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Ab in den Urlaub

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Soll man in den Urlaub fahren, wenn man soeben gekündigt wurde? Wenn man nicht weiß, wie sich die Finanzen der Familie in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln? Wenn man nicht weiß, wie das Leben überhaupt weitergeht? Wenn man auch nicht weiß, ob man überhaupt abschalten kann? Trotzdem – man soll!

In Domland war das Wetter wie die Stimmung: trüb, nasskalt, regnerisch. Diesseits des Montanatunnels hingen die Schwaden tief. Die Montanaalm – gewohnheitsmäßig der erste Stopp auf jeder Reise in den Süden – zeigte sich mit 6° und Nieselregen ziemlich unwirsch. Jenseits der beiden Tunnel waren die Schwaden strahlend hell, blitzblaue Fenster in den Wolken erhellten auch die Stimmung. Mit jedem Kilometer nahm die Dramatik des vorletzten Abends ab, verlor sich bereits in der Ferne vergangener Tage und Ereignisse. Die grünen Hänge, die stattlichen Höfe hoch über der Autobahn zogen gemächlich vorüber.

Urlaub ist immer eine andere Welt, ganz unabhängig davon, aus welcher Situation man startet. Die Stimmung wurde zunehmend heiterer. Wenn man meine Gesamtsituation der letzten Jahre retrospektiv betrachtete, so hatte ich zwar eine erfüllende und – das muss man auf alle Fälle zugeben – auch fair bezahlte Arbeit. Aber wie den meisten anderen Mitarbeitern wurde einem täglich vermittelt, wie minderwertig man doch war. Wie wenig Bedeutung es doch hatte, dass man zumindest jene Informationen bekam, die für die eigene Arbeit eigentlich unerlässlich sind. Dass E-Mails an Vorgesetzte prinzipiell nicht beantwortet werden. Dass man eine Standpauke erhält, wenn man sich erlaubt, bei Mails an den Chef eine Lesebestätigung anzufordern – man glaube demnach wohl, der Chef habe nichts Besseres zu tun, als die E-Mails seiner Mitarbeiter zu lesen. Wie selten vor allem der Chef persönlich in der Firma ansprechbar war und wie wenig auskunftsfreudig die paar Eingeweihten waren, wenn man probierte, einen eventuellen Anwesenheitstermin unseres Altvordersten zu eruieren! Nicht weil man ohne ihn die Arbeit nicht genau so gut erledigen hätte können, nein, vielmehr deshalb, weil man permanent Gefahr lief, einen famosen Anschiss zu erhalten, sobald man im Sinne eines raschen Arbeitsfortgangs selbst eine Entscheidung getroffen hatte. Im Nachhinein betrachtet wirkte das Ganze auf mich ohnehin so, als hätte man schon seit Jahren versucht, mir einen Abgang aus eigenem Antrieb möglichst schmackhaft zu machen.

Diese Vermutung hatte ich bereits etwa ein Jahr vor meiner Kündigung, als man plötzlich das Büro der Chefin in direkte Nachbarschaft zu meinem Büro verlegte. Unsere Chefin war quasi die Leiterin des firmeninternen Geheimdienstes. Im Gegensatz zum Chef und dem Junior war sie fast immer anwesend. Nicht etwa deshalb, weil sie für die Herren in deren Abwesenheit irgendwelche Entscheidungen hätte treffen können, nein, sie durfte ja nicht einmal alleine entscheiden, welche Farbe die Tischdecken für die Weihnachtsfeier haben sollten. Jedoch sie war in der Firma Augen und Ohren des Chefs, zumindest fühlte sie sich dazu berufen. Stets auf der Suche nach irgendwelchen skandalösen Vorgängen, die sie – dank ihrer negativen Lebenseinstellung – hervorragend zu interpretieren und zu verstärken verstand und die sie schließlich dem heimkehrenden Chef in stundenlangen Problemgesprächen servierte. Das hatten bereits viele Kollegen erfahren müssen. Es war dann immer extrem schwierig, dem aufgeregten Chef die Tatsachen realistisch darzulegen und ihn von der Harmlosigkeit eines Vorfalls oder einer Aussage zu überzeugen. Nun also sollte die Geheimdienstgeneralin für alle Zeit mein Nachbarbüro belegen, dies bei stets geöffneter Tür. Sogar der Öffnungswinkel der Tür war meist exakt eingestellt – mein Bildschirm wurde von der Glastür direkt zum Schreibtisch der Chefin projiziert. Möglich, dass man glaubte, ich würde mich nun selbst von dannen stehlen, schließlich hätte man sich die Abfertigung in Höhe von vier Monatsgehältern gespart. Dafür wären sich eventuell die Winterräder für den Ferrari ausgegangen.

