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10. Die erste Spur

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[Vallecas, 18:45]. Sein Geruch lag oben auf, über dem muffigen Duft jahrzehntelanger Einsamkeit, den viele Bewegungen aufge­scheucht hatten. Selena musste nur zwei Schritte aus dem Türrah­men treten, um zu wissen, dass der Deutsche weg war. Die Spur führte zur Tür — und von da zu ihrer Umhängetasche, die mit weit geöffnetem Deckel auf dem Sessel lag, präzise nicht wo Selena sie abgesetzt hatte. Selena wusste, dass sie sein Portemonnaie nicht mehr darin finden würde. Doch sie wurde überrascht.

»Hijo de puta!«

Sie warf die Tasche gegen die Wand. Das Gras. Jacob hatte ihre Joints mitgehen lassen. Sie wollte ihn erwürgen. Sie wollte auch die letzten Haare abrasieren. Sie wollte ihm hinterherlaufen und ihm auf offener Straße die Kleidung vom Leib reißen.

Das hatte sie jetzt davon, ihn mit in ihre Wohnung gebracht zu haben. Sie hatte mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt. Selena hatte nicht damit gerechnet, dass er wegen einer abgewetzten Brief­tasche, in der kein Geld gesteckt hatte, so eine Scharade abzöge. Was nahelegte, dass auch Jacob nur wegen des Adrenalins mitge­kommen war. Der Verlust ihrer letzten Marihuana-Reserven wurm­te Selena lange nicht so wie die Tatsache, dass sie an der Nase her­umgeführt worden war. Das passierte nicht oft. Und es führte gera­dewegs zurück zu dem wahren Grund, weshalb sie sich auf ihn ein­gelassen hatte — auch etwas, dass nicht oft passierte: Der Deutsche hatte ihr gefallen. Scheiße, sie hatte sich um den Finger wickeln las­sen wie eine von Nandos Blondchen. Dabei war er noch ein Kind; er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er nicht einmal volljährig war. Doch er hatte es so selbstbewusst überspielt. Er hatte diese gro­ßen Augen, die einen ansahen, als sei man in jedem Moment die in­teressanteste Person, der er zuhören konnte. Bis zu dem Punkt, an dem er sie einfach hatte sitzen lassen. Das passierte sonst nie.

Als sie wenig später im Schneidersitz vor einer leeren Zimmer­ecke saß und sich über ihre Ausbeute beugte, bestimmten längst wieder pragmatischere Dinge ihr Denken. Als erstes pflückte Selena jedes einzelne Portemonnaie leer. Plastikkarten kamen dabei auf ei­nen Stapel, Lotto-Zettel und Gutscheine auf einen anderen, Auswei­se jeglicher Art auf eine dritten. Was sich bereits auf den ersten Blick als unnütz klassifizieren ließ, warf sie in den rechten Winkel. Das war der Müllhaufen — alte Kassenzettel, Bahntickets, Visiten­karten, Fotos von fröhlichen Familien, sogar ein halbvolles Blister einer Anti-Baby-Pille. Vier der nackten Brieftaschen flogen gleich hinterher. Die zwei übrigen, ein breites Louis-Vuitton-Portemon­naie und eine kleine Geldbörse von Chanel, schob Selena zur Seite.

Die Kreditkarten stapelte sie, notierte sich einzeln die Details, brach sie entzwei und fütterte dann mit ihnen den Müllhaufen in der Ecke. Sobald Selena sich einen Überblick verschafft hätte, würde sie damit im nächsten Internet-Café diverse Accounts auf Online-Gaming-Portalen speisen und in virtuelles Geld umwandeln, ehe ihre Besitzer den Diebstahl merkten und die Karten sperren ließen. Sie hatte bereits alte Kontakte aufgefrischt, an die sie das Geld in privaten Pokerrunden wieder verlieren würde, nur damit diese es dann ihrerseits abheben und ihr in bar auszahlen konnten. Abzüg­lich eines Anteils natürlich. Jede Spur verlor sich bereits im Café.

Mit den Ausweisen ließ sich ungemein weniger Geld verdienen. Selena breitete sie alle zu einem Memory-Feld auf dem Teppich aus — Reisepässe, Bibliotheksausweise, Key-Cards und Führerscheine. Ohne zwei Ausweise einer Person zusammenzulegen, bildete sie Stapel und band jeden mit einem Gummi zusammen. In den nächs­ten Tagen würden diese Pakete in Fundbüros der ganzen Stadt auf­tauchen. Natürlich würde sie nicht selbst vorstellig werden, dafür fanden sich schon Jungs von der Straße.

