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16. Der Köter und die Hündin
Оглавление[Hostal Persal, 07:35]. Irgendwo in Madrid wackelten die Möbel. Präziser konnte Ramón zunächst nur raten. Er wusste nur, dass das Geräusch ihn geweckt, dass es erdbebenartig die schwarze Fassade seiner Traumwelt durchbrochen hatte und ihn nun daran hinderte zurückzukehren. Es kam in Abständen, fiel ihm auf. Jedes Mal dachte er, es käme zum letzten Mal, und jedes Mal irrte er sich.
Ramón hob den Kopf. Sofort drohte ihm sein Schädel mit Zerbersten. Die Möblierung des kleinen Hotelzimmers kreiste um ihn, das Samtrot der Lederbezüge, die Goldtapete, die weißen Bettbezüge. Irgendwo in diesem Wirbel aus Farben und Temperaturen verlangte das Geräusch nach ihm. Ramón überstimmte seinen Kopf und richtete sich weiter auf. Dabei musste er einen Körper von sich hieven, dessen Anwesenheit er sich gar nicht bewusst gewesen war. Irgendetwas warmes, haariges. Etwas mit Haut, die schwitzte. Die Temperatur war die ganze Nacht nicht unter dreißig Grad gefallen.
Brrrr-brrrr.
Ramón lokalisierte die Quelle in einer der dunklen Zimmerecken. Er hatte das Gefühl, er befände sich im dunklen Lagerraum eines fahrenden LKWs. Er rollte den verschwitzten Körper vollends von sich und gönnte sich kurz einige Augenblicke der Vorbereitung, ehe er schwunghaft aufstand. Augenblicklich schwappte Restalkohol durch seinen Magen, holte ihn fast von den schwimmenden Beinen. Im Dunkeln suchte seine Hand den Bettpfosten, fand ihn, hielt inne. Das Hämmern seines Schädels erstickte kurz das Vibrieren. Aber er wusste noch, wo es hergekommen war. Angekommen an dem kleinen Tischchen stanzte das Handy eine blendende Säule LED-Licht in die schummrige, von kaltem Zigarettenrauch durchzogene Dunkelheit. Ramón ließ sich an der Wand daneben zu Boden gleiten.
»Ich bin da.«
»Wir haben ein Problem.« Ramóns Gehirn war noch immer so betäubt, dass er als erstes daran dachte, was für eine hohe Stimme für einen Mann das war. Dann sickerte langsam alles zurück.
»Ich weiß.« Seine Zunge fühlte sich geschwollen an. »Du hast jemanden erschossen.«
»Ein anderes Problem. Ein lebendiges.«
»Scheiße, du legst ein Tempo vor.«
»Spar dir—«
»Ich sag ja nur«, gähnte Ramón. »Kaum übernimmst du, läuft alles aus dem Ruder.«
»So wie vor sieben Jahren, ja?«, antwortete el Viento ruhig. Gestern hatte sie bei dem Kommentar komplett die Beherrschung verloren und sie hatten sich minutenlang darüber angekeift, wer es vor sieben Jahren verbockt hatte. Ramón hatte gar nicht gewusst, dass die Schlampe damals schon ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Sie musste Mitte zwanzig gewesen sein! Drei Bomben, Ramón, und ihr wart zu bescheuert, sie vernünftig zu zünden, Handys ohne funktionierenden Zünder, Lastwagen, die wegen kaputter Bremslichter in Polizeikontrollen geraten, fehlende Kommunikation und am Ende sogar noch öffentlich den Schwanz eingezogen. Soll ich weitermachen? Ramón erinnerte sich: Er hatte auch gestern den Kürzeren gezogen.
»Ich glaube, das hatten wir schon«, knurrte er. Mit den Füßen kramte er zwischen den Kleidungsstücken am Boden herum, doch die Pistazienpackung war nicht dabei.
»Dann verschwende nicht unsere beschissene Zeit.«
»Komm zur Sache.«
»Chamartín, eine Stunde«, kam die Antwort. »Also schmeiß die Nutte raus, spül das Koks im Klo runter und zieh dich an!«
Ach ja, das Koks. Wo hatte er das eigentlich gelassen…
»Bin ich eigentlich der einzige Therapeut in deinem Adressbuch«, nuschelte Ramón, während er den Kopf im Angesichts dessen, wozu sich sein vorletzter Tag auf Erden gerade zu entwickeln drohte, gegen die Tischkante schlug. Er wiederholte es nicht. »Oder bin ich einfach dein einziger Freund?«
Lange kam keine Antwort. Dann sagte die Stimme: »Europol ist in der Stadt. Jemand hat ihnen gesteckt, dass es einen Anschlag geben könnte.«
Ramóns Rücken verkrampfte sich. Er saß plötzlich kerzengrade, lauschte dem Knistern der Leitung.
»Hattest du einen Schlaganfall?«
»Nein, ich bin noch da.« Ramón schob den getrockneten Speichel in seinem Mund herum, ließ seinen Verstand alte, über Nacht stillgelegte Schaltkreise seines Hirns zurückerobern. »Darum geht’s, du glaubst, ich war’s?«
»Nein.« Drei abwartende Atemzüge. »Anrufer war eine Frau.«
»Eine Frau, huh?« Ramón kostete den Geschmack dieser Information. »Lässt nicht viele Optionen.«
Ihm fiel genau eine ein.
