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Frank Landweil verstand nicht mehr, was es mit seinem Leben im Großen und Ganzen auf sich hatte. Die Eintönigkeit seines Büros, seines Jobs, des Wetters und schlussendlich seines gesamten bisherigen Vorhandenseins auf der Welt. Als Lieblingsfarbe würde er gelb nennen und grau meinen. Grau wie alles, was um ihn herum geschah. Wie alles, was er bisher geleistet hatte. Das plötzliche Gefühl der Erkenntnis, dass er in den vergangenen Jahren vergessen hatte zu leben, traf ihn direkt nach dem Aufstehen, im seidenen Zustand zwischen Schlaf und Wachheit, auf dem Weg zwischen Bett und Badezimmer. Es schien, als ob ein umgekehrter Amor ihn mit einem Pfeil die Gewissheit in seinen Kopf geschossen hätte. Anschließend hatte ihm jede alltägliche Institution weitere Beweise ins Gesicht geschrien. Beim Frühstück war sein Müsli geschmacksneutral, sein Parfum olfaktorisch blass wie die Luft um ihn herum. Als er seine Wohnung verließ und vor der Haustür Frau Hempel traf, erschien ihm ihr Grüßen mitleidig, auf der Türschwelle stolperte er. Verwirrt von seiner neuen Erkenntnis stieg Frank Landweil in die falsche Tram und der Kontrolleur fragte ihn, ob er ein Tourist sei. Als er eine halbe Stunde später als üblich im Büro ankam, hatte niemand registriert, dass er gefehlt hatte. Die Empfangsdame hatte nicht einmal den Kopf gehoben, als er durch die Drehtür in das Hochhaus geeilt war. Vielleicht war er für seine Umwelt nie bedeutend gewesen. Vielleicht wurde er von ihr nicht einmal wahrgenommen.

Und nun saß er da, in seinem lederbezogenen Bürostuhl und starrte aus dem Fenster, den Computer noch nicht einmal eingeschaltet. Er arbeitete seit zehn Jahren im gleichen Unternehmen. Nach seinem Abitur begann er umgehend mit seinem Studium, nach dem Studium fing er sofort an zu arbeiten. Als andere noch durch die Welt reisten und ihr Studium abbrachen, kletterte er die Karriereleiter hoch. Getrieben von dem Willen, dass sein Familienname auch in Zukunft mit Geld in Verbindung gebracht wurde. Er war genau 33 Jahre und 5 Monate alt an diesem Tag. Das waren ungefähr 288720 Stunden. Was hatte er in diesen Stunden getan? Bevor er sich in weiteren Rechnungen über die Zeit verlieren konnte, klopfte es an der Tür.

Julian Zufer trat ein mit Briefen in der Hand. Er schien sie seiner Sekretärin abgenommen zu haben. Hatte sie überhaupt im Empfangszimmer gesessen? Julian Zufer war die Art Mitarbeiter, die jeder schätzt, aber keiner als unverzichtbar ansieht. Er erledigte seine Aufgaben und kam mit allen gut klar. Er war niemand, der auf den Tisch haute, er war einfach da.

„Frank, Du siehst ja furchtbar aus! Bist Du krank?“, und es war wieder einmal das Duzen, dass ihn am meisten an Zufer störte. Es musste auf einer Firmenfeier passiert sein, an die er sich aufgrund einer Kombination aus Alkohol und anderen Mitteln nicht mehr erinnern konnte.

„Verdacht auf Ebola. Ich war gestern beim Arzt, es ist noch nichts bestätigt“, entgegnete er, ohne eine Regung im Gesicht zu zeigen. Zufer gelang das nicht: Er wurde weiß, die Situation war ihm sichtlich unangenehm. Es war bekannt, dass er als Hypochonder jegliche Seuchen der Welt auf seinen Mikrokosmos bezog und anschließend die Symptome bei seinen Mitmenschen suchte.

„Das war kein Scherz. Gib mir die Scheißbriefe und mach dann die Scheißtür zu!“, blaffte er ihn an und Zufer wusste sich nicht anders zu helfen, als zu gehorchen. Sichtlich irritiert ließ er die Briefe auf seinen Schreibtisch fallen und verschwand beschleunigten Schrittes aus seinem Büro.

