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15. Kolibriherz

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[17. August 2011, zweiter Tag]

[t minus 35 Stunden]

[Statenkwartier, den Haag, 04:01]. Thomas de Jong glaubte, die Tragweite der Nachricht unter seinem Arm drücke den Fahrstuhl in die Tiefe. Die Kladde wog schwer, obwohl sie nur ein Blatt Papier enthielt; die Frau am Telefon hatte nicht viel gesagt. Thomas hatte kurz überlegt, ob er das Papier nicht gefaltet in der Innenseite eines Jacketts transportieren sollte, doch am Ende hatte er zur Kladde ge­griffen. Er besaß kein Jackett. Außerdem strahlte die Kladde Wich­tigkeit aus, und wer wie er Seilspringen mit der Kommandokette spielte, den konnte eine gewichtige Ausstrahlung weit bringen. Das hatte Thomas beim letzten Mal gelernt.

Wenn das wieder schiefläuft, gibt’s keinen auf die Finger, dachte Thomas. Dann gibt’s den Fußtritt vor die Tür.

Ein Pling verkündete, dass er am Ziel war. Thomas entstöpselte das Handy, mit dem er das Fahrstuhlprogramm manipuliert hatte, steckte es in die Bauchtasche seines Sweatshirts und trat auf den Flur des tiefsten Geschosses der Europol-Zentrale am Statenkwar­tier in Den Haag. In der echten Welt bezogen die Chefs wichtiger Si­cherheitsbehörden keine Penthäuser und verglasten Büros. Passa­gierflugzeuge und Raketenköpfe reichten nicht unter die Erde.

Sofort setzte Thomas Tunnelblick ein. Eigentlich hatte er damit schon im Fahrstuhl gerechnet. Immer wenn er nervös wurde und sein Adrenalinspiegel stieg, verabschiedete sich der Sauerstoff in seinem Hirn wie aus einem davonschießenden Luftballon. Weg war er. Schon zählte Thomas die Sätze des Memos. Dann die Silben, dann die Buchstaben. Transkribierte es in Binärcode. Morste es sich von einer Hirnhälfte in die andere. Als er es sich gerade in Braille-Schrift vorstellte, als Installation aus Eierpackungen oder als Tul­penbeet im Japanischen Garten, bemerkte er das Muster des Tep­pichbodens. Winzige Dreiecke bis zum Horizont, für Thomas nur eine weitere kalibrierbare Linie. Und schon begann er sie anzuord­nen. Auf dem Boden leuchteten Trapeze auf, Parallelogramme, ein Octagon. Irgendwann Wörter, dann Sätze, am Ende ein Liedtext von Oasis. Slowly walking down the hall, faster than a cannon-ball…

»Wie sind Sie hier runtergekommen?«

Thomas Kopf schoss hoch, ertappt.

Er stand am Ende des Korridors. Die letzte Sicherheitsschranke vor der Bürotür des Oberhaupts von Europols eigener Antiterrorab­teilung bildeten keine Agenten in maßgeschneiderten Anzügen, sondern eine Frau hinter halbmondförmigen Brillengläsern und ei­nem Schreibtisch aus hellbraunem Teakholz. Auf dem Schild an der Schreibtischkante stand »A. Spirow«.

»Fahrstuhl.« Thomas deutete über die Schulter.

»Sie haben keine Sicherheitsfreigabe.«

Thomas sah an seinem Sweatshirt herunter. Es war keine Frage.

»Verstecken Sie eine Pizza da drin?«, fragte Frau Spirow. Sie deu­tete auf die Kladde.

»Bitte?«

»Piz-za.« Ihr Mund sah gruselig aus, wenn er Wörter überdeut­lich artikulierte. Thomas sah auf die Kladde, als müsste er sich sel­ber vergewissern. Sein Gehirn reagierte gerade noch rechtzeitig.

»Uh-huh.«

»Sorte?«

»Zwiebeln und Thunfisch.« Thomas kannte alle Codes.

Frau Spirow war nicht überzeugt. Bis jetzt war sie nicht aufge­standen. Thomas vermutete, dass unter dem Tisch eine Waffe lager­te, aber vielleicht hatte er auch zu viele James Bond Filme geguckt.

»Sie ist nicht da, OK? Lassen Sie es ruhig hier.«

Sie hielt die Hand nach der Kladde ausgestreckt. Thomas Hände drückten sie fester an seine Brust. Er hätte kein Fahrstuhlprogramm in der Europol-Zentrale gehackt, wenn er nicht gemusst hätte.

»Sie haben keine Sicherheitsfreigabe«, antwortete er.

Die gesenkten Mondgläser musterten ihn. Der surrende Compu­ter hinter dem Pult füllte die Stille. Als Frau Spirow begriff, was Thomas vorhatte, war sie schon zu spät. Er drückte die Klinke der Bürotür nach unten, und dachte noch, dass es wortwörtlich passte: Frau Spirow hätte schlichtweg früher aufstehen müssen.

