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4,6–13

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Dieser Abschnitt beginnt mit einer abschließenden Argumentation gegen die Profilierungs- und Konkurrenzstrukturen, die Paulus für die Gemeinde als Machtstrukturen der Welt ablehnt (4,6–7). In 4,8–13 stellt er diesen Strukturen ein anderes Bild entgegen: das einer Gemeinde, die mit den Letzten in der Gesellschaft das Schicksal teilt und sich mit ihnen solidarisiert. Diese Letzten sind zu sehen, wenn die feierlichen Prozessionen in den Zirkus oder das Amphitheater einziehen. Da werden Menschen mitgeführt, von denen alle Zuschauenden und die Betroffenen schon wissen, dass ihr Tod zur Volksbelustigung für die kommenden Stunden geplant ist.

4,6 4,6 Die immer wieder in der Auslegungsgeschichte zu findende Behauptung, zwischen Paulus und Apollos habe ein Konkurrenzverhältnis bestanden, hat keinen Anhalt an Paulustexten selbst. Im Blick auf 4,6 ist sie absurd. Er sagt hier, er habe beider Verhältnis als Gegenmodell gegen Konkurrenzen angesehen und dargestellt. „Sich nicht über die Schrift hinwegsetzen“ bezieht sich in diesem Zusammenhang konkret vor allem auf Jer 9,22.23 (s. 1,29–31), da er aus diesem Text das Stichwort kauchasthai / überheblich sein / prahlen mehrfach aufnimmt (1,29.31; 3,21) – so auch in 4,7. Jer 9,22.23 lautet: „… Die Weise rühme sich nicht ihrer Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, die Reichen rühmen sich nicht ihres Reichtums, sondern dessen rühme sich, wer sich rühmt: zu begreifen und mich zu erkennen, dass nämlich ich, Gott, Güte, Recht und Gerechtigkeit auf Erden wirke …“ Dieser Text dient für Paulus als ein roter Faden, der sich durch die Erörterung der Konkurrenzstrukturen zieht: Macht gewinnen Menschen nicht durch Ausspielen ihrer Überlegenheit gegeneinander, sondern dadurch, dass sie gemeinsam aus der Nähe Gottes leben (s. o. zu 1,29–31). Aber Paulus wird hier auch über den Bezug zu Jer 9,22.23 hinaus grundsätzlich: Die Schrift, die gemeinsam auslegt und gelebt wird, ist Quelle und Maßstab des Lernens.174 Daran haben er und Apollos sich gehalten.

4,7 4,7 ist der Schlüssel zur ab 4,8 folgenden Gegenüberstellung von „Ihr“ zu „Wir“. Die „Ihr“ ab 4,8 und das „Du“ in 4,7 gehören zusammen: ein fiktives Gegenüber in der Gemeinde, das sich anderen Gemeindegliedern überlegen sehen möchte und größere Macht als andere für sich in Anspruch nimmt. Nach Meinung des Paulus setzt dieses Verhalten voraus, dass Menschen vergessen, dass die guten Gaben, die sie erhalten haben, von Gott geschenkter Reichtum sind (s. 1,4.5; 2,12). Und sie sehen über die Realität hinweg.

4,8 Deswegen fragt er in 4,8 kritisch: Seid ihr satt? Seid ihr reich? Die Angeredeten wissen, dass sie weder satt noch reich im Sinne ihrer Gesellschaft sind (s. 1,26–28) und dass es viele Menschen neben ihnen gibt, die unter Hunger, Armut und Gewalt leiden. Die Fragen des Paulus sollen ins Bewusstsein rufen, dass jedes Überlegenheitsverhalten (kauchasthai) unrealistisch und unsolidarisch ist. Das „Wir“ in 4,8–12 ist das „Wir“ der Gemeinde, des Leibes Christi (s. dazu oben Basisinformation nach 2,5). Mit „Ihr“ sind nicht Gegner gemeint, sondern einzelne oder kleine Gruppen in der Gemeinde, die sich zu einem Verhalten verleiten lassen, von dem sie sich mehr Sicherheit versprechen als von der Nähe zu einem Gekreuzigten. In einer von Machtkämpfen und Gewalt gestalteten Gesellschaft sucht hier eine Gemeinde einen Weg zu einer Alternative. Und das ist nicht so einfach, weil die Menschen ein solidarisches Zusammenleben noch nicht kennen und die Strukturen der Gesellschaft es behindern. Paulus spottet in 8b: Es wäre nützlich, wenn ihr schon zur Herrschaft gelangt wäret, dann könnten wir mit euch regieren. Realität ist jedoch: Weder ihr noch wir sind an Herrschaft beteiligt, im Gegenteil (s. 1,26–28). Ob man diese Fragen als Ironie oder gar beißende Ironie bezeichnen soll,175 möchte ich bezweifeln. Eher zeigen sie angesichts der Realität absurde Konsequenzen der Konkurrenzkämpfe auf.

