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Einführung: Vorsicht Gas!

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Berlin Nikolassee, Teutonenstraße 23. Ein Zettel warnt: »Vorsicht Gas!«. Der Handschrift nach von der Hausherrin – Johanna Klepper, verwitwete Stein, geborene Gerstel. Vordergründig betrachtet eine unspektakuläre Botschaft in der Preislage von »Achtung Stufe!« oder »Frisch gebohnert!«. Aber an diesem Morgen des 11. Dezember 1942 verheißt »Vorsicht Gas!« nichts Gutes und der dazugehörige Geruch auch nicht. Anni Tiecke, Haushaltshilfe der Kleppers, wagt sich in Begleitung von Frau Karbe, der Mutter des Nachbarn, in die Küche und findet dort drei leblose Gestalten auf dem Boden. Johanna Klepper in der Mitte, Renate Stein, ihre Tochter aus erster Ehe, rechts von ihr. Und links neben ihr Jochen Klepper, der Schriftsteller, der Liederdichter, der Familienmensch, zu diesem Zeitpunkt noch keine 40 Jahre alt. Die drei haben nichts dem Zufall überlassen, davon zeugen einige leere Schlafmittel-Schachteln. Das Gas (der Hahn des Küchenherdes ist geöffnet) hat nur den Rest besorgt.

Der selbst gewählte Tod der Familie Klepper ist kein Einzelfall, ist im nationalsozialistischen, judenfeindlichen Deutschland nicht außergewöhnlich, fällt in jenem vierten Kriegsjahr auch statistisch nicht ins Gewicht angesichts Tausender ziviler Bombenopfer, angesichts einer halben Million gefallener deutscher Soldaten allein an der Ostfront – und angesichts der Massendeportation deutscher Juden seit Oktober 1941 in die Arbeits- und Todeslager im Osten.

Aber der Weg Jochen Kleppers, seiner Frau und seiner Stieftochter bis zu jenem tragischen Ende ist so gut dokumentiert wie kaum ein anderes Familienschicksal im Dritten Reich. Die Kleppers hatten Freunde, pflegten zahlreiche Briefpartnerschaften, waren jedenfalls oberflächlich betrachtet nicht einsam. Außerdem hat Jochen Klepper zehn Jahre Tagebuch geführt. Zunächst einmal natürlich nicht für die Öffentlichkeit.

Weggefährten haben, nachdem die erste Bestürzung überwunden war, sein Andenken gepflegt. Eine Schwester hat Jochen Kleppers Tagebücher in Auszügen 1956 veröffentlicht und ihm damit ein Denkmal gesetzt – und zwar eines aus seinen eigenen Beobachtungen und Gedanken. Gute Freunde haben in den 50er- und frühen 60er-Jahren ihre persönlichen Erinnerungen an – und ihre Briefwechsel mit Jochen Klepper in mehreren kleinen Büchern herausgebracht. Wichtige und aufschlussreiche Zeugnisse für alle, die heute mit wissenschaftlichem Interesse an die Personalie Jochen Klepper herangehen. Aber wer mit mehr als zwei Generationen Abstand verstehen will, wer Jochen Klepper war und wie er so werden konnte, dem oder der verstellen die Freunde und Gefährten mitunter eher den Zugang. Denn die persönliche Nähe prägt ihre Perspektive, ihre Sprache atmet das Pathos jener Zeit. Dadurch bleibt Jochen Klepper dem heutigen Leser fern.

Selbst wer seine Lieder schätzt, weiß oft nicht viel über den Dichter: Klepper ist immerhin der wohl bedeutendste evangelische Liederdichter seit Gerhard Tersteegen und Philipp Friedrich Hiller. Ein halbes Dutzend seiner Liedtexte findet sich in quasi jedem aktuellen Gesangbuch des deutschsprachigen Protestantismus, und das heißt: Im gemeinsamen Liederkanon der deutschsprachigen evangelischen Christenheit kommt Klepper zusammen mit Martin Luther direkt nach Paul Gerhardt.

Dabei ist das Leben und Glauben Jochen Kleppers nicht nur für sich genommen bunt und spannend. Es spiegelt sich in dieser Biografie auch ein wesentlicher Teil deutscher Zeitgeschichte. Und viele Fragen, die Jochen Klepper umgetrieben haben, sind heute noch aktuell.

Wie erzählt man eine solche Geschichte wie die Jochen Kleppers? Zwangsläufig vom Ende her. Wesentlich an diesem Ende ist nicht der Hinweis »Vorsicht Gas!« und all das Unbegreifliche und Bestürzende dahinter. Wesentlich ist »das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben« – so der letzte Tagebucheintrag Jochen Kleppers am 10. Dezember 1942. Am Ende der segnende Christus.

Markus Baum

Jochen Klepper

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