Der Raum, in dem Thomas sich einschloss, war vollkommen mit Holz verkleidet. An der Decke glommen im Holz versteckte Lam­penspots. Der Stuhl am Schreibtisch gegenüber der Tür stand mit der Lehne zu ihm, wie erst vor kurzem benutzt. Dazwischen ein Sofa, zwei Ledersessel, ein Glastisch auf einem Teppich mit kurzem Flor, Bilderrahmen neben dem Laptop, Cognac-Karaffen auf einem Beistelltisch in der Ecke, eine Skulptur aus verschlungenen Sternen in einem Aktenregal. Ein in der Verkleidung eingebautes Waschbe­cken, dessen Hahn tropfte. Fünf, dachte das Kolibriherz. Fünf Rah­men, fünf Karaffen, fünf Zacken. Selbst der Glastisch war ein Penta­gon. Schon begann Thomas die Tropfen des Wasserhahns in Morse­code zu übersetzen: lang, kurz, kurz, lang...

Eine Hand tauchte hinter dem Sofa auf. Dann der Kopf.

»Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte der Kopf.

»F-fahrstuhl.«

»Sie haben keine Sicherheitsfreigabe.«

»Ich habe Pizza.« Thomas schluckte. »Zwiebeln und…

»Thunfisch, schon klar.«

Die Gestalt hinter der Sofalehne zog sich in eine sitzende Position und pendelte die Beine auf den Boden. Als sie sich schwunghaft aufrichtete, versuchte Thomas die Hand zu übersehen, die nach der Lehne suchte. So wie er versuchte, den Geruch nicht wahrzuneh­men, der ihm allmählich auffiel. Wie um die Würde der Situation zu wahren, straffte er seine aufrechte Haltung.

Die leitende Profilerin von Europols eigener Terrorbekämpfungs- und Präventionseinheit IntraTac tastete mit beiden Händen nach Halt, während sie sich umdrehte. Andrea Lyndt sah so aus, wie der Geruch in der Luft vermuten ließ. Ihre Frisur glich einer Ruine, über Nacht gestürmt. Das Haargummi, das den schwarzen Pferde­schwanz festzurren sollte, baumelte irgendwo an seinem Ende, dar­über bauschten sich die Haare wie ein Sack. Ihr Gesicht sah noch schlimmer aus. Tiefe Gräben unter ihren blinzelnden Augen ließen sie zehn Jahre älter aussehen als ihre Ende dreißig. Auf dem Revers ihres marineblauen Blazers klebte Make-Up. Thomas hatte einmal gehört, dass es in China Geschäftsleute gab, die unter der Woche in Pappkartons am Stadtrand schliefen, weil sie sich die Unterkünfte in den Metropolen nicht leisten konnten. Morgens stiegen sie dann in Anzügen heraus und wuschen sich im Fluss die Zähne. Er hasste sich sofort dafür, doch das Bild ging nicht mehr weg.

Zum zweiten Mal an diesem Morgen sah Thomas sich gemustert.

»Wären Sie hier, um mich zu töten, hätten Sie es schon getan, hab ich recht«, fiel das lallende Urteil. Andrea Lyndt zog die Nase hoch. »Ach, warum nicht. Sie haben eine Minute.«

»Ma'am, heute morgen um halb drei—«

Er stockte, weil Lyndt sich kurz wieder zu ihm umgedreht hatte. Offenbar hatten die hochgezogenen Brauen nicht mit einer Antwort aus der Pistole gerechnet. Vielleicht war es auch das Ma’am. Aber Thomas wusste, was er sagen musste. Er hatte es von seinem Schreibtisch im siebten Stock bis hier hin vorgebetet.

»Heute morgen um halb drei haben wir einen Anruf aus Madrid registriert. Eine Frau behauptete zu einer Terrorzelle der ETA zu ge­hören, die in Madrid einen Anschlag auf den Weltjugendtag vorbe­reitete. Sie wollte aussteigen. Sie sagte—« Jetzt kam die Schlagzeile. Das Detail, das es rechtfertigte, Fahrstühle zu knacken. »Sie sagte, Drahtzieher der Aktion sei ein gewisser el Viento

Nachdem Thomas wieder angefangen hatte zu sprechen, war Lyndts Blick durch den Raum gewandert und hatte, was sie suchte, auf der Kante des Schreibtisches gefunden. Müde Hände hatten das Whiskyglas zur Kommode hinübergeschleppt und das Namens­schild auf dem Schreibtisch freigelegt: Andrea F. Lyndt. Mit dem Rü­cken zu ihm hatte Lyndt sich eingeschenkt und das Glas ihre Kehle heruntergespült wie Mundwasser. Als Thomas das el Viento freiließ, spannte sich ihre Wirbelsäule und ließ ihren Kopf in die Höhe schnellen, als lausche sie einem Echo im Wald. Dann kippte sie ein weiteres Glas hinunter. Als sie es absetzte, hatten sich ihre Schultern unter dem Blazer gehoben. Ihr Blick beherrschte plötzlich den Raum, wie eine Löwin ihr Wasserloch. Sie war nicht mehr dieselbe.

