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In Frank Landweil manifestierte sich in kürzester Zeit ein Horrorszenario. Es musste sich jemand vor den Zug geworfen haben. Alles andere schloss er kategorisch aus. In welcher Situation musste sich der Selbstmörder befunden haben? Was hinterließ er? Den anderen Fahrgästen in seinem Wagon schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu schießen, wobei sie nicht so schockiert aussahen, wie er sich fühlte. Bei genauerem Betrachten entdeckte er gar eine ganz andere Emotion: Sie waren genervt. Er war fassungslos. Da hatte sich womöglich ein Mensch vor wenigen Sekunden das Leben genommen und diesen herzlosen Wesen war es vollkommen gleichgültig, ja sie waren sogar gestört davon. Bestimmt dachten sie sich Dinge wie: „Hätte der sich denn nicht vor einen anderen Zug werfen können?“, „Jetzt verpasse ich wegen dem auch noch meine Serie heute Abend!“ oder „Ich komme nicht pünktlich zum Meeting, nur weil sich hier jemand umbringen musste!“ oder wie Kaiser Wilhelm nach dem Selbstmord seines eigenen Sohnes „Dass er uns das auch noch antun musste“. Er wurde so wütend, dass er schließlich aufstand, sich in den Gang stellte und zur Irritation seiner Mitmenschen laut „Ich schäme mich für Sie alle!“ in die Stille und ihre Gesichter rief. Gerade als er seinen theatralischen Auftritt mit einem entschlossenen Gang in den nächsten Wagon fortsetzen wollte, erhaschte er einen kurzen Blick aus dem Fenster und sah ein blaues Schild mit weißer Schrift - BERN HBF. Der Zugführer hatte schlichtweg zu spät gebremst für die Bahnhofseinfahrt. Frank Landweil wurde heiß, Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, Demütigungen in der Öffentlichkeit waren die Hölle für ihn. Er verließ hastig den Zug.

Die Peinlichkeit des Moments hallte noch nach, als Frank Landweil in der großen Halle des Bahnhofs stand. Am Kopfende des schier riesigen Raumes störten ihn rote Neonröhren und es passte zum restlichen Gebäude. Ein Mann hatte wohl im Vorbeigehen seinen Blick aufgefangen und drehte sich zu ihm um, um im Laufen mit einem leichten Lächeln zu sagen „Der Wanner hat sich das bestimmt auch anders vorgestellt!“ Wer zur Hölle war der Wanner?

Er steuerte das nächste Café an, um sich einen erneuten Überblick über seine jetzige Situation zu verschaffen, an der sich objektiv nur der Ort geändert hatte. Es war ein typisches Bahnhofscafé mit ein paar Sitzgelegenheiten. Es trug den englischen Namen der Heidelbeere und Frank Landweil fragte sich, warum das besser klingen sollte. Er war also in Bern angekommen. Die Fahrt hierher kam ihm wie eine Ewigkeit vor, ein kurzer Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass das nicht stimmte. Er setzte sich in eine Ecke des Cafés, kramte das Ticket aus seiner Manteltasche und überprüfte seine Umsteigezeit. Er hatte noch eine knappe halbe Stunde, bis er den nächsten Zug nehmen musste. Er fühlte sich plötzlich in seinen Caféaufenthalt am Morgen zurückversetzt. In diesem Moment kam auch ein junger Mann auf ihn zu, allerdings hellwach und aufgedreht im Kontrast zu dem verschlafenen Jungen vom Morgen. Der Junge ratterte in unglaublicher Geschwindigkeit Angebote und Gerichte runter und informierte ihn über eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten der verschiedenen Menus. Auch hier entschied sich Frank Landweil für die Empfehlung des Jungen und er nahm seine zweite „Business-Mahlzeit“ des Tages zu sich, diesmal: das Business-Mittag.

Den Mantel über seinen rechten Arm gelegt, schlenderte er in Richtung eines Zeitungsladens. Er wollte sich noch eine Zeitschrift kaufen, bevor er weiterfuhr. Eine Angewohnheit aus seiner Studienzeit. Er spürte plötzlich wieder eine wohlige Leichtigkeit in ihm aufsteigen. Der Gedanke an sein Ziel Siena ließ ihn gar ein wenig euphorisch werden. Gedanklich flanierte er schon durch die kleinen Gassen hin zur Piazza del Campo. Mal hatte er eine junge Dame im Arm, mal einen jungen Labrador an der Leine. Beide Versionen gefielen ihm und er wäre fast in einen Postkartenständer gelaufen, hätte ein älteres Paar nicht noch „Vorsicht!“ gerufen. Er bedankte sich und erkannte sie wieder. Es war das Paar, dem er die Koffer in den Zug gehoben hatte. Er grüßte höflich und lief ohne Zeitschrift in Richtung seines Gleises.

Das Gegenteil der Wirklichkeit

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