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1. Spiegelschrank

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[16. August 2011, erster Tag]

[t minus 57 Stunden]

[Westin Palace Hotel, 08:33]. Der Mann, den Europol »El Viento« nannte, sah auf die Stadt hinunter, die er in Brand stecken würde. Schon wieder.

Ein weißes Spielzeugauto hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Gerade beobachtete er, wie es in den Kreisverkehr um den Fuente de Neptuno vor seinen Augen einlenkte, die Statue in der Mitte umkurvte, ausscherte und von der äußersten Spur auf die Pa­seo del Prado nach Norden abbog. Unter den großen Pappeln löste es sich im fransigen Nebel auf, doch vor seinem inneren Auge ver­suchte el Viento es weiterzuverfolgen. Am Ende der Paseo del Pra­do lag der Plaza de Cibeles und ein zweiter Kreisverkehr. Von dort konnte das Auto in drei Richtungen fahren. Nach Osten die Calle de Alcalá entlang und über den Puerta del Sol zum königlichen Palast, nach Norden Richtung Chamartín und zur Garage oder nach Wes­ten. Die Calle de Alcalá entlang des Parque del Retiro, Salamanca, Goya, die Vorstadt. Als ein zweites Auto angefahren kam, diesmal ein rotes, wiederholte el Viento die Routine. Danach noch einmal mit einer silbernen Vespa.

Zum Schluss drehte er das Mausrad nach unten und Madrid schrumpfte in weite Ferne.

Vor dem Fenster war die Sonne aufgegangen, um die Stadt einen weiteren Tag zu plagen. Er sah auf die Uhr. Drei Stunden waren verschwunden, seit er sich an den Laptop gesetzt und sich von dem uhrwerkähnlichen Schauspiel seines konstruierten Videospiels hatte hypnotisieren lassen. Er erinnerte sich nicht einmal, dass der Tag angebrochen war. Ob Ybarra schon angekommen war?

Das Klopfen an der Tür hallte so laut durch das Hotelzimmer wie das Hupen eines LKW. El Viento hielt die Luft an. Es klopfte wieder. Menschen, bei denen man dreimal klopfen musste, hatten immer etwas zu verbergen.

Er öffnete die Tür so weit, dass sein Körper das Zimmer verbarg.

»Zimmerservice, Señor Venti.«

Der Mann, der eigentlich Saul Vela hieß, krümmte den Kopf aus der Tür. Draußen hing noch immer das Schild »Bitte nicht stören«.

»Es tut mir leid, Señor.« Gequälte Augen sahen aus einem falti­gen Gesicht zu ihm herauf. Mit den Fingern nestelte sie an dem rechteckigen Plastikschild. »Bitte lassen Sie mich es putzen. Fünf Tage. Fünf Tage und das Zimmer wurde nicht gründlich gereinigt.«

»Vier.«

»Perdona me?«

»Vier.« Er war sich sicher. »Tage, meine ich.«

Ihr Gesicht sah plötzlich aus, als würde es von innen ausgepresst. Sie traute sich nicht, ihn zu korrigieren. Ihr Blick fiel auf den Boden. Als sie die Augen hob, versuchte sie unter seinen Armen hindurch zu sehen, wie schlimm es um das Hotelzimmer stand. Sie würde nie wissen, wie sehr ihr Leben auf der Waage lag, jetzt, hier, am vierten Tag auf seiner Zimmerschwelle. Selbst wenn sie alt wurde, heirate­te, ein Kind und zwei Enkel bekam, die Welt bereiste und im Lotto gewann, würde dieser Moment derjenige bleiben, in dem sich ihr Leben entschied. Wagte sie einen weiteren Schritt, würde sie ster­ben. Kam sie zurück, wenn er nicht da war, und öffnete sie den Spiegelschrank im Badezimmer, würde er sie töten müssen. Vela er­laubte nicht, dass Zimmermädchen das Betttuch lüfteten, das ihn zum Geist machte, und die blütenweiße Akte bei Europol erste dru­ckerschwarze Spritzer bekam. So wenig wie er erlaubte, dass Men­schen lebten, die ihn identifizieren konnten.

