dann ebenso einen Gürtel um und sprechen und singen in der Sprache der Engel. Auch hier sind rationale Sprache und Engelsprache nicht gegeneinander abgegrenzt. Beides gehört zusammen. Hiob gibt seine Offenbarungserfahrung an seine Töchter weiter. Er macht in seiner Rede deutlich, dass die Offenbarung eine Begegnung mit Gott ist, die den Körper heilt und das Innere des Menschen von den Gedanken des Teufels (47,10) oder den irdischen Dingen (48,2) bzw. den Dingen des kosmos (49,1; 50,1) befreit. Auch Paulus benennt sofort diese Befreiung von den Strukturen des kosmos / der Welt in 2,6b.8: Die Offenbarungserfahrungen haben nichts mit der Weisheit dieses Äons und der Archonten / der Herrschenden dieses Äons (dazu s. zu 2,8) zu tun. Positiv bestimmt er den Inhalt der Offenbarung und des lalein, des Redens und Singens darüber, als Weisheit unter den Vollkommenen (2,6, s. dazu auch 14,20). Die Vollkommenheit hat zwei Dimensionen:

1. Wenn Menschen Gott begegnen „von Angesicht zu Angesicht“ (13,12), dann verwandelt sie diese Begegnung zu neuen Geschöpfen. Alles was von Gottes Zukunft ersehnt wird, geschieht schon jetzt – mitten in der vom Tod und der Gewalt der Mächte beherrschten Welt. Die Vollkommenheit ist nicht ein Status von Menschen,136 sondern eine unendlich reiche Erfahrung von Glück und Befreiung. Es ist die unmittelbare Erfahrung der Zuwendung Gottes (2,9; 13,12) zu denen, die ihn lieben.

2. In 2,9 wird die zweite Dimension der Vollkommenheit sichtbar. Die Liebe zu Gott drückt sich im Tun des Willens Gottes aus. Es ist die Tora als der Wille Gottes, als das Vollkommene (Röm 12,2), die Vollkommenheit bewirkt. In der Bergpredigt wird dieser Aspekt ganz entsprechend ausgedrückt: „Seid nun vollkommen wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Die Tora ermöglicht es, Gott nachzuahmen, indem Menschen in ihrem Handeln Gottes Handeln abbilden. Der babylonische Talmud erläutert diesen Aspekt der Vollkommenheit. Es „sagte R. Hama b. R. Hanina: Es heißt (Dtn 13,5): dem Herrn, eurem Gott, sollt ihr folgen; ist es denn einem Menschen möglich, der Göttlichkeit zu folgen, es heißt ja (Dtn 4,24): denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer!? Vielmehr [lehrt dies], dass man den Handlungen des Heiligen, gepriesen sei er, folge. Wie er die Nackten kleidet … so kleide auch du die Nackten. Wie der Heilige … Kranke besucht, so besuche auch du die Kranken“ (bSota 14 a).137

2,7 In 2,7 wird die göttliche Weisheit, die den Vollkommenen in der Gottesbegegnung offenbart wird, die im „Geheimnis Verborgene“ genannt (vgl. 14,2). Der Inhalt der Offenbarung ist das eschatologische Geheimnis im Sinne von 1 Kor 4,1; 13,2; 15,51; vgl. Röm 11,25.33. Das Geheimnis ist Gott selbst und Gottes Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.138 In der Gottesbegegnung wird das Geheimnis Gottes so offenbart, dass sich für die, die sehen oder hören, Wege in die Zukunft öffnen. Die Geheimnisse sind verborgen, aber Gott macht sie denen offenbar, die Gott lieben. Sie erhalten das pneuma, die Geistkraft, die ihnen Augen und Ohren für Gott gibt.

In Röm 11,33–36 findet sich ein inhaltlich verwandter hymnischer Lobpreis Gottes und seiner Verborgenheit. Auch 1 Kor 2,9.10 lässt sich als Lobpreis verstehen. Niemand kann Gott erforschen, Gott selbst gibt sich zu erkennen und gibt die Geistkraft und den Verstand (nous) dazu (2,16). So lässt sich das lalein der Weisheit Gottes mit Röm 11,33 füllen: „Welch’ unermesslicher Reichtum Gottes, welch’ tiefe Weisheit und unerschöpfliche Erkenntnis …“. Das ist Sprache über das Geheimnis Gottes, die sich singen und beten lässt.

