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3. Fachgerichtlicher Rechtsschutz gegen letztinstanzliche Gehörsverletzungen

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Nach der Plenarentscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2003 zählt zu den aus Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. dem Justizgewährungsanspruch abgeleiteten rechtsstaatlichen Mindeststandards, die der Gesetzgeber zu gewährleisten hat, insbesondere die gesetzlich normierte Möglichkeit, gegen letztinstanzliche entscheidungserhebliche Gehörsverletzungen vor den Fachgerichten um Abhilfe nachzusuchen.[177] Dieser Verpflichtung ist der Gesetzgeber mit dem Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004[178] nachgekommen, mit dem der Anwendungsbereich des § 33a StPO – der zuvor auf Fälle des § 33 Abs. 3 StPO beschränkt gewesen war – auf alle Gehörsverletzungen im Beschlussverfahren ausgeweitet wurde und daneben für das Revisionsverfahren eine eigenständige Rügemöglichkeit in § 356a StPO geschaffen wurde. Schon zuvor hatte mit § 311a StPO eine bereichsspezifische Regelung für das Beschwerdeverfahren bestanden, welche die nachträgliche Anhörung des Beschwerdegegners im Rahmen eines Nachverfahrens vorsieht.[179]

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Aus dem Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) ergibt sich für den Beschwerdeführer, dass die Beanstandung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör mit der Verfassungsbeschwerde erst nach der erfolglosen Erhebung einer Anhörungsrüge vor den Fachgerichten möglich ist.[180] Unterlässt der Beschwerdeführer in einem solchen Fall die Erhebung einer Anhörungsrüge, obwohl diese statthaft und nicht offensichtlich unzulässig wäre, so wird die Verfassungsbeschwerde nicht nur in Bezug auf die behauptete Verletzung der Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG, sondern insgesamt unzulässig, sofern die mit der Verfassungsbeschwerde gerügten Grundrechtsverletzungen denselben Streitgegenstand[181] betreffen wie der geltend gemachte Gehörsverstoß.[182] Wird die Rüge einer Gehörsverletzung hingegen weder ausdrücklich noch der Sache nach zum Gegenstand der Verfassungsbeschwerde gemacht oder wird eine zunächst erhobene Rüge einer Gehörsverletzung wieder zurückgenommen, hängt die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde unter dem Gesichtspunkt des Gebots der Rechtswegerschöpfung nicht von der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Anhörungsrügeverfahrens ab.[183] Das BVerfG entnimmt der Regelung des § 90 Abs. 2 BVerfGG allerdings in ständiger Rechtsprechung einen über das Gebot der Rechtswegerschöpfung im engeren Sinn hinausgehenden Subsidiaritätsgrundsatz, der besagt, „dass Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen (müssen), um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen“.[184] In konsequenter Anwendung dieses Subsidiaritätsgrundsatzes kann daher auch einem Beschwerdeführer, der mit seiner Verfassungsbeschwerde keine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör rügen möchte, die Nichterhebung der Anhörungsrüge entgegengehalten werden, wenn bei deren Erfolg die Möglichkeit bestanden hätte, dass die Fachgerichte auch andere (nunmehr mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte) Grundrechtsverletzungen beseitigt hätten.[185] In den in Rede stehenden Fällen soll die Erhebung einer Anhörungsrüge allerdings nach einer neueren Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG nur dann geboten sein, „wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte nahe liegt und zu erwarten wäre, dass vernünftige Verfahrensbeteiligte mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würden“.[186]

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Während unter Subsidiaritätsgesichtspunkten mithin auf die Perspektive eines „vernünftigen Verfahrensbeteiligten“ abzustellen und zu prüfen sein soll, ob die Annahme eines Gehörsverstoßes nahe lag, ist mit Blick auf das Gebot der Rechtswegerschöpfung auch weiterhin zu beachten, dass der Beschwerdeführer nicht auf die Einlegung völlig aussichtsloser bzw. offensichtlich unzulässiger Rechtsbehelfe verwiesen werden kann.[187] Die Kehrseite dieser in der Rechtsprechung des BVerfG seit langem gebräuchlichen Formel[188] liegt darin, dass die Einlegung eines aussichtslosen bzw. offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs nicht fristwahrend im Hinblick auf die einmonatige Frist zur Einlegung der Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) wirkt, wenn der Grund für die fehlende Erfolgsaussicht für den Beschwerdeführer erkennbar war.[189] Die danach erforderliche Beurteilung der Erfolgsaussichten aus der ex ante-Perspektive ist für den Beschwerdeführer mit einigen Schwierigkeiten verbunden; so hat dieser u.a. zu berücksichtigen, dass die Anhörungsrüge nach der neueren bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nur statthaft ist, wenn dem letztinstanzlich entscheidenden Gericht ein originärer Gehörsverstoß und nicht lediglich das Nichtbeheben eines vorinstanzlichen Gehörsverstoßes angelastet wird.[190] Auch darf der verfassungsrechtliche Anspruch, vor Gericht gehört zu werden, nicht mit einem Anspruch, erhört zu werden, verwechselt werden – eine Unterscheidung, die insbesondere juristischen Laien regelmäßig schwer fällt.[191] Als offensichtlich aussichtslos im vorerwähnten Sinn gilt die Anhörungsrüge schließlich auch, wenn der nach Ansicht des Beschwerdeführers übergangene Vortrag bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung, die die angefochtene Entscheidung trägt, offensichtlich nicht rechtlich erheblich war.[192]

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Die höchstrichterliche Rechtsprechung, die bei der Ausdifferenzierung der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Rechtswegerschöpfung und der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes in bedeutendem Maße auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreift, belastet den Beschwerdeführer nach alldem mit dem Risiko einer unzutreffenden Einschätzung der Erfolgsaussichten der Anhörungsrüge; er steht vor dem Dilemma, mit seiner Verfassungsbeschwerde entweder wegen Verfristung oder wegen Subsidiarität abgewiesen zu werden.[193] Im Schrifttum wird als Ausweg ein zweigleisiges Vorgehen dergestalt empfohlen, dass neben der Anhörungsrüge innerhalb der Monatsfrist gem. § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG auch eine Verfassungsbeschwerde erhoben wird, in der auf die noch anhängige Anhörungsrüge verwiesen wird.[194]

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