»OK.«

»OK«, antwortete er. »Sie können gehen.«

Als er die Tür schloss, hatte er das Gefühl, jemand sei in seiner Abwesenheit im Hotelzimmer gewesen. Die Balkontür stand offen und jemand hatte Schweißabdrücke auf dem schwarzen Laptop zu­rückgelassen; die Hitze verschluckte sie langsam. Einer der Straßen­läden in betaMadrid hatte in der Zwischenzeit den Besitzer gewech­selt. Wo vorher das Schild einer Pension an der Häuserwand gehan­gen hatte, leuchtete jetzt der Schriftzug: Yellow Submarine Radios­hack. Er konnte sich nicht daran erinnern, es in den Code des Spiels geschrieben zu haben. Ein Glitch. Oder hatten seine Finger ihn ver­raten? Abwechselnd ballte er seine Hände zu Fäusten und streckte dann wieder die Finger. Seine Hände vibrierten. Er erinnerte sich nicht, dass sie das jemals getan hatten.

Wind wehte zur Balkontür herein. Er war warm und feucht und stank nach Kohlenmonoxid. Wie ein aufmüpfiges Kind versuchte der Wind, unter sein in die Hose gestopftes Hemd zu gelangen, toll­te erfolglos weiter, einmal durchs aufgeräumte Zimmer und dann wieder hinaus, dass die zarten Gardinen flatterten, um die Kante der Hotelfassade herum und die Carrera de San Jerónimo hinunter. Saul Vela ging auf den Balkon und sah ihm nach. Eine gelbe Fahne mit einer dreizackigen roten Krone darauf flatterte vier Häuser­blocks weiter. Vela winkte zurück. Dann wurde es wieder windstill.

Im Kreisverkehr unter ihm hupte ein LKW, wie um ihn zu ver­spotten. Das Orchester trompetete zurück, alle auf einmal.

Vela kannte jeden Hydranten in Madrid, jeden Kiosk, jede Sprinkleranlage und jeden toten Winkel. In einem anderen Leben hätte er vielleicht Städte gebaut, hätte Ampelschaltungen und Reiß­verschlussverfahren dirigiert, hätte Busfahrpläne und Einbahnstra­ßen aufeinander abgestimmt, und das Ensemble aus Müllabfuhr, Pendlern, Taxifahrern, Joggern und Kinderwagen angeleitet. Jetzt hatte er dieses Gefühl, dieses nicht abzuschüttelnde Gefühl der Dis­harmonie, das über allem lag. Wie das dezente Klappern einer losen Schraube in einer Wäschetrommel. Als sträubte sich das echte Ma­drid gegen seine kolonialisierende Kontrolle.

Madrid ist Madrid ist Madrid ist eine… Stadt?

Manchmal half ihm das, heute nicht. Heute waren die Dinge nicht, was sie vorgaben zu sein. Heute fanden seine vernarbten Fin­gerkuppen keinen Halt auf der Balustrade des Balkons, und egal wie lange er seine verschwitzen Hände an dem Sandstein rieb, sie blie­ben feucht.

Allmählich musste er Ybarra anrufen.

Stattdessen ging Vela zurück ins Zimmer, schloss das zeternde Madrid mit den Balkontüren hinter sich aus und setzte sich vor die körnige Kopie, in der das Leben ausschließlich nach seinen Algo­rithmen ablief. Moderner Designerwahn hatte aus der funktionalen Schreibtischplatte gegenüber dem Bett ein avantgardistisches Unge­heuer mit geschwungenen Kanten gemacht, die verhinderten, dass Vela den Laptop parallel zu ihnen ausrichten konnte. Optisch fügte es sich in das Dekor energischer Kurven und Formen. Selbst dem Spiegel waren die Kanten abgeschlagen worden. Oft flüchtete sich Velas Blick in einen der vier rechten Winkel unter der Decke. Jetzt korrigierte er die Position des Mauspads, sodass es zusammen mit dem Laptop eine geradlinige Allianz gegen die feindselige Schreib­tischkante bildete. Ein rechter Winkel war ein rechter Winkel war ein rechter Winkel. Keiner verarschte Mathematik.