»Hast du Guerilla gesehen?«, fragte el Viento.
OK, zwei.
Ramón schielte zum Bett. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er dort nur einen Körper sah. Statt zu antworten, ging sein Gehirn auf Reisen.
»Wenn ja, bring sie mit. Eine Stunde.«
Das Freizeichen erklärte das Gespräch für beendet und Ramón ließ erschöpft den Hörer aus der Hand gleiten.
»Jesus y Maria, was eine Fotze.«
Der bevorstehende Tag rang ihn bereits zu Boden, ehe Ramón einen Schritt vor die Tür gesetzt hatte. Finde die Pistazien. Oder das Koks. Er riss die Gardinen auf. Fast warf ihn das Tageslicht von den Beinen. Ramón erleichterte sich im Badezimmer und kippte, was an Alkohol übrig war, hinterher. Die leeren Flaschen sammelte er im Mülleimer, und daneben, als dieser voll war. Zeque fand er auf dem Boden neben dem Bett, nackt, das Gesicht nach unten. Das Licht glänzte auf ihrem dunklen, drahtigen Körper, aus dem jeder Knochen hervorstach. Ihre Rastalocken bildeten einen Seestern auf dem Teppich. Er überprüfte ihren Puls und trat sie halbherzig wach. Danach warf er den Stricher aus dem Bett.
Vor der Tür zum Badezimmer trat Ramón in den Rauchmelder, den sie gestern von der Decke geschraubt und zum Aschenbecher umfunktioniert hatten, und sandte das Plastikgehäuse rauchschleudernd gegen die Wand. Damit gab er das Aufräumen auf. Überall lagen Zigarettenstummel und Asche. Unter dem Bett funkelten Scherben. Am besten, er opferte einen oder zwei seiner Hunderter, um eine illegale Einwandererin und ein eisernes Schweigen zu kaufen, anstatt seine Zeit selbst zu vergeuden.
Das Kokain fand er im Waschbecken. Er hatte es am Vorabend vor einer Bar im Studentenviertel gekauft, Emilio hatte ihm den Laden empfohlen. Kein Wunder, dass es so grässlich gewesen war. Ein plumper High, sofort vorbei. Ramón sammelte die kleine Tüte mit dem weißen Pulver, den Zimmerschlüssel, Mobiltelefon und das Portemonnaie mit dem Rest der 10.000 Euro im Waschbecken, suchte dann seine Hose und zog sie an. Alles, was für seine letzten dreißig Stunden von Belang sein würde, landete in den vier Hosentaschen. Die Pistazien steckten noch in der Gesäßtasche. Dann drehte er den Wasserhahn auf.
Er spürte das Messer unter seinem Nacken, noch bevor er sich ganz aufgerichtet hatte. Sofort tat sein Glied es ihm gleich.
»Was wollte die Kurze?« Eine rauchige Stimme.
»Treffen uns in der Werkstatt«, antwortete Ramón. »Zwei Stunden.«
Aus der Kehle der Kolumbianerin sprang ein lustvolles Glucksen. »Genug Zeit.«
Die Messerspitze wanderte seine Wirbelsäule hinunter, während die andere Hand um seine Hüfte schlich, und unter den lockeren Bund seiner Hose, wo Ramón sie bereits steif erwartete. Wie eine Schlange packte Zeque zu. Dann riss sie ihn daran herum.
Sie stand so dicht vor ihm, dass ihre Nippel seine Brust berührten. Ramón konnte ihren Schweiß riechen. Vielleicht mehr. Er spürte die Kälte des Messers an seinen Nieren, dann tiefer. Sein Herz machte einen weiteren herrlichen Satz, dann kappte die Klinge seinen Ledergürtel mit einem Ruck und die Hose schlug zu Boden, beschwert vom Gewicht des Rests seines Lebens in den Taschen.
Zeque warf den Kopf in den Nacken, bleckte hungrige Zähne. Ramón stieß sie so fest gegen die Wand, dass eine Kachel knackte. Das Messer klirrte zu Boden.
»Hey«, rief Ramón ins Hotelzimmer. Der Stricher klaubte gerade sein dunkelgraues Freddy Mercury-Shirt auf. »Los, verpiss dich.«
Der Junge schaute so erschrocken wie gestern. Ramón hatte vergessen, wie er hieß. Irgendwas, das so fett klang, wie er aussah — Carlos, Nacho oder Oscar. Irgendwo schlug eine Tür ins Schloss. Der Schweißfilm auf Zeques nackter Haut glitzerte im Licht, das durch die Tür fiel. Obwohl sie kleine Brüste und harte Kurven hatte, warfen die Muskelstränge unter der braunen Haut runde Schatten.
»Hast du mit Europol geredet?«, fragte Ramón, ohne dass ihn die Antwort interessierte. Die Kolumbianerin leckte sich die Lippen. »Hatte ich auch nicht gedacht.«