Die Weisheit Gottes wird in 2,7b noch ein weiteres Mal als Begegnung mit Gott in zwei geradezu emphatische Gedanken gefasst: Gott hat die Weisheit schon von Ewigkeit her für die Empfangenden bestimmt; sie gibt den Menschen dabei Anteil an Gottes doxa (kabod), am göttlichen Glanz, an Gottes Gegenwart, an Gott selbst;139 vgl. zu 2,8b Röm 8,29.

2,8 2,8 Die Herrschenden dieses Äons, deren Macht schon durch Gott gebrochen wurde (s. 2,6) sind die Behörden und Machthaber, die Jesu Kreuzigung zu verantworten haben (s. o. zu 1,18). Aber diese politisch Herrschenden sind nur die sichtbaren Akteure in einem Netz der Gewalt und Zerstörung, das Paulus und viele Menschen seiner Zeit auch dämonischen Mächten zuschreiben können. Politische Strukturen offenbaren mythische Dimensionen und damit ihre strukturelle Gewalt. Das Wort aion umfasst Zeit und Raum als Machtgefüge, das Gott entgegensteht. Dass die Herrschenden Jesus gekreuzigt haben, zeigt die Gottferne dieser Herrschaftsstrukturen der Gegenwart. Das römische Imperium wird in 2,8 als Gewaltsystem analysiert (s. dazu schon oben Basisinformation „Weisheit dieser Welt“ vor 1,18). Zugleich wird die Grenze sichtbar, die Gott ihm gesetzt hat. Dass der Gekreuzigte kyrios tes doxes genannt wird betont denselben Gedanken wie 1 Kor 8,5–6: Es ist ein Kyrios, der den Herren dieser Welt Grenzen setzt. In ihm ist Gott gegenwärtig (vgl. 2 Kor 4,6).140 Die doxa Gottes qualifiziert diesen kyrios im Unterschied zu allen anderen kyrioi dieser Welt. Der Genitiv ist ein Genitivus qualitatis.141 Dieser kyrios hat als der Auferstandene den Glaubenden die Teilhabe an der göttlichen Gegenwart eröffnet. Auf kyrios tes doxes als Gottesprädikat (vor allem in aeth. Henoch 22,14 u. ö.) ist hier nicht angespielt. Es geht nicht darum, Christus gottheitlich zu qualifizieren.

2,9 In 2,9 zitiert Paulus aus der Schrift, doch dieses Zitat hat sich nicht auffinden lassen.142 2,10a Seine Herkunft ist also unbekannt. Doch es ist von Paulus inhaltlich und sprachlich voll in den Zusammenhang integriert: Der Hauptsatz steht in 2,10a, das Zitat benennt das Objekt göttlicher Offenbarung: Das, was kein Auge gesehen hat …, hat Gott uns … offenbart.

In 2,10b–15 schreibt Paulus eine kleine Abhandlung über das pneuma / die Geistkraft.

2,10b 2,10b: die Geistkraft wird uns von Gott gegeben, um Gott zu begegnen (s. o. 2,7 zu mysterion / Geheimnis).

2,11 2,11 erläutert die geschenkte Gottgleichheit, die das Kennen Gottes möglich macht, durch einen Vergleich mit dem Erkennen von Mensch zu Mensch. 2,12 2,12 stellt den Geist der Welt abgrenzend dem Geist, der von Gott kommt, gegenüber; vgl. die Abgrenzung der Weisheit, die von Gott kommt, von den Herrschenden dieses Äons 2,6.7. Zu den alltagspraktischen Konsequenzen solcher Abgrenzung s. o. Basisinformation „Weisheit dieser Welt“ vor 1,18. 2,12b: Die Geistkraft Gottes macht uns fähig, die Geschenke Gottes wahrzunehmen: Die Befreiung durch den Messias, die das neue Leben als Körper Christimöglich macht.

