Читать книгу Das Gegenteil der Wirklichkeit - Marcel Karrasch - Страница 5

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Mit einer ungekannten, wenig sorgfältigen und ignoranten Leichtigkeit erledigte Frank Landweil an diesem Tag seine Arbeit. Er war sich sicher, dass er in seinem gesamten Leben noch nie so lange am Stück so ehrlich gewesen war. Beim Mittagessen wies er Zufer noch daraufhin, dass sein Anzug schlecht saß und ohnehin billig wirke. Frau Mischek teilte er mit, dass ihm ihre vorherige Frisur besser gefallen hatte. Die neue Haarfarbe würde sie zudem blass aussehen lassen. Niemand konnte etwas mit dem neuen Frank Landweil anfangen, außer er selbst. Als er gegen sechs Uhr das Büro verließ, hatte er so gute Laune, dass er beschloss zu Fuß zu gehen. Es war das erste Mal seit fünf Jahren, dass er so früh von der Arbeit ging.

Er bog in die Bichlerstraße ein, eine Fußgängerzone, in der sich Bars und Cafés aneinanderreihten und sich je nach Tageszeit die Gäste übergaben. Er entdeckte einen neuen Laden, der mit futuristisch anmutenden Möbeln versuchte, sich von den anderen Bars abzuheben. An einem der Tische davor saß eine harmlose Gruppe von Jungs, sie mussten um die Anfang 20 sein, die allesamt sehr enge Jeans trugen. Frank Landweil hörte sich ihnen zurufen: „Ich unterstütze Eure Anliegen in allen Bereichen! Homoehe finde ich super!“. Die verdutzten Blicke, eine Mischung aus Irritation und Wut, steigerten seine Laune noch mehr. Er fühlte sich, als würde sich Kokain mit seinem Blut vermischen. Es schien, als wäre er das erste Mal wirklich da. Als er den Laden betrat, kam ein junges Mädchen auf ihn zu und fragte, ob er gesehen hatte, dass heute der „Blue Velvet Extreme“ der Cocktail des Tages sei. Er bejahte und bestellte einen. Extreme war genau das Richtige für so einen Tag.

Er nahm am Tresen Platz und keine fünf Minuten später bekam er einen hellblauen Drink mit Schirmchen und einer Ananasscheibe, die um den Glasrand gedrückt wurde, vor sich gestellt. Die Jungsgruppe von draußen zwinkerte ihm zu und riefen irgendwas, das er nicht verstand. Er umfasste das bauchige Glass, erhob es und statt ihnen zuzuprosten, schickte er einen Luftkuss mit einer ausladenden Geste in ihre Richtung. Wieder schaute er in irritierte Gesichter. Frank Landweil fühlte sich der Situation überlegen. Er kippte das süßliche Getränk runter und gab dem Mädchen ein großzügiges Trinkgeld. Mit den Worten „I can be your sugardaddy!“ tanzte er aus der Bar. Eine kleine, besondere Schrittfolge vor dem Tisch der Jungs inbegriffen. Er fühlte eine ungekannten Energie in seinem Körper, ganz ohne Hilfe.

Trotz aller Euphorie schlug er den Weg Richtung Wohnung an. Sich mit einem seiner besseren Maßanzüge in das Nachtleben zu stürzen, schien ihm selbst in seiner manischen Verfassung unangebracht. Von der Bichlerstraße aus waren es fünfzehn Minuten zu Fuß bis zu seiner für ihn allein viel zu großen Drei-Zimmer-Altbauwohnung in der Zeughausstraße. Im Treppenhaus traf er seine Nachbarin Marie Degen. Marie war Mitte 30, Dauersingle und leicht übergewichtig, aber hübsch. Plötzlich verspürte er tief in sich den Drang, ihr ein Kompliment zu machen. „Marie warst du im Urlaub? Du siehst so erholt und jung aus!“, säuselte er ihr halb im Vorbeigehen und schließlich auf der Treppe stehend zu – Treffer versenkt. Sie strahlte im ganzen Gesicht und gab zurück, dass er immer so höflich sei und wie jemand wie er eigentlich Single sein konnte. „Die Frauen müssten sich doch reihenweise auf ihn stürzen.“ Die ehrliche Antwort darauf wäre gewesen, dass jemand wie er Single ist, weil er zu viel Spaß daran hatte an Wochenenden den immer gleichen Typ Studentinnen aufzureißen und nicht in der Lage war, eine Beziehung zu führen, die länger als zwei Wochen hielt. Er entgegnete jedoch nur, dass die Richtige einfach noch nicht dabei gewesen sei und versenkte damit den zweiten Treffer. Die Hoffnung in Marie Degen weckend, dass sie diese Richtige doch sein könnte.

Als er seine Wohnung betrat, fühlte er sich plötzlich wie am Morgen, als er diese verlassen hatte. Die Schwere der Erkenntnis, dass sich nichts an der Tatsache geändert hatte, dass er Jahre seines Lebens für seine Karriere verschwendet hatte, streckte ihn kurz nach dem Überschreiten der Eingangstür nieder. Er legte sich auf sein Bett, um nach fünf Minuten aufzuspringen, ins Bad zu rennen und sich in die Toilette zu übergeben. Eine Zeit lang betrachtete er die blaue Suppe mit den Spaghettiüberresten vom Mittagessen darin. Als er es schaffte sich aufzurichten, klingelte es an der Tür. Ihm fiel der kleine Flirt mit Marie im Treppenhaus ein und er öffnete. Sie hatte eine Flasche Wein in der einen und eine DVD in der anderen Hand. Notting Hill, sie war ein wandelndes Klischee. Genauso gut hätte sie in Unterwäsche dastehen können mit einer Packung Kondome, so eindeutig waren ihre Absichten. Als sie in sein bleiches Gesicht blickte, schien sie irritiert, seine Augen verheult vom Brechen. Er wiegelte mit einer Lüge ab, dass er gerade von einem Todesfall eines entfernten Verwandten erfahren habe und nicht in der Stimmung sei für Wein. Er wollte zunächst Sex sagen, aber entschied sich für die Metapher. Sie reagierte verständnisvoll und drückte ihm ihr Beileid aus.

Dann legte er sich auf sein Bett, schlief schnell ein und begann wild durcheinander zu träumen. Er sah sich selbst aus der Vogelperspektive wie er auf einen fliegenden Wal blickte, der ihm mit menschenähnlichen Händen den Mittelfinger zeigte. In der nächsten Sequenz konnte er seine Augen nicht ganz öffnen und lief in Zeitlupe durch ein Labyrinth aus riesigen Gemälden von zu engen Jeans.

Das Gegenteil der Wirklichkeit

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