Читать книгу Das Gegenteil der Wirklichkeit - Marcel Karrasch - Страница 11
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ОглавлениеDer alte Mann hatte keine Eile. Er zog seinen Mantel aus, streifte seinen Schal ab und hängte alles an den dafür vorgesehenen kleinen Haken, der auf einer Schiene am oberen Rand des Fensters verlief. Seinen Hut legte er in die Ablage. Erst dann setzte er sich und wandte sich dem jungen Mann Anfang dreißig zu, der auf dem Stuhl neben ihm bereits Platz genommen hatte und ein wenig verstört auf etwas zu warten schien.
„Wissen wir denn nicht alle manchmal nicht weiter?“, entgegnete er Frank Landweil, der ihn gebannt anstarrte, als er die Worte sprach.
Die Einfachheit der Antwort war für ihn schwierig zu fassen. Er versuchte nicht, ein Gegenargument zu suchen. Der alte Mann kam ihm altersmilde vor, belehrt, fast ein wenig weise. Er interpretierte die Aussage gedanklich und fand letztendlich eine deterministische Lebensauffassung darin. War es wirklich so, dass man die persönliche Situation immer als Sonderfall deklariert? Dass man glaubt, dass es für einen selbst keine Lösung gibt, sehr wohl aber für alle anderen?
Nach einer Zeit des Schweigens schaute Landweil zu dem alten Mann und sprach: „Ich fliehe vor etwas, das ich nicht verlassen kann. Ich renne vor etwas davon, was in mir ist. Ich nehme es mit jedem meiner Schritte mit.“ Er war selbst ein wenig verblüfft von dieser philosophisch anmutenden Äußerung, dazu noch gegenüber einem vollkommen Fremden. Der alte Mann schaute ihn nicht an, als er schließlich antwortete. Er blickte geradeaus, als ob er von einem Teleprompter ablesen würde, was er ihm erzählte. „Als ich noch ein kleiner Junge war, habe ich mal meine Mutter angelogen. Es war nichts Schlimmes, eine Kleinigkeit. Ich fühlte mich so furchtbar, dass ich nicht wusste, wie es weiter gehen soll. Ich saß tagelang in meinem Zimmerchen und wurde immer verzweifelter. Irgendwann gestand ich ihr die Lüge. In dem Moment waren alle Schranken und Mauern verschwunden, die mir den Weg versperrt hatten“, er ließ eine Zeit lang das Gesagte im Raum stehen, bevor er fortfuhr: „In meinem Leben hatte sich rein gar nichts geändert. Ich hatte immer noch meine Mutter angelogen. Aber ich war mir im Klaren, dass es immer weitergeht. Man kann nicht vor etwas weglaufen, was man an einer Leine hinter sich herzieht. Aber es ist einem selbst überlassen, wann man die Leine loslässt. Man kann die Dinge nicht ungeschehen machen, aber man kann ihnen etwas entgegensetzen.“
Frank Landweil starrte aus dem Fenster und versuchte, die Geschichte einzuordnen und eine Lösung für ihn daraus zu ziehen. Der Zug fuhr nun schon eine Weile und er war verwundert, dass es ihm bis eben nicht aufgefallen war. Die Zäune, Häuser und Bäume glitten gleichmäßig an seinem Auge vorbei, aber er realisierte erst jetzt, dass sie fuhren. Er stellte sich vor, wie er eine Leine in der Hand hielt, an der sein Leben hing. Er versuchte, sie immer wieder loszulassen, doch es gelang ihm nicht. Er hatte Angst, was er alles loslassen würde und was bliebe.
Er erwachte wieder, als ihm die Sonne ins Gesicht schien und eine Schaffnerin ihm auf die Schulter tippte. Er holte seine Fahrkarte hervor und zeigte sie. Der Platz neben ihm war leer. Frank Landweil war verwirrt, er fragte die Kontrolleurin, wo der Herr hin sei, der neben ihm gesessen hatte. Sie lächelte und entgegnete, dass der Platz die ganze Zeit leer gewesen sei und der halbe Zug nicht belegt war.
Die Verwirrtheit zeichnete ihre unstrukturierten Emotionen in sein Gesicht, das er der Welt hinter der Scheibe zuwandte. Was geschah gerade mit seinem Leben? Er stand auf und lief in das Zugabteil, in dem das Bordbistro war. Für einen unverschämt hohen Preis kaufte er einen Kaffee und ein Croissant. Er hatte auch hier nahezu freie Platzwahl und setzte sich wieder ans Fenster. Landweil versuchte, an der Umgebung zu erkennen, wo er war. Seit geraumer Zeit hatte es schon keine Durchsagen mehr gegeben, wann und wo der nächste Halt kommen würde oder wann sie Bern erreichten. Gerade als er die Zugbegleiterin fragen wollte, wo sie sich befanden, störten zwei sich laut unterhaltende Männer sein Vorhaben. Als sie ihn erblickten rief einer rüber: „Scheiße, Franky bist du das?!“