So rollten wir über die slowenische und über die kroatische Grenze und ich begriff langsam, dass diese Kündigung auch einen unglaublichen Befreiungsschlag für mich bedeutete. Nie wieder würde ich es nötig haben, mich von diesen Menschen demütigen zu lassen. Endlich müsste ich nicht mehr Rücksicht darauf nehmen, dass die Interessenslage der Familie Bammer bis in den letzten Winkel meines Privatlebens hinein ihre Auswirkungen hat. Nicht dass ich plötzlich große Lust darauf gehabt hätte, mir plötzlich ein Flinserl am Auge stechen oder ein neckisches Bärtchen wachsen zu lassen. Aber von diesem Tage an würde dies für mich möglich sein, ohne dass ich deshalb ein Mitarbeitergespräch haben würde. Wenn ich einen Leserbrief schriebe, bräuchte ich keine Angst zu haben, dass mein Chef sich dadurch auf den Schlips getreten fühlen könnte. In meiner Freizeit könnte ich plötzlich wieder jedermann treffen (in der Firma war es nämlich überaus verpönt, Kontakt zu jemandem zu halten, der das Unternehmen – aus eigenem Antrieb oder auch passiv – verlassen hatte). Mit jedem Meter, den wir uns vom grauen Domland entfernten, schwanden die trüben Gedanken und wuchs die Begeisterung über die ungeahnten Erleichterungen, welche diese Wende mit sich bringen würde.

Der erste Abend in Kroatien. Auch hier hatte sich die Wolkendecke nicht gänzlich gelichtet. Aber anstatt sechs hatte es hier 20 Grad. Und plötzlich trat unter der Wolkendecke die Abendsonne hervor. Der Weg ins Restaurant war schlagartig in pures Gold getaucht, vor einem dunkelgrauen Wolkendach leuchteten die Bäume, die steinernen Häuser und die Felder erschienen in nie gesehener Pracht. Eines war klar – die Entwicklung der vergangenen Tage sollte für mich den Aufbruch in ein neues, ein besseres Dasein bedeuten.

Es war kurz vor Ende Mai, als wir aus Kroatien heimkehrten. Das Bewusstsein, dass es für mich jetzt eine Fülle an Möglichkeiten und Chancen gab, sorgte für gute Stimmung. Ich hatte beschlossen, mich so rasch wie möglich beim AMS als Arbeit suchend zu melden, wiewohl ich ja noch fast drei Monate in meinem alten Dienstverhältnis »beschäftigt« sein würde. Es war klar, dass ich während des auslaufenden Dienstverhältnisses keinerlei neue Beschäftigung annehmen würde, dies hätte der Geschäftsleitung einen willkommenen Anlass für eine »Fristlose« geboten, die Abfertigung wäre dann wohl futsch gewesen. Also beschloss ich, dass dieser Sommer der »Sommer meines Lebens« werden sollte. Seit meinem Abschluss am Gymnasium vor 31 Jahren hatte ich in keinem Sommer mehr als zwei Wochen Urlaub gehabt. Nun würde ich zumindest Juni, Juli und den halben August in Freizeit verbringen »müssen« – insgesamt keine schlechten Aussichten. Wie sehr hatte ich in den vergangenen Jahren damit gehadert, die herrlichen, heißen Sommertage bei heruntergelassener Jalousie im wahlweise heißen oder eben klimagekühlten Büro verbringen zu müssen. Und wie es sich mit schönen Sommertagen ebenso verhält, setzte meist kurz vor Dienstschluss ein heftiges Gewitter ein, ein Pech für Berufstätige. Dafür sollte mich dieser Sommer entschädigen. Tat er aber nicht – der 2014er-Sommer war der wechselhafteste Sommer seit vielen Jahren. Kaum ein Tag, an dem das Thermometer über 25° stieg. Dennoch – auch die für Domland typischen Dauerregentage blieben uns erspart, so sollte es zumindest für einige herrliche Bergwanderungen reichen.

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