Читать книгу Später Aufbruch - Martin Ressagg - Страница 8
Frank war nicht der Letzte
ОглавлениеDer Nächste auf der Liste sollte ich sein. Auch ich hatte das 48. Lebensjahr schon seit einiger Zeit vollendet. Zwar war ich nicht in jener Weise »problematisch« wie Frank, da ich einen All-in-Vertrag hatte, der über mein Grundgehalt hinaus keinerlei Abgeltungen vorsah. So konnte auch nirgendwo ein Interpretationsspielraum entstehen. Aber auch ich war nicht »einfach«. Mein Problem war jenes: Obwohl ich keineswegs wie beispielsweise die Familie Bammer von »höherer Geburt« war, sondern lediglich einfacher Angestellter, verfügte ich provokanterweise über ein gesundes Selbstbewusstsein – eine Tatsache, die der Eigentümerfamilie suspekt war. Oft wurde mir von der Chefin in Gesprächen signalisiert, ich möge mich doch bescheidener, unterwürfiger geben. Den anfänglichen Intentionen der Geschäftsleitung, mich als »Zuträger« oder »Ausrichter« zu verwenden, war ich stets mit Ablehnung begegnet. Mein Selbstvertrauen schöpfte ich alleine aus der Tatsache, dass ich permanent ein hohes Quantum an guter Arbeit ablieferte, was mir von verschiedenster Seite immer wieder attestiert wurde. Ich hatte bereits vor meinem Eintritt in die Firma umfassende Kenntnisse in allen für diese Tätigkeit erforderlichen Programmen erworben. Kreativität, Verlässlichkeit und Organisationstalent waren mir wohl in die Wiege gelegt worden. Stets absolvierte ich auf eigene Kosten in meiner Freizeit wertvolle Fortbildungen, war also immer am Ball. Mein durchschnittlicher jährlicher Krankenstand lag über all die Jahre bei 0,4 Tagen. Die Chefin war aber trotzdem nie glücklich mit mir. Für sie war es extrem wichtig, Menschen um sich zu haben, die »geformt«
werden konnten – ein Luxus, den ich nicht bieten konnte. Dennoch war ich der tiefsten Überzeugung, dass alle vorab genannten Vorzüge und das Damoklesschwert der »Abfertigung alt« mich vor einem Schicksal, wie es Frank getroffen hatte, bewahren könnten.
Dieser 15. Mai war ein ganz normaler Arbeitstag. Die Chefin kam um neun. Eine Veranstaltung zum 30-jährigen Firmenjubiläum war in Vorbereitung. Auch ein privates Fest der Firmeninhaber warf seinen Schatten voraus – eine Einladungskarte für die Gäste musste rasch produziert werden. Wenige Minuten vor Dienstschluss hastete der Junior mit wichtiger Miene in mein Büro. »Kommst bitte rasch mit mir zum Chef!« Schreibblock und Kugelschreiber in der Hand folgte ich ihm ins Büro des Seniors. Dieser machte ein Gesicht, als plagte ihn Bauchgrimmen. »Nehmen Sie bitte Platz ... ich habe leider keine sehr guten Nachrichten für Sie …« Dann erklärte er mit Leidensmiene, wie leid es ihm tue, aber der böse Markt lasse ihm keine andere Chance. Die Preise seien überall im Keller, ein eigener Marketingmann daher ein unfinanzierbarer Luxus. Nein, man wolle alle meine Arbeiten künftig extern erledigen lassen, das sei sicher günstiger, als dafür jemanden fix zu beschäftigen. Dann erklärte er, dass ich ab sofort freigestellt sei. Ich möge doch bitte unverzüglich alle privaten Fahrnisse von meinem Arbeitsplatz entfernen und den Firmenschlüssel seinem Sohn aushändigen. Er habe sich dazu entschlossen, diesen Schritt noch so rechtzeitig zu tun, dass meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt intakt seien. »Sie sind ja noch jung – wie alt sind Sie jetzt – 45? Da kommen Sie sicher gleich wieder wo unter, in einer Druckerei vielleicht ...« Natürlich wusste ich zu diesem Zeitpunkt, dass der »böse Markt« dem Chef kürzlich einen schönen Ferrari beschert hatte, um den herum bereits im Jahr zuvor eine herrliche Garage mit integrierter Schießbahn und einem Kühlhaus für Wildbret gebaut worden war, wohl größer als die Wohnung der meisten Mitarbeiter seiner Firma. Aber es hätte vermutlich keinen Sinn gehabt, in diesem Augenblick mit meinem Wissen aufzutrumpfen.