2,13 2,13 Die Geistkraft ist Lehrerin einer neuen Sprache (s. zu 1,5). Zu dieser neuen Sprache gehört die Fähigkeit, geistgewirktes Sehen, Hören und lalein zu deuten, es in verständliche Sprache oder auch in die aktuelle Situation zu übersetzen. Das Wort sygkrinein, das ich mit „deuten“ übersetze, ist oft als „vergleichen“, „prüfen“ o. ä. übersetzt worden. Man nahm an, dass ekstatische Äußerungen und Prophezeien einer kritischen Prüfung durch Vergleichen unterzogen werden mussten (z. B. „in dem wir Geistliches mit Geistlichem prüfen“143). Zu Recht kritisiert Dautzenberg: „Tatsächlich eine eigenartige Vorstellung. In den paulinischen Gemeinden hätte es schon eine Proto-Inquisition gegeben“.144 Dautzenberg hat ausführliche und mich überzeugende Argumente für die Übersetzung von sygkrinein (und diakrinein / diakrisis in 12,10; 14,29) als „deuten“ vorgetragen.145 Den Dativ plural pneumatikois löse ich im Blick auf 2,14.15 nicht als Neutrum, sondern als androzentrisches Maskulinum auf: Die Deutung richtet sich an „die Menschen, die von der Geistkraft erfüllt sind“.

2,14 2,14 redet von psychikoi. Dieser Begriff hat zur Frage geführt, ob Paulus in seiner Vorstellung von Menschen dualistisch denkt: Die psyche qualifiziere Menschen negativ, erst das pneuma mache sie zu Menschen in Beziehung zu Gott. Doch der „psychische“ Leib ist bei Paulus der von Gott geschaffene Leib / Mensch (s. 1 Kor 15,44.45);146 und der pneumatische Leib / Mensch ist der in ein neues Leben Auferstandene mitten in den Erfahrungen der Gewalt und Erniedrigung des Alltags. „Wenn Paulus von Auferstehung spricht, hat er diese konkreten Körper vor Augen. Diesen geschundenen, verachteten, gequälten Körpern spricht er zu, dass sie wertvoll sind, Tempel der heiligen Geistkraft … (vgl. 1 Kor 6,19)“.147

In 2,14b und 15 verwendet Paulus dreimal das Wort anakrinein. Menschen, die von Gottes Ruf nicht erreicht worden sind (2,14), fehlt das von der Geistkraft bewirkte Urteilsvermögen (anakrinein). Deshalb halten sie die Geistkraft Gottes und die Auferstehung eines Gekreuzigten (s. 1,18) für unklug, für dumm.

2,15 2,15 Von der Geistkraft erfüllte Menschen haben ein besonderes Urteilsvermögen (anakrinein). Sie durchschauen die Herzen der Menschen148 und die Erfahrungen im Alltag. Gottes Geistkraft macht sie fähig, die Verstrickungen anderer und die eigenen Verstrickungen zu erkennen und zu verändern. Das endgültige Urteilen über Menschen aber ist allein Gott überlassen, darum können die von Geistkraft Erfüllten von niemand gerichtet werden (anakrinein), vgl. 4,1–4, auch nicht von anderen Geistmenschen. Das bedeutet nicht, dass Gemeindeglieder sich nicht selbst und gegenseitig kritisieren, denn der Brief ist ein Dokument wechselseitiger Kritik zwischen Paulus und der Gemeinde. Diese Kritik ist vom Urteil Gottes jedoch klar unterschieden. Gottes Urteil setzt der Kritik untereinander Grenzen: Die Geistkraft Gottes in den Mitmenschen ist kein Gegenstand der Kritik und Beurteilung. Doch alle Fragen der Lebensgestaltung sind in gemeinsamer Schriftauslegungsarbeit und gegenseitiger Kritik auszuhandeln.