Nach der Auslese blieb nicht mehr viel übrig, bloß Stapel Num­mer zwei. Ein paar Rubbellose, alles Nieten, der Gutschein eines Ki­nobetreibers, der ihr einen Gratisbesuch ermöglichte, wenn sie davor bereits vierzig Euro dort gelassen hätte, und zwei Essens-Voucher von Weltjugendtagsbesuchern. Letztere kamen auf die Ha­benseite. Auf dem Teppich vor ihr lagen jetzt nur noch Überreste: Fussel, Büroklammern, Knöpfe und einige Visitenkarten, die sie übersehen hatte.

Selena wollte gerade aufstehen, um ein Kehrblech zu holen, als ihr Blick an einer der Karten hängen blieb. Die weiße Rückseite war bekritzelt worden.

Später wusste Selena nicht mehr, was sie dazu gebracht hatte, die Karte aufzuheben. Nur an den kalten Schauer erinnerte sie sich.

Sie erkannte LEED-Schrift, wenn sie sie sah.

Selena hatte sie selbst einmal regelmäßig benutzt, damals, als sie noch jemand anderes gewesen war. Hacker verwendeten die IT-Sprache, um im Internet kommunizieren zu können, ohne dass die Stichwort-Suche der ermittelnden Behörden auf ihren Nachrichten­verkehr aufmerksam wurde. Dabei wurden Buchstaben eines Wor­tes teilweise durch ähnlich aussehende Zeichen ersetzt. Ein A wur­de in LEED zu einer 4, ein T zu einer 7. LEED selbst las sich L33d.

Auf dem Zettel las Selena:

(H4rm4ar7In, c4LL3 54n 73Lm0 17

p455w0r6: m3 6415 45(0!

Eine Erinnerung zuckte durch Selenas Kopf, so schnell, dass sie sie beinahe sofort wegblinzelte. Sie las es, ohne zu übersetzen. Me dais asco. Baskisch für »Ihr ekelt mich an«. Plötzlich war ihr, als könne sie eine tiefe Stille um sich herum fühlen, die Lautlosigkeit der Wohnung, das Schweigen ihrer Gedanken, sogar die Starre ihres Körpers; so wie die Zeit manchmal die Luft anhält, wenn et­was Großes im Kommen ist. Was sie gerade noch fortgeblinzelt hat­te, krabbelte zurück in ihren Kopf. Sie hatte diesen Ausruf schon oft gehört, in Gerichtsverhandlungen, Universitätskonferenzen, gehei­men Treffen. ETA-Kämpfer, die geschnappt und vor Gericht ange­klagt wurden, pflegten diesen Satz Richtern und Geschworenen hinzuwerfen, anstatt öffentlich Aussage zu machen. Das Gefühl der Stille wuchs an, jetzt kalt in ihrem Nacken.

Selena drehte die Karte um.

Schlange und Axt, Gold auf Schwarz. Das Symbol der ETA.

Scheiße...

Fünf Jahre war sie nun nicht mehr Teil der baskischen Unabhän­gigkeitsbewegung und der ETA. Seit sie ihren Abschluss in Sozial­kunde gemacht, ihre Ideale begraben und Bilbao Richtung Madrid verlassen hatte. Angefangen hatte es wie bei allen jungen, unbesieg­baren Freiheitskämpfern: eine Versammlung der Haika — einer linksradikalen Jugendorganisation, die beste Verbindungen zur ETA unterhielt — in der Universidad del Pais Vasco in Bilbao. Am Ende hatte Selena die Haika in eine ihrer ruhmreichsten Phasen ge­führt und unter einem Pseudonym im Hinter- und Untergrund Auf­märsche, Proteste, Boykotte und Straßenschlägereien organisiert. Fast mehr. Und sie hatte sich verliebt. Etwa zu der Zeit, als sie und ihre Guerilla-Zelle begonnen hatten, sich in LEED-Nachrichten zu koordinieren, weil alles zu heiß wurde.