Vela zoomte rein. Yellow Submarine. Er könnte im Backend nach der fehlerhaften CMS-Zeile suchen, doch er hatte Angst vor dem, was er finden würde. Dass er es doch selber in den Code—

Vela zoomte raus. Auf seinem Bildschirm lebte das rekonstruierte Madrid wie ein konservierter Modellbau, die Blaupause seines Plans. Emsige Autos wuselten in unendlichen Kolonnen durch die Straßen. Die Gebäude spuckten und verschluckten Bewohner wie digitale Ameisen. Bis ins kleinste Detail hatte er es dem Madrid nachempfunden, das vor seinem Balkon lag. Es fiel Vela schwer, sich einzugestehen, dass die Demenz immer schlimmer wurde. Doch die Hirnbahnen, auf denen seine Schachzüge einmal in Schall­geschwindigkeit transportiert worden waren, verliefen an schlech­ten Tagen nur noch wie farbige Schnellstraßen auf der Landkarte seines Gedächtnisses; viel zu oft verschwanden sie unter der Erde und nur gestrichelte Linien markierten die Lücken. Sieben Jahre war es jetzt her. Sieben Jahre, seit er es sich eingestehen konnte. Doch das Videospiel vergaß nie. Wenn er seine Festplatte nur regel­mäßig mit der seines Laptops abglich, würde er seinen Verstand aufrechterhalten und die Lücken schneller zuschütten, als neue auf­reißen konnten.

We all sit in a yellow submarine, yellow submarine…

Wenn er es tatsächlich in den Code geschrieben und program­miert hatte, konnte er sich nicht daran erinnern.

Vela ging ins Bad und öffnete den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Die Glasregale waren säuberlich geleert worden. Da­für hatte jemand die Innenseiten der Flügeltüren mit farbigen Post-Its beklebt, links in Cyanblau und rechts in leuchtendem Magenta.

Dein Name ist Saul Vela, stand links auf dem obersten.

Du bist Logistiker für das organisierte Verbrechen.

Du hast keine Familie. Du kommst damit klar.

Er fürchtete nichts mehr als den Tag, an dem er auch das letzte vergaß. Das wäre der Anfang vom Ende. Ab dem Tag bräuchte er nur noch blaue Denkzettel und keine mehr in Magenta.

Du organisierst einen Anschlag auf den Weltjugendtag.

Ankunft des Papstes: 18. August 2011, 17 Uhr

Du kannst Natalie vertrauen.

Den letzten hatte er erst am Abend dazugeklebt. Ybarra. Atocha. 08.30 Uhr.

Der Würgereiz überfiel ihn so plötzlich, wie er es immer tat und ohne sich dafür zu entschuldigen, dass er drei Stunden auf sich hat­te warten lassen. Schwäche, die den Körper verlässt. Noch lange nach­dem sein Körper den letzten Tropfen Magensäure abgestoßen hatte, blieb Vela vor der Toilettenschüssel sitzen.

Wenn er Ybarra anrief, war der nächste Schritt, das Natalie sich mit ihm am Plaza Mayor traf. Ybarra anzurufen bedeutete, dass es kein Zurück mehr gab. Hatte er die Dinge einmal ins Laufen ge­bracht, konnte er nur hoffen, dass sein Hirn ihn nicht im Stich ließ. Nicht schon wieder. Doch wenn Vela hörte, wie die Keramik der Kloschüssel ihm seine Atmung zurückspielte, wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.

Gesprengter Horizont

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