4,9 4,9 Paulus setzt nun ein erschreckendes Bild176 gegen alle Versuche, sich an Gewaltstrukturen anzupassen: Wir sind von Gott gesandt als die Letzten in der Gesellschaft. Man kann uns mit den Todgeweihten in den Prozessionen der gewalttätigen Massenveranstaltungen Roms vergleichen und identifizieren. Zunächst zu den Einzelheiten in 4,9a: Hier in 4,9a nennt Paulus die „Wir“: „Apostel und Apostelinnen“. Gott hat uns, die Apostel und Apostelinnen, an den Platz der Letzten der Gesellschaft gesetzt (apedeixen). Hier ist die Vorstellung von Apostolat auf alle bezogen, die von Gott gesandt sind, das Evangelium zu verkünden. Die Boten und Botinnen Gottes, die den Frieden des Gottes Israels für alle Völker der Welt verkünden und ausbreiten,177 hat Gott in der Gesellschaft an den Ort der Letzten gesetzt. Das ist ihre Realität und ihr von Gott bestimmter Ort. Apostolat beinhaltet keine Sonderrolle in der Gemeinde.178 Alle Glieder des Leibes Christi haben eine entsprechende Aufgabe für das Evangelium zu erfüllen. Die Beschreibung des gottgegebenen Ortes der Apostel und Apostelinnen in 4,9–13 passt auf alle korinthischen Gemeindeglieder (s. u.). Er ist zugleich Realität und göttliche Bestimmung. An diesem Ort stehen sie als Gottes Gesandte. Damit absolute Klarheit besteht, was das für ein Ort ist, sagt Paulus: Wir sind „Letzte“ wie „die Todgeweihten“ in den Gewaltspielen.

Das seltene Wort „die Todgeweihten“ (epithanatios)179 bezieht sich auf Menschen, die zum Tode verurteilt sind und deren Hinrichtung Teil der öffentlichen Gewaltinszenierungen ist. In den Massenveranstaltungen in Amphitheatern, Theatern und anderen Großveranstaltungsorten wurde häufig als Höhepunkt der Darbietungen die öffentliche Erniedrigung und Ermordung eines Menschen inszeniert.180 Paulus vergleicht sich und seinesgleichen mit diesen Menschen, wahrlich den „Letzten“ in einer auf diktatorischer Gewalt beruhenden Gesellschaft. Die Todgeweihten sind entweder Kriegsgegner oder wegen irgendwelcher Taten, die aus römischer Sicht Verbrechen sind (s. 15,32), zum Tode Verurteilte. In 4,9b begründet Paulus, warum er diesen Vergleich wählt: Er, seinesgleichen und diese „Letzten“ werden öffentlich erniedrigt und verachtet: Sie sind ein „Schauspiel“ (theatron). Dann benennt er das grauenerregende Publikum: „Die Welt / kosmos, Engel und Menschen“. Er hat das Bild dieses lust- und todesgierigen Publikums von Gewaltspielen vor Augen und sieht mehr als nur eine Menschenansammlung. Er sieht die ganze Welt als mordgierig – und auch mythische Wesen – Engel181 – sind daran beteiligt. In 4,13b kommt Paulus auf dieses Publikum noch einmal zurück.

Gewaltinszenierungen vor Massenpublikum hatten für das römische Reich grundlegende Bedeutung. Sie übten die Gewöhnung an Morde und Erniedrigungen ein: „Die Herren des Kaiserreiches hatten gelernt, sich der einstmals aus religiösen Gründen eingeführten Feste zu bedienen, um desto sicherer die Massen zu beherrschen.“182 Carcopino 1979 weist zudem zu Recht auf die Alibifunktion dieser Spiele bei faktischer Machtlosigkeit der Menschen hin: „In einer Zeit, in der die Volksversammlungen ruhten und der Senat lediglich nachsprach, was ihm aufgetragen war, konnte sich die Volksmeinung nur in der rauschenden Stimmung der munera und ludi äußern.“183 Die Menschen sollten mit den Gladiatoren mitfiebern. „Das Volk verrohte, und seinen Rausch erhöhte der Parteigeist, der Menschen immer erfasst, wenn sie einem öffentlichen Wettkampf beiwohnen. Man ergriff für diesen oder jenen Gladiatoren Partei.“184 Auf diesem Hintergrund wird noch einmal deutlicher, warum Paulus den Konkurrenzkampf innerhalb der Gemeinde kritisiert und die Solidarität mit dem Gekreuzigten und den Gekreuzigten als unvereinbar mit Machtkämpfen ansieht. In Korinth, der römischen Kolonie, waren Gewaltspiele noch häufiger als in anderen Städten und hatten große Relevanz für die Stadtöffentlichkeit.185

Paulus lenkt den Blick in 4,9 (und 4,13) auf die Hinrichtungsopfer und auf das Publikum. Der folgende Text von Seneca (gestorben 65 n. Chr.) setzt sich ebenfalls mit dem Publikum von Gewaltspielen auseinander, wenn auch aus elitärer Distanz. Seneca setzt voraus, dass er sich von derlei Massenansammlungen auch fernhalten kann. Diese Wahlmöglichkeit dürften wenige Menschen für sich gesehen haben. Der öffentliche Druck teilzunehmen und mitzumachen war enorm.186 Seneca beschreibt eine Mittagsveranstaltung, bei der nicht Gladiatoren, sondern zum Tod verurteilte Verbrecher sich gegenseitig umbringen, bis niemand mehr übrig ist. Dieses Morden sei beim Publikum noch beliebter als Gladiatorenkämpfe, sagt Seneca. Er ist in die Mittagsveranstaltung gegangen, weil er dachte, die Morde fänden nur im Vormittags- und Nachmittagsprogramm statt. Über Mittag erwartete er ein heiteres Zwischenprogramm.