Irgendwann hatte sie gelernt, dass Steine werfen auch dann nichts änderte, wenn man zweihundert Steine gleichzeitig warf. Dass, egal wie viele Aufstände man auf die Beine stellte, doch im­mer alles beim Alten blieb, solange man nicht genug Leute hinter sich vereinen konnte, die sich trauten, die Mauern wortwörtlich nie­derzubrennen. Fünf Jahre später empörte sie sich selbst nicht einmal mehr über die Ausbeutung und Bevormundung ihres Heimatlan­des, nicht mehr über die Gleichgültigkeit und die Lügen, mit denen Spanier in ihrem Alter von der Regierung abgespeist wurden. Statt­dessen hatte sie sich angepasst. Bis heute Nachmittag hatte sie nicht gewusst, wie sehr sie sich dafür verabscheute. Es hatte sich gut an­gefühlt, wieder einen Aufstand zu machen, auf die Barrikaden zu steigen, für eine gerechte Sache einzustehen. Wieder wie früher. Es hatte einen Funken in ihr entzündet, den sie vermisst hatte, ohne es zu merken, und der übermütig wie früher bereits nach mehr lechz­te. Selena konnte es in ihrem Magen fühlen: Die LEED-Botschaft verbreitete sich wie Öl darüber.

Selena stand auf. Ihr war schwindelig, ihr Kopf drehte sich wie eine Zentrifuge, schleuderte Gedanken in alle Richtungen davon. Sie warf den Müllhaufen in den Papierkorb, die abgepackten Aus­weise hinterher. Kurzerhand warf sie auch den Zettel mit den Kre­ditkartendaten in den Müll. Sie entfernte die Mülltüte und stellte sie in die Abstellkammer, wo ihre Abuela sie nicht finden würde. Einmal aufgeräumt schienen sich auch ihre Gedanken zu ordnen.

Was hatte sie hier? Eine Karte, auf der das Wappen der ETA ge­prägt war, auf der Rückseite bekritzelt mit einer Adresse in Chamartín und einem einschlägigen Passwort in Code-Sprache. Ein geheimer Treffpunkt. Doch wozu sollte die ETA geheime Treffen abhalten? Es gab bereits Gerüchte, die Unabhängigkeitspartei und die spanische Regierung würden Friedensgespräche führen. Es sei denn, es handelte sich um eine linksradikale Zelle wie ihre vor fünf Jahren. Oder übertrieb sie? Geheim bedeutete nicht, dass es dort um Autobomben ging. Der Weltjugendtag fiel ihr ein.

Nein...

Nur eine Karte mit einem Wappen, von dem niemand anderes Grund und Nutzen hätte, es zu drucken. Dann das Code-Wort. Und die LEED-Schrift. Selena spürte den Funken wachsen, um sich schlagen, spürte ihren Körper Feuer fangen.

Das Geräusch des Schlüssels im Schloss ließ ihr Kartenhaus ein­stürzen. Ihre hastigen Hände legten alles bei Seite und warfen die Türen zum Abstellraum zu.

»Schon zuhause?«, fragte ihre Abuela. Das konnte nur in eine Richtung gehen. »Was kommst du nach Hause, um den Nachmittag mit deiner alten Abuela zu verbringen. Was ist mit der Arbeit?«

»Ich bin eh so gut wie aus der Tür«, stammelte Selena. Ihre Ge­danken kreisten wieder. Sie konnte jetzt unmöglich eine Unterhal­tung führen. »Ich treffe mich noch mit Freunden. In der Stadt. Woll­te mich nur schnell umziehen.«

Kurzerhand flüchtete Selena vor dem Gespräch ins Badezimmer. Sie tauschte das weiße Top gegen das Killers-Shirt vom Vormittag und zwang sich in eine lange Jeans. Ihr graute schon jetzt vor der schwülen U-Bahn-Fahrt. Doch sie wollte professionell aussehen. Irgendwie dachte sie, dass das wichtig wäre.

»Welche Freunde sind das? Dieser Nando? Den finde ich—«

»Nein, andere«, haspelte Selena. »Wohnen in Chamartín.« Fuck. »Quatsch, eh... in Salamanca. In Salamanca. Wird spät, glaube ich.«

Sie zog die Haustür hinter sich zu und hielt inne. Ihr Herz schlug bis in ihren Hals, sie konnte den Puls in ihrem Kopf hören. Und was, wenn es nur Zufall ist, dachte sie, wenn hinter allem überhaupt nichts steckt? Und wenn schon. Sie hatte ohnehin nichts Besseres zu tun. Außer ein Feuer zu füttern.

Gesprengter Horizont

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