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Auftritt Bachtin

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Als Keith Thomas sein Manifest für eine Geschichte des Lachens konzipierte, hatte er weit mehr im Sinn, als nur den Witzen irgendeiner vergangenen Epoche nachzuspüren. Ihm ging es um historische Veränderungen der Prinzipien und der Praxis des Lachens, um deren Gründe und, in seinen eigenen Worten, um „Einsicht in die wechselnden menschlichen Gefühlswelten“.27 Daher beschäftigte er sich in seiner Studie über das Lachen in der Tudor- und Stuartzeit vor allem mit dem grundsätzlichen Wandel, von einer offenen, volkstümlichen, derben und manchmal unflätigen Form des Lachens28 hin zu einer viel kontrollierteren und angepassteren Form. Die „Riten der Narrenherrschaft“ wurden Schritt für Schritt abgeschafft, beobachtete er, und die Dinge, über die gelacht werden durfte, wurden seltener: Sehr viel weniger Witzereißen über körperliche Missbildungen und eine wachsende Aversion gegen Unflätigkeit waren zu beobachten, und Zoten auf Kosten der Kleriker und der sozialen Ordnung fielen weit gemäßigter aus. Das von Thomas geschilderte Szenario entspricht beinahe schon der agelastischen Welt des Anstands, wie Lord Chesterfield sie favorisierte und mit seinem, in unserem Zusammenhang oft zitierten, Rat an den Sohn auf den Punkt brachte: „Häufiges und lautes Lachen fällt unter Verrücktheit und schlechte Manieren … Meiner Meinung nach gibt es keine größere Zumutung, nichts Unerzogeneres als vernehmbares Lachen.“29

Was verursachte diesen Wandel? Thomas führt verschiedene Faktoren an. Er bemerkt zum Beispiel für diese Epoche einen stärkeren |88|Zusammenhang zwischen Körperkontrolle und sozialer Stellung – was nicht nur das Krümmen vor Lachen sanktionierte.30 Er betont die wachsende kulturelle Wichtigkeit der Mittelschicht, mit der das alte „Oben“ und „Unten“, die alten Inversionsrituale des Lachens an Bedeutung verloren. „Herren und Diener konnten ihre Plätze tauschen, aber für die Mittelschicht, die kein klares Gegenüber hatte, war Rollentausch unmöglich.“ Auch habe die zunehmend „prekäre“ Position einiger Schlüsselinstitutionen im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts Lachen eher verhindert als befördert. „Kaum war die grundlegende Sicherheit der mittelalterlichen Religiosität verschwunden, musste auch das Lachen aus den Kirchen herausgehalten werden. Kaum stand die soziale Hierarchie zur Disposition, erschien auch das Lachen beim Karneval und Feiertagsrollentausch eher als eine Bedrohung denn als Stütze. Kaum war die Aristokratie vorrübergehend entthront, musste eine Mauer aus Anstand errichtet werden, um die Stellung des Commonwealth zu wahren.“31

Es ist überraschend, dass Thomas im Laufe dieser Überlegungen nicht den Namen von Michail Bachtin erwähnt, einem sowjetischen Theoretiker und Autor von Rabelais und seine Welt – einer außerordentlich einflussreichen Studie über François Rabelais’ umstrittenen Klassiker aus dem 16. Jahrhundert, den vielbändigen satirischen Roman Gargantua und Pantagruel.32 Denn Thomas’ Darstellung der Feste des Narrenkönigs und anderer Karnevalsfeiern mit Rollentausch hat viel gemein mit Bachtins Untersuchung des Lachens in Rabelais und seine Welt. Dieses Werk hat viele neuere Ansätze zur historischen Erforschung der europäischen „Lachkultur“33 angeregt und gestützt, denn Bachtin übt nach Aristoteles und nach dem Drei-Theorien-Ansatz den größten Einfluss auf modernen Diskussionen über das Lachen und seine Geschichte aus. Aber anders als die Theoretiker, die ich zuvor besprochen habe, beschäftigte sich Bachtin nicht mit den Gründen des Lachens, sondern mit den universellen Mustern, wie Lachen vor allem in Mittelalter und Renaissance funktionierte und wie diese Funktionsweisen sich im Laufe der Geschichte änderten.

|89|Bachtins Buch hat seine Wurzeln in seiner Doktorarbeit. Diese wurde in den 1930er-Jahren geschrieben und eingereicht, und sie führte noch in den 1940er-Jahren zu Kontroversen, wollten sie doch etliche Prüfer ablehnen.34 Die Dissertationen wurde schließlich 1965 zuerst auf Russisch publiziert, 1968 auf Englisch. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – Bachtin von den Sowjets derart marginalisiert wurde, erfreute sich Rabelais und seine Welt schnell der Aufmerksamkeit westlicher Historiker und Kritiker.35 In Wahrheit ist das Buch kompliziert, erschöpft sich stellenweise in Anspielungen und bloßen Behauptungen und kann mit Recht als widersprüchlich angesehen werden – es sei denn, das läge an einer schlechten Übersetzung ins Englische, auf die sich die meisten Leser im Westen verlassen haben.36 Darüber hinaus ist es weitschweifig und beinhaltet theoretische Beiträge zu ganz unterschiedlichen Themenfeldern, dennoch haben zahlreiche Historiker aus ihm eine Sichtweise darauf gewonnen, wie sich der Gebrauch von Lachen im Westen entwickelt hat. Auf dieser Entwicklungsgeschichte basiert im Wesentlichen Bachtins Betrachtung von Rabelais extravaganter Satire, und sie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