..., je größer die Volksmenge ist, unter die wir uns mischen, desto mehr Gefahr besteht. Nichts aber ist so schädlich für einen guten Charakter, wie sich bei irgendeiner Schaustellung niederzulassen: dann nämlich schleichen sich durch Vermittlung des Vergnügens Fehlhaltungen besonders leicht ein. 3 Was, meinst du, sage ich? Habgieriger kehre ich zurück, ehrgeiziger, genußsüchtiger, nein – grausamer und unmenschlicher, weil ich unter Menschen gewesen bin.

Durch Zufall bin ich in das Mittagsprogramm des Zirkus geraten, Scherze erwartend und Witze und etwas Entspannung, womit sich der Menschen Augen vom Menschenblut erholen: das Gegenteil ist der Fall. Was vorher gekämpft worden ist, war Mitleid; nun läßt man die Mätzchen, und es ist der reine Mord: nichts haben sie, sich zu schützen. Dem Hieb mit ganzem Körper ausgesetzt, schlagen sie niemals vergeblich zu. 4 Das ziehen die meisten den regulären Kampfpaaren und sonst beliebten vor. Warum sollten sie es nicht vorziehen? Nicht Helm, nicht Schild weist ab das Schwert. Wozu Finten? All das ist Verzögerung des Todes. Morgens wirft man den Löwen und Bären Menschen vor, mittags ihren Zuschauern. Mörder werden auf deren Befehl künftigen Mördern vorgeworfen, und den Sieger heben sie für einen weiteren

Mord auf; Abschluß ist der Kämpfenden Tod: mit Schwert und Feuer wird die Sache ausgefochten. Das geschieht, bis leer die Arena ist. 5 ‚Aber Straßenraub hat einer verübt, ermordet hat er einen Menschen‘. – Was also? Weil er gemordet hat, hat er verdient, derartiges zu erleiden: du, was hast du Unseliger verdient, derartiges zu sehen? ‚Töte, schlag zu, brenne ihn! Warum läuft er so zimperlich ins Schwert? Warum tötet er nicht tollkühn genug? Warum stirbt er ohne Begeisterung?‘ Mit Peitschenhieben treibt man sie ins Blutbad. ‚Gegenseitige Schwertstreiche sollen sie mit bloßer und sich darbietender Brust hinnehmen.‘ Unterbrochen ist die Vorstellung. ‚Unterdessen sollen erwürgt werden Menschen, damit wenigstens etwas passiert.‘ – […] 6 Entziehen muß man der Masse die zarte und zu wenig am Sittlichen festhaltende Seele: leicht läuft man zur Mehrheit über. Einem Sokrates und Cato und Laelius hätte ihren eigenen Charakter zu zerstören die wesensfremde Masse vermocht:187

Die Perspektive der Opfer lässt sich nur ahnen. Der folgende Text von Apuleius (geboren 125 n. Chr.) stammt aus einem Roman. Er erzählt vom Schicksal eines Mannes, der durch Zauberei in einen Esel verwandelt wird. Trotz der Romanform bietet der Text wertvolle sozialgeschichtliche Informationen. Der Autor gibt hier einen Einblick in die Aufführung eines Gewaltspiels in Korinth. Bei diesem Spiel ist als Höhepunkt der Aufführung die öffentliche Vergewaltigung einer zum Tode verurteilten Frau durch diesen Esel und die anschließende Zerfleischung der Frau durch wilde Tiere geplant. Der Text gibt die Möglichkeit, über die Perspektive der Opfer nachzudenken.188 Der Esel erzählt:

Aber zunächst will ich, was ich schon anfangs hätte tun sollen, euch wenigstens jetzt berichten, wer er und woher er war: Thiasus – so hieß nämlich mein Herr – stammte aus Korinth, der Hauptstadt der ganzen Provinz Achaia. Er hatte, wie seine Abstammung und Würde es forderte, stufenweise die Ämter durchmessen und war nun für das fünfjährige höchste Amt bestimmt worden. Um dem Glanz des Posten zu entsprechen, den er übernehmen sollte, hatte er ein Gladiatorenspiel von dreitägiger Dauer in Aussicht gestellt und suchte in größerem Umfang seine Freigebigkeit zu beweisen. Schließlich war er in seinem Eifer, öffentlich Ehre einzulegen, damals auch nach Thessalien gelangt, um sich edle wilde Tiere und berühmte Gladiatoren von dort zu beschaffen, und, da alles nach Wunsch geordnet und alles gekauft war, rüstete er zur Heimkehr.189

Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth

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