Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 118
4. Europarechtliche Dimension des Strafklageverbrauchs
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Der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 3 GG ist schließlich nach vorherrschender Lesart auf Entscheidungen deutscher Gerichte beschränkt.[256] Eine Regelung für grenzüberschreitende Sachverhalte findet sich jedoch in Art. 54 SDÜ, der bestimmt, dass, wer durch eine Vertragspartei des Schengener Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat[257] nicht verfolgt werden darf, wenn im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Der Begriff der „rechtskräftigen Aburteilung“ i.S.d. Art. 54 SDÜ hat eine extensive Auslegung durch den EuGH erfahren; dieser hat hierunter beispielsweise auch einen Vergleich zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten nach niederländischem Recht (sog. transactie) sowie die staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidung nach § 153a Abs. 1 StPO subsumiert.[258] „Bereits vollstreckt“ i.S.d. Art. 54 SDÜ ist die Sanktion beispielsweise nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe, nach Zahlung einer Geldstrafe oder nach der Erfüllung von Auflagen.[259] Eine Bewährungsstrafe wird „gerade vollstreckt“, sobald die Strafe vollstreckbar geworden ist und die Bewährungszeit andauert; nach Ablauf der Bewährungszeit gilt die Strafe als „bereits vollstreckt“.[260] Gründe, aus denen eine Sanktion „nicht mehr vollstreckt werden kann“, sind zum Beispiel Verjährung, Amnestie, Begnadigung oder auch der Erlass einer Bewährungsstrafe.[261] Wenn die Vollstreckung der Sanktion dagegen aus tatsächlichen Gründen (etwa Flüchtigkeit oder unbekannter Aufenthalt des Beschuldigten) nicht möglich ist, tritt kein Strafklageverbrauch gem. Art. 54 SDÜ ein.[262] Die Sanktion gilt auch dann als „nicht mehr vollstreckbar“, wenn sie nach dem nationalen Verfahrensrecht des erstverfolgenden Staates zu keinem Zeitpunkt vollstreckbar war.[263]
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Eine weitere Vorschrift zum transnationalen Strafklageverbrauch findet sich nunmehr in Art. 50 GRC, der auf das in Art. 54 SDÜ enthaltene „Vollstreckungselement“ verzichtet: Danach darf niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.[264] Während ein Teil des Schrifttums nach dem Inkrafttreten der Grundrechte-Charta von einer Verdrängung des Art. 54 SDÜ durch Art. 50 GRC ausging, die eine Prüfung des Standes der Strafverfolgung obsolet machen würde,[265] sieht die deutsche und europäische Rechtsprechung in Art. 54 SDÜ eine Schranke des Art. 50 GRC, weshalb das „Vollstreckungselement“ weiter zu beachten sei. Zur Begründung wird auf die Materialien der Charta sowie auf Art. 52 GRC Bezug genommen; diesem komme in grundrechtsdogmatischer Hinsicht die Funktion einer Schranken-Schranke zu, was wiederum die Möglichkeit von Grundrechtsschranken impliziere.[266]