Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 115
1. Begriff der Tat
Оглавление44
Eine erneute Strafverfolgung schließt Art. 103 Abs. 3 GG nur wegen „derselben Tat“ aus. Ausschlaggebend für die Einordnung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG „der geschichtliche Vorgang, auf welchen Anklage und Eröffnungsbeschluss hinweisen und innerhalb dessen der Angeklagte als Täter oder Teilnehmer einen Straftatbestand verwirklicht haben soll“; es soll auf den „nach natürlicher Auffassung zu beurteilenden einheitlichen Lebensvorgang“ abzustellen sein.[217] Das Gericht orientiert sich damit im Ausgangspunkt[218] am (vorkonstitutionell herausgebildeten[219]) strafprozessualen Tatbegriff, der auch den §§ 155, 264 StPO zugrunde liegt und nicht deckungsgleich mit dem materiell-rechtlichen Tatbegriff i.S.d. §§ 52, 53 StGB ist.[220]
45
Die durch das BVerfG favorisierte natürliche Betrachtungsweise belässt naturgemäß Auslegungsspielräume, die Inkonsistenzen in der Rechtsprechung des Gerichts zum Tatbegriff des Art. 103 Abs. 3 GG begünstigt haben.[221] So soll beispielsweise die wiederholte Nichtbefolgung der Einberufung zum zivilen Ersatzdienst als „eine Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzusehen sein, wenn ihr eine fortdauernde und ernsthafte, an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Gewissensentscheidung des Täters zugrunde lag.[222] In einem gewissen Kontrast zu dieser eher großzügigen Interpretation stehen Judikate, in denen der Tatbegriff tendenziell restriktiver ausgelegt wurde: Zur Annahme mehrerer prozessualer Taten gelangte das BVerfG etwa bzgl. der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) und der in Verfolgung der Ziele dieser Vereinigung verwirklichten Verbrechen (konkret: Mord bzw. Beihilfe zum Mord)[223] sowie bzgl. der wiederholten Entziehung der Kinder von der Schulpflicht (§ 182 Abs. 1 des Hessischen Schulgesetzes).[224] Nach Ansicht des Gerichts soll einerseits im Falle der Ersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen – trotz des Vorliegens von Tatmehrheit gem. § 53 StGB – „dieselbe Tat“ i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG anzunehmen sein; andererseits sollen beim Zusammentreffen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und der Verwirklichung von Verbrechenstatbeständen – ungeachtet der Annahme von Tateinheit gem. § 52 StGB[225] – mehrere Taten i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG gegeben sein.[226] Zur Rechtfertigung dieses mäandernden Kurses weist das BVerfG darauf hin, dass die Rechtsbegriffe der Tateinheit und der Tatidentität unterschiedliche Zwecke verfolgen: Während die §§ 52 ff. StGB die Bildung des Schuld- und Strafausspruches behandelten und auf das Ziel bestmöglicher Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ausgerichtet seien, bezwecke der Begriff der Tatidentität i.S.d. Art. 103 Abs. 3 GG ausschließlich, die Grenzen der materiellen Rechtskraft abzustecken.[227] In der Entscheidung zur Ersatzdienstverweigerung konstatierte das Gericht darüber hinaus, die von Art. 103 Abs. 3 GG ausgehende Sperrwirkung sei nur erträglich, „wenn der Umfang des prozessualen Tatbegriffs nicht über jedes Maß hinaus ausgedehnt wird“.[228]
46
Dass die Ablösung des verfassungsrechtlichen Tatbegriffes von den Wertungen des materiellen Rechts damit vor allem auf Gerechtigkeitserwägungen gestützt wird, erscheint bedenklich, wenn man sich erneut vor Augen führt, dass der Verfassungsgeber den allfälligen Konflikt zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit in Art. 103 Abs. 3 GG eindeutig und ausnahmslos zugunsten ersterer aufgelöst hat.[229] Ungeachtet dessen wurde die Asynchronität von Tateinheit und Tatidentität (sog. prozessrechtliche Lösung) in der Folgezeit von der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch auf das Zusammentreffen von unerlaubtem Waffenbesitz und Kapitaldelikt übertragen,[230] bevor der BGH schließlich in derartigen Fällen zur Annahme von Tatmehrheit gem. § 53 StGB (und auf dieser Grundlage zur Bejahung zweier Taten im prozessualen Sinn) gelangte (sog. materiellrechtliche Lösung).[231] Mit Beschluss vom 9. Juli 2015 hat der 3. Strafsenat des BGH nunmehr für alle im Rahmen einer kriminellen Vereinigung erbrachten mitgliedschaftlichen Beteiligungsakte, die zugleich andere Strafgesetze verletzen, Tatmehrheit gem. § 53 StGB und (gleichlaufend) selbstständige prozessuale Taten angenommen.[232]