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5. Der Hirte

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[Getafe, 12:24]. Jemand, der die beiden nicht kannte, hätte denken können, Jacob und Alicia waren drauf und dran sich die Köpfe ein­zuschlagen. Ihr Übungsleiter Benjamin Ladeck war immer noch nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass es nicht doch noch dazu kommen würde; und er kannte die beiden schon länger. Von dem, was Ben hatte aufschnappen können, ging es um folgendes: Jacob und Alicias Freund André hatten sich geprügelt. Glaubte man Alicia, war es Jacobs Schuld, wie überhaupt alles Jacobs Schuld war. Glaubte man Jacob, war überhaupt nichts passiert, und selbst wenn, war es eines jener Dinge, die halt passierten. André hatte zu der ganzen Angelegenheit bezeichnend wenig zu sagen. Glaubte man Ben, oder hätte man ihn gefragt, was keiner tat, lag das Problem ganz woanders. Doch keiner fragte ihn.

Ben nahm den untersten Zipfel seines T-Shirts in die Hand und schob sich das schweißnasse Bandana aus der Stirn. Er wusste nicht, zum wievielten Mal er das tat, seit sie aus der Turnhalle aufgebro­chen waren. Das erste Mal, als sie gerade das Gelände verlassen und er bereut hatte, ein weißes Shirt angezogen zu haben. Jetzt war es beige. Dazwischen, nichts. Wie war er hier hingekommen? Be­reits jetzt waren die Haut auf seinem Rücken, sein T-Shirt und die Polster des Rucksackes zu einer einzigen Masse verschmolzen, de­ren Aggregatzustand er nicht bestimmen konnte. Langsam zerlief auch sein Gehirn. Alle zwanzig Schritte musste er sich den Schweiß­film von den Augen wischen.

Sie erreichten die Metrostation. Von hier wollten alle zum Haupt­bahnhof Getafe und von dort mit dem Regionalzug zum Fernbahn­hof Atocha, dem zentralen Umschlagplatz zwischen Madrid und seinen Vororten. Erst eine zweite Fahrt in einer unterirdischen Öl­sardine später wären sie am Ziel: Puerta del Sol, Innenstadt. Wäh­rend Ben sich als letzter von der Rolltreppe unter der Erde fahren ließ, träumte er von einem Job abseits der Sonne. Tiefseetaucher im Marianengraben. Minenarbeiter. Er sah sich in tiefer Dunkelheit treiben, mutterseelenallein. Erst das Ende der Rolltreppe setzte sei­nen Tagträumen ein Ende. Fast fiel er vorn über. Als er sich fing, stand Henrik vor ihm und musterte ihn mit Sorgenfalten.

»Alle da?«

»Ja.«

»Hast du gezählt? Ich komm nämlich nur auf dreizehn.«

»Hast du mich mitgezählt?« Wenn ja, da liegt der Fehler.

Die Gruppe wartete am Fuß der Rolltreppe. Überall im Eingangs­bereich der Station bildeten sich jetzt ähnliche Herden. Kleine und große, zusammengerottet, bis ihre Hirten sie durchgezählt hatten. Währenddessen wusch der Pilgerstrom der Einzelgänger wie uner­müdlich an ihnen vorbei.

Jacob und Alicias Duell war inzwischen in die nächste Runde ge­gangen. Jacob gähnte. Moritz, Tutti und der Rest der Jungs, die sich in den letzten Tagen um die Kerber-Brüder gescharrt hatten wie Fliegen um zwei Glühbirnen, drehten sich lachend weg. Irgend­wann drehte sich Henrik zu Ben um und streckte den Daumen hoch. Ben erwiderte die Geste. Alle waren wohl wieder aufgetaucht.

Sie folgten dem Strom, Henrik voran. Ben bildete die Nachhut. Er schaffte es sogar, ab und an durchzuzählen, auch wenn er wie so oft die leeren Stellen zwischen den Teenagern mit Luciano, Raphael und Matthias auffüllte, ohne die drei Pimpfe tatsächlich zu sehen. Sonst verfuhr er wie üblich: Baseball-Cap in grau mit schwarzem Schirm — Vincent. Von Sonnenbrand verunstalteter, roter Nacken­streifen unter widerspenstigem Haar — Tutti. Zwei schwarze, ver­wechselbare Hinterköpfe im verschwörerischen Gespräch — Jacob und Moritz. Oft schaute er auch nur, ob der karamellblonde Lo­ckenschopf noch da war.