Für das Mittelalter unterschied Bachtin klar zwischen einerseits der karnevalistischen Volkskultur – mit ihrer Betonung auf der ungezügelten, allumfassenden und lebensspendenden Kraft des Lachens, oft begleitet von Äußerungen der „unteren Körperhälfte“37 – und andererseits der entschieden spaßfreien, agelastischen Kultur von Staat und Kirche. Diese beiden Sphären seien erst bei Rabelais und anderen Schriftstellern des 16. Jahrhunderts aufeinandergetroffen, als für kurze Zeit die literarische Hochkultur den niederen, volkstümlichen Humor aufgriff. „In der Renaissance gelang es dem Lachen in seiner radikalsten, universalsten, vielleicht weltumfassendsten und zugleich heitersten Form, ein einziges Mal in der Geschichte … aus dem Volk heraus … in die große Literatur und die offizielle Ideologie vorzudringen.“38 Ab dem 17. Jahrhundert jedoch wurde die „volkstümliche Lachkultur“ verwässert. Auch unter dem Einfluss der frühmodernen absoluten |90|Monarchie zersetzte sich die wahre Kultur des Karnevals und wurde durch einfachen Spott und „erotische Frivolität“ ersetzt. Der Karneval wurde zu einer zahmen, ironischen und bürgerlichen Version der früheren lustvollen Festivitäten. Er wandelte sich mit anderen Worten von einem Befreiungsakt zur seichten Unterhaltung.39

Diese Vorstellungen haben viele führende Kritiker und Historiker erheblich beeinflusst und inspiriert. „Bachtins Konzepte der ‚Karnevalisierung‘ … des ‚grotesken Realismus‘ und so weiter sind so häufig verwendet worden, dass es schwierig ist, sich vorzustellen, wie wir ohne sie auskommen konnten.“40 Zugleich haben sie – als Ganzes wie im Detail – zu einer Reihe wohlbekannter und viel diskutierter Probleme geführt. Seine Charakterisierung des ehrlichen, bodenständigen, integrativen Karnevallachens hat sicher die Wünsche und Träume vieler ganz und gar nicht bodenständiger Schreibtischhelden angesprochen. Aber nicht einmal in ihrer einfachsten Form hält diese Annahme einer historischen Überprüfung stand. Tatsächlich waren einige Prüfer von Bachtins Doktorarbeit – mochten sie auch sowjetische Apparatschiks gewesen sein – zu Recht skeptisch gegenüber seinen radikalen Ansichten zum volkstümlichen Charakter des mittelalterlichen Lachens. „Wenn wir ausschließlich anhand des Lachens beurteilen, wie volkstümlich oder nicht volkstümlich eine Bewegung war, werden wir“, fürchtete ein Kritiker nicht zu Unrecht, „den Begriff der Volkstümlichkeit in jeder Hinsicht entwerten.“41

Viele spätere Kritiker hatten ebenso starke Vorbehalte gegen Bachtins Vorstellung, dass karnevaleskes Lachen eine gänzlich positive und befreiende Macht gewesen sei. Denn natürlich konnte der Karneval ebenso ein Ort des Konfliktes, der Angst, des Streits und sogar der Gewalt sein. Auch wäre die zeitweilig erlaubte Übertretung im Karneval eher als Verteidigung einer orthodoxen sozialen und politischen Hierarchie zu sehen denn als eine Form von Widerstand. Denn der Preis, den das Volk für einige Tage Spaß am Rollentausch zahlte, war die Akzeptanz seiner Stellung an den restlichen 360 Tagen im Jahr.42 Darüber hinaus ist fraglich, ob die Kultur von Kirche und Staat wirklich so |91|agelastisch war, wie Bachtin behauptete – auch Kleriker und Höflinge haben gelacht–, und ob das Lachen, das mit der unteren Körperhälfte zu tun hat, wirklich den einfachen Leuten vorbehalten war. Ostentativer Missbilligung zum Trotz fand und findet die Elite Furz und Phallus oft genug komisch. Im 18. Jahrhundert etwa hatten, wie Gatrell betont, saftige Witzzeichnungen ein „hemmungslos niedriges Niveau gemessen an den Höflichkeitsregeln“, richteten sich aber nichtsdestoweniger an ein elitäres Publikum.43

Das Lachen im alten Rom

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