Bereits wenige Wochen später werkelte an meinem Arbeitsplatz ein junger, williger Praktikant, der um die Weihnachtszeit seine Fixanstellung erhalten sollte. Das zeigt, wie sehr man sich als Chef eines Unternehmens irren kann, denn gelogen wird Herr Bammer ja wohl nicht haben.
Das war es dann also. Ich hatte mich eigentlich bereits ganz gut damit arrangiert, noch für viele Jahre für diese abgehobenen, intriganten Leute zu arbeiten. Mein Job war nämlich klasse. Es gab natürlich auch etwas zähere Arbeiten, aber insgesamt hatte ich bei der Umsetzung meines Aufgabengebietes große Freiheiten. Auch kamen regelmäßig neue Bereiche hinzu, vor allem organisatorischer Natur. Die Kollegen waren wunderbar. Dieser Gemeinschaft trauere ich noch heute nach. Man wusste genau, in welchem Umfeld man reden konnte und wo Vorsicht geboten war. Je ernster sich unsere »Manager« gaben, desto lustiger war es für jene, die um die psychologischen Vorgänge dahinter wussten. Viele waren froh, mir Dinge anvertrauen zu können, die niemals unsere Ebene verlassen durften. Ich setzte mich oft mit Leidenschaft für Anliegen ein, deren Berechtigung ich erkannte, die aber von der Eigentümerfamilie für unwichtig erachtet wurden. Dennoch liebte ich meine Arbeit, die Rahmenbedingungen konnte ich akzeptieren. Das war nun von einer Sekunde auf die andere Vergangenheit.
Meine Frau holte mich an diesem Tag ab. Es war geplant, Besorgungen für den unmittelbar bevorstehenden Urlaub zu erledigen. Natürlich rief ich sie an, ob sie mir beim Räumen meines Arbeitsplatzes behilflich sein könne. Das konnte der Junior nicht verbieten. Also stand er die nächste halbe Stunde mit betretener Miene in meinem Büro und blickte abwechselnd an die Decke und auf den Boden. Zwischendurch folgten hektische Blicke auf das iPhone, aber dieses schien gnadenlos. Nicht ein einziges Mal in diesen 30 Minuten eine Nachricht, ein Anruf oder irgendwas. Keiner schien ihn zu brauchen, er musste sich mit dem Anblick eines Mitarbeiters quälen, der in den letzten dreizehneinhalb Jahren seine Arbeit mit Freude und Enthusiasmus stets zuverlässig erledigt hatte, der in dieser Zeit dank seiner Fähigkeiten und seiner Motivation eine gut funktionierende Abteilung aufgebaut hatte und den er in diesem Augenblick auf die Straße zu setzen im Begriff war. Das tolle, neue iPhone schwieg. Kein Anruf. Kein SMS. Nichts. Fast hätte er mir leidgetan.
Am nächsten Morgen tat ich etwas, das in dieser Firma noch nie zuvor jemand getan hatte. Üblicherweise trat nach einer überraschenden Kündigung oder Entlassung eines langjährigen Mitarbeiters der Chef vor die wichtigsten Angestellten und informierte diese mit aufgesetzter Leidensmiene aus erster Hand. Dies war mir wohl bewusst. Um 7 Uhr 30 wäre also der Zeitpunkt gewesen, wo der Chef die Neuigkeit verkündet hätte – noch bevor irgendjemand etwas ahnen oder darüber tuscheln hätte können. Ich jedoch war um 6 Uhr 30 bereits am Computer. Die E-Mail-Adressen der meisten Angestellten hatte ich im Kopf. So sandte ich folgendes Mail an meine Noch-Kollegen:
»Leider wurde ich gestern Abend ziemlich überraschend gekündigt und werde wahrscheinlich bis zum Ende meines Dienstverhältnisses nicht mehr in der Firma anwesend sein. Daher möchte ich mich auf diesem Wege ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit bei jedem Einzelnen von Euch bedanken! Es hat mich sehr gefreut, so viele Jahre ein Teil dieses guten Teams gewesen zu sein!«
Zumal ich wusste, dass ein Teil der Kollegen seine Mails am Handy empfängt und der Rest der Belegschaft zwischen 6 Uhr 45 und 7 Uhr 15 am Arbeitsplatz eintrifft, konnte ich ziemlich sicher sein, dass des Chefs Überraschung eine solche wohl nicht mehr sein würde, ich hatte ihm diesbezüglich also die Show gestohlen.