Читать книгу Das Gegenteil der Wirklichkeit - Marcel Karrasch - Страница 18
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ОглавлениеWarum ihn bei der Erkenntnis, nicht allein im Bett zu liegen, der Gedanke durchzuckte, dass etwas schiefgelaufen war, ging mit seinem seit Jahren verinnerlichten Fluchtinstinkt einher. Auch wenn ihm nicht klar war, vor was er flüchtete, trug er eine gewisse Angst vor Vereinnahmung in sich, gegen die er sich immer wieder durch ungesteuertes Verhalten zu wehren versuchte.
Judith hieß sie, das fiel ihm sofort und gern wieder ein. Frau Bieler, mit Vornamen Judith, seine Nachbarin, die Beziehung zu ihr definierte er bisher über die Anknüpfungspunkte Postkasten leeren und Zweitschlüssel für den Notfall deponieren.
Der Abend hatte sehr relaxt begonnen. Das Corazon war eine klassische Bar für den ersten oder auch den letzten Drink des Abends. Wenige Gäste, die die Bar als ihr Wohnzimmer betrachteten und sich demnach auch nicht so benahmen. Er hasste es, wenn Gäste ihre Fraternisierung mit dem Barkeeper zur Schau stellten, vorwiegend um den Anderen zu zeigen, dass sie hier die besseren, die beliebteren Gäste sein wollten. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass diese Zuneigung der Gäste am falschen Platz heikel war, in zweierlei Hinsicht: Zum einen entstand eine Erwartungshaltung, irgendwann in die Freigetränkeliga aufzusteigen, zum anderen dachten manche durch das Duzen bedingt, dass außerhalb der Mauern der Bar das gleiche Verhältnis bestehen bliebe, wo er doch für einen gewissen Teil der Gäste auf der Straße nicht einmal ein Augenbrauenzucken als Gruß übrig hätte. Und der andere Teil sah dies auf ihn bezogen wahrscheinlich ähnlich. Kurzum, der Start in den Abend war auch ohne eigene Planung und Vorbereitung gelungen. Das Clubsandwich war ebenfalls von guter Qualität, konnte aber wie immer seinen Hunger nicht vollständig stillen. Auf dem Weg ins Latin Palace musste er noch eine gegrillte Kalbsbratwurst einnehmen, was ihm ein wohlwollendes Kompliment seiner Nachbarin einbrachte. Er wüsste also, obwohl „Usläänder“, wie man sich in Züri ungekünstelt den Hunger stillen könnte. – Naja, die Wurst ist gut, dachte er, aber der Geldbeutel gibt auch oftmals den Takt vor, behielt es jedoch für sich. Man muss auch mit Komplimenten umgehen können, sollten sie noch so klein sein.
Tanzen lag auf seiner eigenen Talentskala nicht ganz oben, aber er bewegte sich manchmal ganz gern zu guter, tanzbarer Musik, auch wenn er es, dazu noch in fremder Begleitung, nicht wirklich genießen konnte. Er hoffte, dass Frau Bieler nicht zum Lager der Dauertänzerin gehörte, die einem das letzte Tröpfchen Schweiß abfordern würde oder man sich als zu ungelenk in eine ruhigere Ecke verabschiedete, um auf das späte Ende der Ausgelassenheit der Anderen zu warten.
Sie lag ungefähr in der Mitte, was bedeutete, dass Metzger sich nach etwa drei Liedern an die Bar verabschiedete, was er in seinen Augen geschickt mit den Fingern andeutete. Erst zwei laufende Finger und dann den ausgestreckten Daumen zum geöffneten Mund führen. Sie runzelte etwas die Stirn, aber da hatte er sich schon umgedreht.
An der Bar bestellte er sich ein Bier. Natürlich aus der Flasche, da die angezapfte Brühe, die unter dem Zapfhahn stand, nicht eben vertrauenswürdig aussah und er wusste, dass in profitorientierten Läden auch gern die Reste aus Gläsern zum Auffüllen benutzt wurden.
Kaum hatte er die Flasche an den Hals gesetzt, tippte ihm jemand auf die Schulter. Der Schluck und der Anblick des Typen hinter ihm bescherten ihm einen Hustenanfall. Mussten einem immer die Leute aus der Vergangenheit begegnen, denen man schon in der Schulzeit nichts zu sagen hatte. In diesem Fall war es ein flüchtiger Bekannter, den er als Gast bei einem Auftrag kennengelernt hatte und mit dem er im Anschluss der Veranstaltung bei einigen sinneserweiternden Getränken noch lange gesprochen hatte. Er war ein kluger Kopf, aber anstrengend, da er über das Kochen, den Verzehr von Fleisch und den Zusammenhang mit Randolfs Nachnamen eine unheilvolle Zukunft heraufbeschworen hatte. Nach dem Motto Nomen est omen entschuldigte er Metzgers aus seiner Sicht enorme Unwissenheit hinsichtlich gesunder Ernährung. Er gab dem Gemüse den Vorzug. Metzger erinnerte sich sofort an seinen Namen, allerdings nur an den Nachnamen. Gärtner, der braunhaarige Typ mit Bart und dunkler Brille hieß Gärtner. Und dieser beteuerte seiner Zeit, dass es kein Witz wäre und sie mussten lange darüber lachen.