Über vier endlose Rolltreppen wurden sie immer weiter in die Tiefe geführt. Beim Blick zurück nach oben glaubte sich Ben in ei­nem Ameisenbau. Eine automatisierte Querstrebe nach der anderen überfüllt mit Köpfen. Hunderte dunkle Sonnenbrillenpaare glotzen auf ihn herab, wie große, glubschende Insektenaugen. Der Schwarm sirrte. Oder war es die Rolltreppe? Ganz oben blitzte noch ein Schim­mer natürlichen Lichts zwischen den versetzten Rolltreppen auf, dann trug die Technik Ben aus seinem Schein. Es folgten Tunnel, gekachelt mit türkiser Keramik und so eng, dass sie dazu übergin­gen, sich gegenseitig an den Rucksäcken festzuhalten.

Auf Bahnsteig 9 staute sich der Strom bis in die Zugangskorrido­re. Ben sah auf die Anzeige über seinem Kopf, die der vordersten Reihe drei Minuten versprach. Beim letzten Mal waren es zehn gewe­sen. Er fuhr nur noch selten Bahn seitdem. Der Gedanke ließ ihn beobachten, wie sich die Masse wieder zu Kreisen zusammenzufin­den versuchte. Diesmal wurden die Hirten ihrer Herden nicht Herr. Bei dem Gedanken, dass jeder Atemzug, den er nahm, wahrschein­lich aus dem Mund eines anderen stammte, wurde Ben so schlecht, dass er die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, hatte er die anderen verloren.

»Ben, hier drüben!«

Ben kämpfte sich vorwärts. Er schwitzte. Die Haare seines blon­den Zopfes klebten ihm im Nacken. Sich zwischen den Wartenden hindurchzwängen zu müssen, erinnerte ihn daran, dass er lange nicht mehr joggen gewesen war. Angekommen fehlte ihm die Puste. Henrik war bereits in eine neuerliche Predigt vertieft. Wie weit sie sich entfernen und warum Dreiergruppen so wichtig und ob sie denn alle ihre roten Schlüsselbänder…

Bens Geist wanderte. In den Werbekästen auf dem gegenüberlie­genden Bahnsteig wurden ein morgiges Erstrundenspiel der Copa del Rey und ein Reiseveranstalter angepriesen. Männer in gelben Trikots und ein Palmenstrand. Das Gleis war menschenleer. Der einzige Mensch weit und breit, der in die andere Richtung wollte, stand auf der falschen Seite der Schienen.

Die Metro fuhr ein.

»OK, das ist unsere«, rief Henrik über den Lärm. »Falls wir uns verlieren, wir fahren bis Getafe Central. Getafe Central.«

Er versuchte es korrekt Chetafe auszusprechen. Ben wollte kotzen.

Als sich die automatischen Türen auseinanderschoben, zählten sie zu den ersten, die hindurchschlüpfen durften. Nur Luciano und Julian, die mit der Aufsicht der Gemeindefahne beauftragt worden waren, hatten Probleme, den großen Schwenkstab durch die Tür zu bugsieren, ohne anderen Pilgern dabei die Köpfe aufzuspießen. Dann kam der Strom. Ben zählte los, bei zehn gab er auf. Er ließ sich von den Schafherden ins Innere der Bahn treiben und schaute zur Kontrolle noch einmal aus dem Fenster. Der gegenüberliegende Bahnsteig war noch immer leer. Die U-Bahn fuhr los.

Sobald die abgeschotteten Räumlichkeiten Henrik für fünfzehn Minuten seiner Aufsichtspflicht entbunden, nahm er Ben zur Seite.

»Also, was war gestern?«

Anders als die Gruppenleiter verbrachten die Geistlichen die Nächte nicht auf dem Gelände in Getafe, sondern in Hotels in der Stadt. Wenn Henrik morgens um 7 Uhr in Getafe aufschlug, erfuhr er von den Ereignissen des Vorabends immer erst aus zweiter Hand. Oder aus dritter. Sein ältester Übungsleiter war dieser Tage weder besonders verlässlich noch gesprächig.

Ben zuckte mit den Schultern. »Das übliche.«

»Prügeln sich Jacob und André jetzt also regelmäßig?«

Ben verdrehte die Augen und sah aus dem Fenster. Draußen flog das Grau der Tunnel vorbei. »Frag sie doch selbst.«

»Andrés Lippe ist aufgeschlagen. Als ich ihn gefragt habe, was passiert ist, hat er gesagt, er sei die Treppe runtergefallen

Niemand sagte je, er sei von einer Treppe gefallen. Alle fielen im­mer von derselben und wunderten sich, dass ihnen keiner glaubte. Ben musste lachen.

