Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 121
2. Misshandlungsverbot
Оглавление59
Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG verbietet die seelische und körperliche Misshandlung festgehaltener Personen und normiert damit Anforderungen an die Art und Weise des Vollzuges von Freiheitsbeschränkungen, die insbesondere als Konkretisierung der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zu sehen sind.[286] Die Vorschrift stellt eine Reaktion auf den Befund dar, dass vor allem Freiheitsentziehungen das Misshandlungsrisiko erfahrungsgemäß steigern, und zwar auch dann, wenn sie hoheitlich veranlasst sind.[287] Art. 104 Abs. 1 S. 2 gilt vorbehaltlos, d.h. das Misshandlungsverbot ist einer Abwägung mit konfligierenden Interessen nicht zugänglich.[288] Hervorhebung verdient weiter die normative Feststellung, dass der Schutz vor Misshandlungen in Justizvollzugsanstalten nicht geringer ist als außerhalb.[289] Bei Verletzungen, die während des Polizeigewahrsams entstanden sind, trägt nach der Rechtsprechung des EMGR zu Art. 3 Abs. 1 EMRK der Staat die Beweislast dafür, dass sie nicht durch polizeiliche Misshandlung entstanden sind.[290]
60
Von einem „Festhalten“ i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG ist nach zutreffender, am Sinn und Zweck der Norm ausgerichteter Ansicht immer dann auszugehen, wenn der Betroffene der Misshandlung nicht dadurch entgehen kann, dass er sich entfernt, was beispielsweise auch bei einer Vernehmung oder bei einer ein Weggehen verhindernden Einkreisung der Fall sein kann.[291] Als „körperliche Misshandlung“ wird in Anlehnung an das zu § 223 StGB entwickelte Begriffsverständnis jede üble und unangemessene Behandlung angesehen, welche das körperliche Wohlbefinden oder die körperliche Unversehrtheit mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.[292] Eine seelische Misshandlung liegt in jeder entehrenden und entwürdigenden Behandlung, die beispielsweise in einer schweren Beleidigung oder in der Durchführung eines unnötigen psychologischen Tests zu sehen sein kann.[293]
61
Angesichts des vorbehaltlosen Charakters des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG wird allerdings im Schrifttum verschiedentlich hervorgehoben, dass nicht bereits jede im Zusammenhang mit einer Freiheitsbeschränkung stehende Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder der freien Willensbestimmung als Misshandlung angesehen werden könne.[294] Ergänzend wird daher das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gefordert, wie sie auch von Art. 3 EMRK verboten wird.[295] In der Konsequenz dieser Ansicht liegt es, die in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK entwickelten Maßstäbe auch für die Auslegung des Misshandlungsverbotes aus Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG entsprechend heranzuziehen.[296] Die Regelung verbotener Vernehmungsmethoden in § 136a StPO ist – jedenfalls bei verfassungskonformer Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale – mit Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar und geht sogar über dessen Gewährleistungsgehalt hinaus, indem sie etwa auch Täuschungen erfasst.[297]
62
Unzweifelhaft von Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG erfasst ist nach alldem jede Form staatlicher Folter, die aufgrund der Abwägungsfestigkeit der Garantie auch nicht in Form der sog. „Rettungsfolter“ zulässig ist.[298] Auch die zwangsweise Verabreichung von Brechmitteln zur Beweisgewinnung, in welcher der EGMR im Fall Jalloh gegen Deutschland einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK gesehen hat, ist als Misshandlung i.S.d. Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG anzusehen.[299] Hingegen soll die mit der Intention der Lebensrettung erfolgende Zwangsernährung des in einem Hungerstreik befindlichen Strafgefangenen zumindest dann keine Misshandlung darstellen, wenn der Betroffene nicht mehr selbstbestimmt handeln kann.[300] Diese Ansicht beruht jedoch auf einem veralteten paternalistischen Konzept, das spätestens seit der Kodifikation der Patientenverfügung in § 1901a BGB[301] und der restriktiven Entscheidungen des BVerfG zur Zwangsbehandlung im psychiatrischen Maßregelvollzug[302] nicht mehr haltbar erscheint. Das Anstaltspersonal hat die in freier Selbstbestimmung ausgeübte Nahrungsverweigerung eines Gefangenen daher auch dann zu akzeptieren, wenn der Betroffene zu versterben droht.[303] Bedenken begegnet schließlich auch, dass das BVerfG in einer Kontaktsperre nach den §§ 31 ff. EGGVG keine Verletzung des Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG gesehen hat; hier legt die mit der Intensität und Dauer der Sperre verbundene Inhibierung von Außenkontakten die Annahme eines Verfassungsverstoßes nahe.[304]