2,16 2,16 bringt den entscheidenden Gedanken des ganzen Abschnitts, das große Glück, soma Christou zu sein, noch einmal zusammenfassend zur Sprache. Paulus zitiert zunächst Jes 40,13 „Wer hat den Verstand der Ewigen erkannt …?“ Gottes Tiefen (2,10) sind allen Menschen verborgen (vgl. Röm 11,34–35). Die Antwort auf die rhetorische Frage aus Jes 40,13 in 2,16a lautet: niemand. So hat es ja auch das Zitat unbekannter Herkunft 2,9 gesagt: kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört. 2,16b Doch die „Wir“, der Leib Christi, sind durch Gottes Zuwendung (2,12) mit dem größten Glück beschenkt (vgl. 2,10). Als Teile des Leibes Christi sehen wir Gott von Angesicht zu Angesicht (13,12), auch wenn wir in Strukturen der Gewalt von Leiden und Tod umgeben sind. Wir sehen die Gerechtigkeit Gottes, auf die wir hoffen. Wir hören die Selbstoffenbarung Gottes in den Worten der Tora. Ohne Gotteskraft sehen die Menschen nur den Sieg der Gewalt, wenn sie auf den Gekreuzigten und die Gekreuzigten schauen; sie sagen: Es ist unklug, sich auf Solidarität mit Gekreuzigten einzulassen (2,14). Die mit Gottes Geistkraft Begabten sehen, dass der Gekreuzigte von Gott dem Tod entrissen wurde, er ist aufgestanden. Wir sehen und erfahren die Auferstehung aller Toten, auf die wir hoffen. Das alles fasst der triumphierende kurze Schlusssatz zusammen: „Wir haben den Verstand / Gedanken der Ewigen“. Paulus legt hier Wert auf das Wort nous / Verstand / Gedanken (s. auch 14,14.15 und oben zu 2,6). Die Gabe Gottes bringt Augen für die Auferstehung und für Gottes neue Schöpfung, aber auch den kritischen Verstand, der alles erforscht (2,10), auch die eigene Verstrickung in die weltweite Sünde, in die Strukturen des Kosmos (s. o. 2,6.8 und Basisinformation zu „Weisheit dieser Welt“ zu 1,17).

Die Gemeinde ist Ort der Gegenwart Gottes. Der 1. Brief nach Korinth ist von solchen Glückssätzen durchzogen (s. auch Einführung zu 3,1-23).

In Jes 40,13 LXX bezieht sich das Wort kyrios auf Gott. In der paulinischen Antwort steht in einigen griechischen Handschriften: Wir haben Gedanken des Messias. Andere Handschriften schreiben: Gedanken des kyrios. Howard (1977, 80) zeigt überzeugend an zeitgenössischen Texten, dass Menschen wie Paulus das Tetragramm in griechischen Texten noch nicht wie spätere Versionen der Septuaginta durch kyrios ersetzten, sondern das Tetragramm in hebräischen Buchstaben in den griechischen Text einfügten. In Sätzen, die Schriftzitate dann kommentierten, wurden Bezugnahmen auf das Tetragramm mit kyrios vollzogen. Paulus kann hier also in seiner Antwort auf Jes 40,13 kyrios geschrieben haben und Gott (das Tetragramm des Zitates) damit aufgenommen haben. Im 2. Jahrhundert wurde zunehmend das Wort kyrios auf Christus gedeutet. Die Handschriften, die hier Christos statt kyrios schreiben, wollten mehr christologische Eindeutigkeit erreichen: „Wir haben Gedanken des Messias“ – als Antwort auf die Frage: „Wer hat die Gedanken der Ewigen erkannt?“. Es muss Hypothese bleiben, was Paulus anstelle des Tetragramms geschrieben hat. Er benutzt aber kyrios für Jesus / den Messias noch nicht in einem durch dieses Wort auf Gott verweisenden Sinne.149 Es ist wahrscheinlich, dass er in der Antwort (2,16b) auf Gott verweist. Bei der Interpretation des Paulus ist der nachpaulinische Prozess der Christologisierung, der hier sichtbar wird, zu berücksichtigen. Paulus versteht den Messias nicht als gottheitliche Gestalt.

Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth

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