Das erste Mal an diesem merkwürdigen Tag bekam Frank Landweil gute Laune. Er war kein emotionaler Mensch, niemand der bei Kleinigkeiten aus der Haut fuhr und schon gar nicht jemand, der in einem Satz zwei Mal das Wort „Scheiße“ verwendete. Eine Welle der Euphorie stieg in ihm auf und er schaltete seinen Computer ein. Neben den üblichen Büroemails hatten zwei Kunden Änderungswünsche zu Designs, die er für Kampagnen für sie erstellt hatte. Er antwortete beide Male mit exakt der gleichen Nachricht: „Wir werden hier überhaupt nichts ändern! Nur, weil ihr kunstbehinderten Vollidioten gerne ein hässlicheres Motiv hättet, heißt das nicht, dass ich sowas mache! Wir sind hier nicht bei „Wünsch dir was“!“. Als er auf SENDEN drückte, kam es wieder, dieses Gefühl alles richtig gemacht zu haben. Die Kunst war für einen zierlichen Moment in sein Leben zurückgekehrt. Und das auf ihre beste Weise, als verstörende Kunst

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Showtime, noch fünf Minuten und es kann losgehen. Die nötige und gewohnte Nervosität war vorhanden, der Schweiß, der den Rücken herunter rann, hätte bei längerer Vorbereitungszeit, sprich schlicht einem Tag mehr Zeit, nicht die Ausmaße eines Baches bei Hochwasser gehabt. Randolf Metzger suchte nicht nach Ausreden. Mehr Zeit hat man natürlich nur, wenn man morgens auch in einer fremden Wohnung gleich alle seine Kleider findet, auf dem Weg ins Bad nicht Türen aufreißt, deren Bewohner einen nichts angehen, dadurch wiederum überflüssige Entschuldigungen stammelt und dann schließlich auch nicht erst nach drei Blocks ein Taxi findet und den gottverdammten ICE Sprinter in aller Frühe nicht verpasst. Trotzdem fühlte es sich wie immer gut an, es doch wieder geschafft zu haben – just in time. Vielleicht war er auch nur so begehrt, weil er durch seine meist zu kurze Vorbereitung, trotz unterstützendem Personal die kulinarischen Kreationen grober zubereitete, als man es von sehr gehobener Küche, zumindest nach den Bildern in Hochglanzmagazinen, kannte. Die exklusiv bekochten Gäste wiederum, die den teils hektischen Ablauf nicht mitbekamen, lobten das Ergebnis mit oft seltsamen und vollkommen abwegigen Attributen in den Himmel. Wahrscheinlich hielten sie ihn für einen Maestro, der mit stilsicherer Attitüde seine Exzentrik auslebte, weil dies das bestimmte Etwas bedeutet, oder so ähnlich. Ihm war es gleich. Ein Auftritt, zwei Tage Arbeit und es reichte wieder für einige Wochen inklusive der Rücklage, die ihn seinen Träumen näherbringen sollte. Es war schon verrückt: Er schnitt die Zwiebeln nicht anders als jeder andere Koch, er nutzte natürlich nur beste Zutaten wie all die anderen auch, was der einladende Gastgeber für die Kohle auch verlangen durfte. Es war aber anscheinend die Mischung aus großer Mann mit Bart, lässigem Auftreten, viel Gefühl in den Würzfingern und dem Mut, guten, klassischen Rezepten verrückte Namen zu verpassen und diese wiederum in lebendige Geschichten zu verpacken.

Sie hörten von draußen, dass die Tischreden sich dem Ende zuneigten und hoffentlich die ersten Gäste der Gastgeber nicht schon eingenickt waren. Meist taxierte er zwischendurch mit einem kurzen Blick den Gastraum, ob die Gäste diesmal auch nur annähernd den Beschreibungen der Gastgeber standhalten konnten. Oft waren die vermeintlich intelligenten Herren in den besten Jahren mit viel Sinn für gutes Essen und anregende Gespräche nichts als bedauernswerte Dompteure zickiger Damen, die sie sich im Anfall männlichen Größenwahns zugelegt hatten, um anderen Gleichgesinnten zu imponieren, und waren allein deshalb schon vor Erschöpfung vor dem ersten Gang angetrunken und nur wenig zugänglich für Metzgers Werbung in eigener Sache, die es immer als Nachtisch des Nachtisches gab.

Heute schienen es ziemlich genau die zu sein, die auch angekündigt waren. Die Gastgeberin kam in die Küche, nickte ihm kurz zu und es ging los. Der kleine Hinweis, dass der Gast am hinteren Ende des Tisches, der mit der Lebensmittelallergie ist und auf keinen Fall dieses oder jenes Gewürz verträgt, löste bei ihm nur eine kurze Irritation aus. Er wusste, dass heute schon fast jeder als Auszeichnung seiner besonderen Persönlichkeit eine Allergie sein Eigen nannte. Über was sollte man denn sonst auch reden. Klar war es schlecht, dass er daran nicht mehr gedacht hatte, aber so schlimm wird es sicher nicht werden und sollte doch etwas in die Hose gehen – über diesen Gedanken musste er wegen dessen Sinnbildlichkeit fast laut lachen – gab es ja sechs Bäder in dieser Villa.

Das charmante Servierteam leistete ab jetzt perfekte Arbeit, doch damit hatte er ab jetzt nicht mehr viel zu tun. Randolf Metzger fühlte sich wohl, jetzt gab es das Bier aus der Flasche für die gesamte Küche, jetzt waren alle Sieger und sie warteten auf den Applaus.

Das Gegenteil der Wirklichkeit

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