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Kinderjahre

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Jochen wird schon als kleines Kind von Asthmaanfällen geplagt, ist eher zart und kränklich. Deshalb besucht er auch nur ein Jahr lang die evangelische Volksschule im kombinierten Pfarr- und Schulhaus, unter der Leitung des Rektors Krüger. Danach bekommt er zusammen mit einigen anderen Kindern seines Alters Privatunterricht beim Vater in der heimischen Wohnung. Damit hat der Kleine mehr von seinem Vater, als man es sonst erwarten könnte. Denn Georg Klepper hat in seiner Pfarrgemeinde gut zu tun: ca. 100 Taufen, 30 Trauungen und 70 kirchliche Beerdigungen im Jahr, jeweils rund 100 Konfirmanden zu betreuen – abgesehen von den Predigtdiensten, der Frauenhilfe, dem Jungmänner- und Jungfrauenverein. Und natürlich muss ein Pfarrer der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union auch noch allerlei gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen.

So sehr Georg Klepper in seiner Arbeit aufgeht, er versteht es auch, seine Freizeit zu genießen. Er ist hochmusikalisch (wie seine Frau), Hausmusik gehört bei den Kleppers zum guten Ton, und der Pfarrer leitet selbst ein kleines Orchester. Er ist naturverbunden und entführt seine Kinder oft in die Umgebung. Gehört aber auch zu den ersten Bürgern von Beuthen, die ein eigenes Auto besitzen und selbst fahren. Und einen Filmapparat schafft er sich an und unterhält damit die zahlreichen Gäste, die sich in der Wohnung der Kleppers einstellen. Im Sommer reist er regelmäßig mit der ganzen Familie an die Ostsee. Er geht gern »auf, auf zum lustigen Jagen«. Er schwimmt in der Oder – der einzige Sport, den Jochen mit ihm teilt. Er packt spontan mit an, wenn es einen Karren zu ziehen oder eine Last zu tragen gilt. Er ist eine robuste und markante Erscheinung – sein Sohn wäre es bestimmt auch gern, bleibt aber schmal und blass.


Fotopostkarte mit rückseitiger Beschriftung: »Meiner lieben Lilli zum 62. Geburtstag von Ihrem Jochen28.10.1918

Im Kreis der Geschwister erprobt Jochen Klepper erstmals sein schauspielerisches und dramaturgisches Talent. Da werden selbst ersonnene, biblische oder märchenhafte Stoffe zur Aufführung gebracht, in Rollenspielen oder mit dem vielköpfigen Puppentheater, das die Kinder selbst einkleiden. Jochens bester Freund in Kindertagen ist der jüngere Bruder Erhard. Mit ihm plant und fabriziert er in den Ferien unter anderem eine »Kunstzeitung« – Erhard als Illustrator, Jochen als Redakteur. Die Eltern lassen sie gewähren; der Ernst des Lebens kommt früh genug. Und der beginnt für Jochen Klepper formell im Alter von 14 Jahren mit dem Wechsel aufs Gymnasium, praktisch aber schon zweieinhalb Jahre früher, im August 1914 mit dem Ausbruch des Krieges.

Die Front ist anfangs keine 200 Kilometer entfernt. In der evangelischen Kirche wird erstmals am 5. August und von da an wöchentlich immer mittwochs eine »Kriegsgebetsstunde« abgehalten. Das Rote Kreuz richtet in Beuthen bereits 1914 ein Lazarett ein. Und dem Vater obliegt die traurige Aufgabe, evangelischen Familien die Nachricht vom Soldatentod ihrer Männer, Väter, Söhne zu überbringen. Todesnachrichten als Teil des Alltags – das hat sich dem jungen Jochen Klepper tief eingeprägt.

Wirklich idyllisch können die Kinderjahre Jochen Kleppers also nicht gewesen sein. Dafür haben allein schon die Krankheitszeiten gesorgt, eine rätselhafte Drüsenoperation im Alter von zehn Jahren (Drüsen? Was für Drüsen?) und immer wieder quälende Asthmaanfälle. Gästen und Besuchern wird verborgen geblieben sein, was Jochen und seine Geschwister vermutlich mehr schmerzte: die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. Es war eben nicht, jedenfalls nicht nur, die ideale, harmonische Ehe. Da gab es natürlich auch Streit und wechselseitige Vorwürfe. Und der kleine Jochen ergriff im Zweifel Partei für die ihm wesensverwandte Mutter, nicht für den ebenfalls geliebten, aber manchmal eben fremden Vater. Gut vorstellbar, dass sich bestürzende, zutiefst widersprüchliche Gefühle bis hin zur Todessehnsucht einstellten, wenn der Knabe unfreiwillig Zeuge eines solchen Streits wurde. Jahre später wird Jochen Klepper solche Eindrücke in der Novelle »Die Nacht in der Schachtel« verarbeiten. Wobei man sich hüten sollte, das dort Geschilderte für bare Münze zu nehmen und 1:1 als kindliches Erlebnis des Autors zu verbuchen, denn Klepper bezeichnet sich später ausdrücklich als »Feind des Autobiographischen in der literarischen Produktion«.3

Richtig ist sicher, dass Jochen Klepper schon als Junge ziemlich aufmerksam und helle war, dass er nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst genau beobachtet hat weit über das gewöhnliche Maß hinaus. Rita Thalmann hat in ihrer umfassenden Klepper-Monografie einige Einträge des Jungen aus dem »Erkenne dich selbst«-Album der Familie zitiert,4 und da tritt einem ein frühreifes, altkluges und irgendwie erdfernes Kind entgegen, ein Produkt des Kulturprotestantismus. Normal ist das jedenfalls nicht, wenn ein Achtjähriger sich selbst Eleganz als herausragenden Wesenszug bescheinigt oder ein Zwölfjähriger als Lebensmotto angibt: »Bevor du Wissenschaft lernst, lerne dich selbst kennen.« Viel von seiner Lebensenergie hat Jochen Klepper offenbar schon als Kind vergeistigt. »Französisch sprechen und Lesen« nennt er unter anderem als Lieblingsbeschäftigung. Und zu lesen bekommt er im elterlichen Haushalt natürlich keinen »Schund«, sondern wertvolle Literatur.

Jochen Klepper

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