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ОглавлениеEs war kurz vor Mitternacht und Frank Landweil fühlte sich unausgelastet. Der vergangene Tag war vielseitig und vor allem merkwürdig gewesen, doch strengte das Sitzen in einer Bahn mehr physisch als psychisch an. Er versuchte, die vergangenen Ereignisse für sich Revue passieren zu lassen und wusste nicht, ob er dem Geschehenen einen gewichtigen Wendepunkt in seinem Leben oder eine kindliche Flucht aus dem Alltag zuschreiben sollte. Er saß immer noch im Zug und das monotone Rattern der schweren Wagons, wie sie unaufhaltsam in Richtung Frankfurt donnerten, beunruhigte ihn. Mehr wegen des Ziels als der Fahrt an sich. Am frühen Morgen erreichten sie die Metropole am Main.
Einen überdrehten Moment suchte er beim Aufstehen nach seinem Gepäck. Es vergingen überlange Sekunden, bis ihm einfiel, dass er keines hatte. Er stieg aus dem Zug und stand verloren vor der Wagentür. Der entnervte Hinweis eines Mannes in Anzug mit Aktenkoffer in der Hand hinter ihm ließ ihn aus seiner Abwesenheit erwachen. Nicht genug, um seinen Beinen die nötigen Signale zu senden, sich vorwärts zu bewegen, sodass er unsanft nach vorne fiel, als ihn ein Aktenkoffer im Rücken wegdrückte. Er konnte sich gerade noch mit den Händen abstützen, um nicht völlig auf dem Boden zu landen. Geradewegs vor diesen erblickte er ein Paar Schuhe, das ihm merkwürdig bekannt vorkam. Er blickte an einer wildgemusterten Stoffhose hinauf. Monique schaute ihn irritiert an.
„Suchst Du was?“, fragte sie ihn, als er sich peinlich berührt aufrappelte und die Hose abklopfte. „Ich weiß nicht, vielleicht ja“, entgegnete ein sichtlich überforderter Frank Landweil. Sie nahm kommentarlos seine Hand und zog ihn in Richtung Ausgang. Sie klärten noch die Details, wann sie in der Villa Steinfeld sein sollte und er gab ihr die Adresse. Sie hatte es strikt abgelehnt mit ihm dort aufzutauchen, sie würde nachkommen versprach sie und pünktlich da sein. Kaum hatte er sich verabschiedet, ein einzelner Wangenkuss, verschwand sie in einem Taxi, dessen Lichter sich alsbald in denen der anderen Autos verloren.
Wenn Frank Landweil normalerweise in die Stadt seiner Kindheit zurückkam, machte er eine kleine Tour durch sein altes Stammcafé, seine Lieblingseinkaufsstraße und traf sich mit den wenigen Bekannten, die er in der Stadt noch hatte. Heute war er ratlos, was er mit dem Tag anfangen sollte. So früh morgens bei seinem Bruder aufzutauchen war sinnlos. Er würde zur Arbeit müssen wie jeder andere auch. Sein kleines geliebtes Stammcafé würde wie seit Jahren schon um neun Uhr öffnen. Aus der Not heraus hob er den Arm und winkte ein Taxi heran.
„Erste Mal in Frankfurt?“, ein junger arabisch aussehender Mann mit vollem Bart und freundlichen Augen schaute ihn fragend über den Rückspiegel an. Und da war sie wieder, die Manie, die er in den letzten Stunden nicht mehr gespürt hatte. Er begann ein Gespräch mit dem Taxifahrer, der Student der Informatik war, und nur nebenbei als Taxifahrer jobbte. Sie lachten viel und unterhielten sich über die Stadt und wie sie sich verändert hatte oder zu haben schien. Er ließ sich mit einem kleinen Schlenker am Main vorbei in die Goethestraße fahren. Für den Abend war extra ein Event-Koch engagiert worden und es würden neben seinen Großeltern und seinen Eltern auch Freunde der Familie, vor allem Freunde seines Vaters, anwesend sein. Ein Anzug oder etwas Ähnliches war folglich Pflicht.
Frank Landweil war jemand, der genau wusste, was er wollte, zumindest in Stilfragen. Er kaufte einen klassischen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und ein enganliegendes weißes T-Shirt zum Unterziehen. Zu dem blauen Kleid von Monique wollte er keine Experimente eingehen und entschied sich gegen eine Musterung. Da er öfters bei diesem Schneider kaufte, wurde ihm versprochen, dass er den angepassten Anzug gegen Mittag abholen könnte. „Oder in das übliche Hotel liefern lassen?“, fragte der kleine Mann mit dem Nadelkissen am Arm. „Nein, nein, ich komme vorbei“, entgegnete er – sein übliches Hotel blieb bei diesem Aufenthalt leer. Nun lief er doch, nach einem Blick auf die Uhrzeit, über die Zeil hinweg zu seinem kleinen Lieblingscafé auf der Bergerstraße. Schon in seiner Schul-, später dann in seiner Studienzeit hatte er ganze Nachmittage dort verbracht. Er freute sich umso mehr, als er beim Eintreten ein bekanntes Gesicht erblickte. Ein älterer Herr in weißem Hemd war das Urgestein und Herz des Ladens. Sie plauderten kurz im Stehen, dann setzte er sich zu ihm an einen kleinen Tisch in der Ecke. Der Abend in der Villa Steinfeld rückte immer näher, wie eine böse Vorahnung, die man intuitiv spürt.