Читать книгу Das Gegenteil der Wirklichkeit - Marcel Karrasch - Страница 7
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ОглавлениеDie Stadt war in eine Tristesse gehüllt. Wie eine graue Schicht aus undurchdringbarem Nebel, der über allem lag, waren die Gebäude farblos, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Die frühe Uhrzeit, das langsame Erwachen, der leichte Regen – es war eine Hollywoodkulisse für den finalen Suizid, den leisen Paukenschlag zum Schluss. Zwei verirrte Lichter wanderten die Zeughausstraße hoch. Klischeeerfüllend war es ein Citroen D2, dessen Lichter sie auf den nassen Asphalt warfen. In einer Straße von verzierten Altbauten war die Welt für eine kurze Zeit in die 50er Jahre zurückversetzt. Aus einem Fenster im dritten Stock der Nummer 38 wurde die Szenerie heimlich beobachtet.
Frank Landweil stand nun schon geraume Zeit mit einem Kaffee in der Hand vor dem Küchenfenster und blickte auf die Straße hinab. Er war um fünf Uhr wach geworden und fühlte sich unangebracht ausgeschlafen. Es brauchte nicht lange, bis er sich an den merkwürdigen vergangenen Tag erinnerte. Er musste fast neun Stunden geschlafen haben. Ihm fiel nicht ein, wann er das letzte Mal so lange im Bett gelegen hatte. Dabei wurde er von wilden Träumen geplagt, die sich nach dem Erwachen für wenige Augenblicke mit der Realität vermischten. So kam es auch, dass er den neuen Frank Landweil zunächst in diese Traumwelt verbannte. Als er sich auf sein Bett setzte und den unsanft abgelegten Anzug auf dem Sessel in der Ecke sah, wurde ihm bewusst, dass er ihn zurückholen musste. Er versuchte, sich an das Gefühl der plötzlichen Euphorie des vorherigen Tages zu erinnern, scheiterte jedoch.
Der Himmel erhellte sich ein wenig. Sein Kopf fühlte sich leer an. Es war jener paradoxe Moment, in dem ein Sturm an Gedanken und Eindrücken durch den Kopf fegten, man aber keinen fassen konnte. Als versuche man, Schnee zu fangen. Und doch hallte es dumpf in seiner inneren Ödnis, wenn er einen Schluck von seinem Kaffee trank. Es verging fast eine Stunde, die er in diesem transzendenten Zustand in seiner Küche verbrachte. Als sich sein mentales Unwetter zu legen begann, kramte er sein Handy aus der Innentasche seines Jacketts hervor und rief im Büro an. Er verwendete die gleiche Ausrede wie gestern bei Marie. Er müsse ein paar Tage weg, helfen alles zu organisieren, für seine Familie da sein. Frank Landweil war jemand, dem man gerne freie Tage gewährte, nicht zuletzt seiner Position in der Firma geschuldet und dem jahrelang nicht eingereichten Urlaub. Er überlegte kurz, ob er seine verbalen Entgleisungen des Vortages gleich mitentschuldigen sollte, ließ es jedoch bleiben. Mischek und Zufer waren weder von ihrem Selbstbewusstsein noch von ihrer Stellung in der Hierarchie in der Lage, ihm ernsthaft Probleme bereiten zu können. Die beiden Kunden, die er höchstwahrscheinlich verärgert hatte, waren da schon eher ein Problem. Allerdings eines der Zukunft, nicht seiner Gegenwart.
Nach dem Rasieren und seiner üblichen Badroutine kleidete er sich mit Hemd, Kaschmirpullover und Anzughose. Einen Stil, den Landweil als casual bezeichnen würde, dabei war nicht mal Freitag. Er nahm seinen Übergangsmantel vom Bügel und verließ die Wohnung. Es war immer noch früh und er traf weder im Treppenhaus noch in seiner Straße jemanden, den er kannte. Er war dankbar, in seinem Zustand wusste er nicht wie er auf einfache Fragen antworten sollte. Die Straßenbahn war spärlich gefüllt, Frank Landweil stand trotzdem. Er empfand das Stehen in öffentlichen Verkehrsmittel als Privileg, nicht als Nachteil. Es zeigte, dass er körperlich fit war, dass er seinen Platz anderen anbot, dass er ein Gentleman war - sein wollte. Am Hauptbahnhof stieg er aus.
Auf dem ganzen Weg hierher hatte er seine Entscheidung über ein mögliches Ziel vertagt. Jetzt war er gezwungen zum Handeln. Er blickte auf die große Anzeigetafel und dachte nach. Eine andere Stadt, gar ein anderes Land? Nach langem Abwägen von Für und Wider hatte er einen Entschluss gefasst. Er lief zielstrebig Richtung Gleis 8, entschied sich für das Bahnhofscafé und suchte einen Platz in einer hinteren Ecke. Das Café war etwas zu schick für einen Bahnhof, es hatte etwas von einem Wiener Kaffeehaus. Shabby chic, das hätte Zufer jetzt dazu gesagt. Ein verschlafener junger Mann kam auf ihn zu und fragte, ob er das Business-Frühstück haben wollte. Er bejahte, wie er es immer tat, wenn ihm etwas in einem Restaurant nahegelegt wurde. Oder eben in einem Bahnhofscafé an einem Mittwochmorgen.