»Ach, du findest das lustig«, sagte Henrik. »Ich hab übrigens eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was passiert ist. Es gibt Leute im Camp, die halten mich auf dem Laufenden.«

Henrik sprach jetzt in einem Tonfall, den Ben noch nie bei ihm gehört hatte. War das ernsthafte Enttäuschung? Ben hätte es nie für möglich gehalten, doch Henrik besaß tatsächlich einen Blick, dem er nicht standhalten konnte. Wieder sah Ben weg, wünschte sich weg.

»Soll ich überhaupt fragen, wo du warst?«

»Woanders.«

»Da bist du in letzter Zeit ja öfter.«

»Gut beobachtet.«

Allein der Gedanke munterte ihn nicht auf. Das Gespräch entwi­ckelte sich anders, als er erwartet hatte. Das war kein seichter Psy­choplausch; in die Bahn passte keine Couch und es war verdammt noch mal zu heiß für Samthandschuhe.

»Scheiße, Benjamin, ich kann das hier nicht alleine machen. Du bist hier als Übungsleiter. Ich brauch deine Hilfe.«

»Du hast Alicia und André.«

»Das ging vielleicht in Barcelona. Madrid wird das reinste Chaos. Und momentan weiß ich nicht, ob du mir hilfst, oder ob ich auf dich auch noch aufpassen muss.«

»Wirst es einfach drauf anlegen müssen.«

Darauf hatte Henrik keine Antwort mehr. Er war nicht der gebo­rene Pokerspieler; Glücksspiel vertrug sich nicht gut mit seinem Metier, schätzte Ben. Alle seine emotionalen Bluffs verpufften. Von dem Punkt dauerte es nur Sekunden, bis Henrik doch wieder die Samthandschuhe ausgrub.

»Es ist über ein halbes Jahr her, Ben, irgendwann...«

Zeit abzuschalten. Dutzende Gespräche, die sie beide im letzten halben Jahr geführt hatten, waren früher oder später an diesen Punkt gelangt. Danach kam nie etwas, dass Ben noch nicht von je­mand anderem gehört hatte, und Henriks Wert als moralische Stüt­ze schrumpfte zu dem eines gewöhnlichen Atheisten. Irgendwann musst du es hinter dir lassen, Ben. Sie ist es nicht wert, Ben. Jeder ist schon mal verprügelt worden, Ben. Sie hatten alle keine Ahnung. Bens Blick schweifte ab, fand André und Alicia mit verzahnten Fingern, fand Moritz neben Suza sitzen, peinliche heimliche Blicke austau­schend, und schließlich Hannah neben ihrer besten Freundin Kim auf einem der Metrositze. An ihr blieb er haften. Sie war ein Ebenbild ihrer Schwester. Diese Karamelllocken. Je länger Ben sie an­sah, wie sie bei Gesprächen lächelte, die Zahnlücke entblößte, oder gedankenverloren ihre Strähnen aus der Stirn pustete, desto bitterer fühlte er sich. Als Hannah seinen Blick über die zwei Dutzend Köp­fe zwischen ihnen bemerkte, fühlte Ben sich eiskalt. Sie lächelte leicht; er bemerkte es nicht einmal. Als die immer gleiche Schlaufe in seinem Hirn ihn in die Gegenwart zurückwarf, kam er gerade noch rechtzeitig, um Henriks Preisfrage mitzukriegen.

»…Du hast noch nicht einmal gesagt, was genau passiert ist. Es auszusprechen, kann dir helfen—«

»Frag Barbara.«

Aus den Augenwinkeln sah er Henrik zusammenzucken und fühlte sich besser und schlechter zugleich.

»Sie kommt nicht mehr zum Gottesdienst.«

»Nun, sie war immer die Schlauere von uns beiden.«

Der saß. Endlich. Ein schiefes Lächeln, das selbst nicht zu wissen schien, ob es bedauerte oder trösten wollte, dann drehte sich Henrik um. Ben blieb im Gewühl zwischen den Schiebetüren zurück.

Etwas weiter den Wagon runter stimmte jemand »Christus en la fé« an, die offizielle Kakophonie des Weltjugendtags. Es dauerte nicht lange und ein halber U-Bahn-Wagon grölte in bemitleidens­wertem Spanisch »Christus im Glauben« ohne ein einziges Wort zu verstehen. Das reinste Babylon, dachte Ben. Der gute Wille änderte nichts. Vor nicht allzu langer Zeit hätte er vermutlich mitgegrölt.

Ratternd schoss die U-Bahn um eine Kurve und schüttelte ihre Passagiere durch. Irgendwo lachte ein Mädchen im Tumult. Ben drehte sich zur Tür; draußen raste noch immer das Grau des Bahn­schachtes vorbei und ließ ihn an eine Fahrt durch ein Bergwerk den­ken. Höhlenforscher, dachte er, das wär's. Egal wo, nur nicht hier.

Wie war er nur hierhin gekommen?

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