Читать книгу Das Gegenteil der Wirklichkeit - Marcel Karrasch - Страница 9
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ОглавлениеZwei Brötchen, Erdbeerkonfitüre, Nuss-Nougat-Creme, eine Scheibe Kochschinken, eine Scheibe Salami, zwei kleine Päkchen Butter und ein Kaffee waren das Business-Frühstück, das Landweil um halb acht zu sich nahm. Er aß lustlos, mehr prophylaktisch, um besser denken zu können. Er musste weg. Wieder hatte ihn die Zukunft schneller eingeholt, als es ihm lieb war. Er bestellte noch einen Kaffee, nachfüllen lassen war kostenlos, doch er tat es nur, um Zeit zu gewinnen. Sekundenbruchteile nachdem er dem jungen Mann zugewinkt hatte und seine leere Tasse hob, um kurz darauf zu zeigen und anschließend den Zeigefinger zu heben, hatte er den Kampf gegen die Zeit gewonnen. Seine Gedankenbahnen ordneten sich, es wurde ein Netz mit klaren Strukturen und Wegen – er musste nur loslaufen und die Richtung wählen.
„Nach Siena möchten Sie? Der nächste Zug geht in 40 Minuten, sie müssen in Bern, Mailand und Florenz umsteigen, das dauert knappe elf Stunden. Wollen Sie das wirklich?“, die Dame am Bahnschalter schaute ihn fragend und sichtlich irritiert an. Den Mann, der etwas zu gut gekleidet war für eine Bahnfahrt, die einen halben Tag dauerte, der kein Gepäck bei sich hatte und zudem nicht aussah, als ob er sich ein Flugticket nicht hätte leisten können.
„Ja, bitte! Das ist perfekt. Ich mag Bahnfahrten sehr gerne“, antwortete Frank Landweil und lächelte dabei, als würde er gleich in die Karibik fliegen.
Das Gleis 15 lag im hinteren Abschnitt des Bahnhofs. Hier standen keine Pendler, keine Mittzwanziger mit Rollkoffer und blauem Anzug. Mit ihm warteten noch ein älteres Ehepaar und eine Familie mit zwei Kindern auf den Zug. Die Eltern der Kinder waren unwesentlich älter als er selbst. Er beobachtete die junge Familie und wusste nicht, ob er neidisch oder froh sein sollte. Dem kleinen Jungen, er musste um die fünf Jahre alt sein, fielen seine Blicke auf und er winkte. Er wirkte dabei so fröhlich und unschuldig, dass er am liebsten angefangen hätte zu weinen, winkte jedoch nur mit einem milden Lächeln zurück. Die Mutter sah es und zog den Jungen zu sich und machte eine entschuldigende Geste in seine Richtung.
Als der Zug einfuhr, fühlte er sich in seine Kindheit zurückversetzt. Er sah sich mit acht Jahren wie er mit großen Augen das erste Mal von seinem Vater auf eine längere Zugfahrt mitgenommen wurde. Sie fuhren damals von Frankfurt nach Hamburg. An den Aufenthalt in der Stadt konnte er sich nicht mehr erinnern, an die lange Fahrt dorthin sehr wohl – sie war herrlich gewesen. Der Vater hatte ihm an jedem Halt ein wenig über die Stadt erzählt und immer, wenn sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, flüsterte er: „Sie haben uns wieder nicht gekriegt, sehr gut!“, als wären sie auf der Flucht und lächelte ihm dabei verschwörerisch zu. Was waren sie für Freunde gewesen, es kam ihm vor wie ein anderes Leben.
„Junger Mann, könnten Sie mir vielleicht mit meinem Koffer helfen?“, sichtlich aus seinen Träumen gerissen war Landweil erschreckt, als plötzlich das ältere Ehepaar vor ihm stand.
„Verzeihen Sie, ich war in Gedanken, selbstverständlich!“ er nahm die zwei Koffer und trug sie die drei kleinen Stufen in den Zug.
„Soll ich Ihnen die Koffer gleich in die Hutablage heben?“, Landweil war bemüht seine mangelnde Aufmerksamkeit wiedergutzumachen.
„Danke, sehr freundlich von Ihnen!“, das Paar lächelte und setzte sich zufrieden.
Er lief den Gang zwischen den Sitzen entlang und hielt Ausschau nach seiner Nummer. Fensterplatz in Fahrtrichtung, das hatte die Dame am Schalter mehrfach betont. Er wurde schnell fündig und ließ sich nieder. Was wollte er in Siena? Was erhoffte er sich von dieser Flucht? Frank Landweil war ratlos. Seine klaren Gedankenbahnen waren verschwunden, es blitzten immer wieder Momentaufnahmen aus seiner Kindheit, Jugend, Studienzeit auf. Das Gewitter hatte seinen Geist in Kürze überrascht und er fand keinen Unterstand. Plötzlich schreckte er auf, als sich eine Person neben ihn setzte. Wie automatisiert sagte er „Ich heiße Frank Landweil, 33 Jahre alt und ich weiß nicht weiter.“.