»Wie heißen Sie?«

»Thomas de Jong, Ma—. Thomas de Jong.«

»Setzen Sie sich, Thomas.«

»Ich hab die ganze Nacht gesessen, danke.«

Auf ihrem Weg zur Tür musterte Lyndt ihn ein zweites Mal. Das Sweatshirt mit dem Aufdruck der University of Chester. Die 50-Euro-Jeans. Die Turnschuhe. Die Kladde schien sie gar nicht zu se­hen. Lyndt öffnete dem Hämmern, das Thomas schon ausgeblendet hatte. Zwei Sätze, dazwischen ein kurzer Protest, und Frau Spirow zog sich an ihren Schreibtisch zurück. Das A stand für Agnes.

»In welcher Abteilung arbeiten Sie?«, fragte Andrea Lyndt.

Thomas versuchte gerade herauszufinden, was er mit der Infor­mation anfangen sollte, dass Agnes Spirow ein Anagramm für GROW A PENIS war. Treffend war es nicht; Agnes Spirow schien keinen zu brauchen.

»Analyst«, antwortete er abwesend. »In der Anrufannahme.«

»Im Call-Center?« Lyndt war verwirrt.

Gelogen war es nicht; Thomas hatte lediglich einige Worte weggelassen, die zur Wahrheit gehörten. Ich war Analyst und arbeite jetzt in der Anrufannahme.

»Ich registriere Anrufe, filtere sie nach relevanten Informationen und vermittle sie entsprechend.«

»Ach, und diese Information wollten sie persönlich weiterleiten, ja?« Im Gehen zog Lynch den Pferdeschwanz fest und kontrollierte ihren glatten Scheitel mit einer festen Handbewegung. »Vorbei an sämtlichen Sicherheitslücken.«

Thomas fiel auf, dass Lyndt ihm die Kladde aus der Armbeuge genommen hatte, ohne dass er es gemerkt hatte. Plötzlich fühlte er sich nackt. Was machte er nur den ganzen Tag mit seinen Händen? Am Schreibtisch angekommen beugte Lyndt sich über die Kladde, ohne sich zu setzen. Nachdem sie das Memo einmal gelesen hatte, las sie es wieder. Dann noch einmal. Schließlich hob sie den Blick. Ihre ursprüngliche Frage hatte sie vergessen.

»Der Anrufer—«

»Die Anruferin.«

Lyndt leckte sich die Lippen. Es sah anerkennend aus. »Die An­ruferin hat das so gesagt? Wortwörtlich, so wie es hier steht?« Tho­mas wusste, worauf sie hinauswollte, bevor sie es aussprach. »Ich hoffe, euer Laden hört das hier ab.«

»Hab es selbst transkribiert.«

»Wann kam das rein?«

»Vor einer Stunde.«

»Und t?«, fragte Lyndt.

»Hat sie nicht gesagt.« T stand für den vermuteten Zeitpunkt des Anschlags, wusste Thomas. »Die offizielle Eröffnungsmesse mit dem Papst ist am Achtzehnten.«

Lyndt hob den Kopf. »Das ist morgen. T minus 18 Stunden?«

»Wohl eher 35 Stunden. Die Messe ist um 17:00 Uhr.«

Lyndt klappte die Kladde zu. Sie griff nach dem Whiskyglas und bemerkte beim Heben, dass es leer war. Sie setzte sich.

»Wie viele verdächtige Nachrichten filtern Sie am Tag?«, fragte Andrea Lyndt. »Sie wissen schon. Hohe Dichte an verdächtigen Be­griffen. Authentische Drohungen. Leute, die glauben, irgendwo was Verdächtiges gesehen zu haben. Wie oft? Am Tag?«

Thomas schluckte, sein Mund war trocken. Irgendwie bekam er das Gefühl, dass es auf Lyndts Fragen eine richtige und eine falsche Antwort gab. Der Wasserhahn tropfte weiter.

»Einige.«

»Einige, OK.« Lyndt faltete die Hände, indem sie die Fingerspit­zen aneinanderlegte. »Nur dieses mal, als Sie den Hörer aufgelegt hatten, entschieden Sie danach, einen Fahrstuhl zu knacken. Weil genau das haben Sie getan, hab ich recht? Soweit ich weiß, kommt eine Key-Card mit Dresscode. Also einen Fahrstuhl zu knacken, den internen Alarm lahmzulegen und mich um 4 Uhr morgens in mei­nem Büro aufzuwecken.« Lyndt ließ es wirken. »Warum?«

Thomas kratzte sich am Kopf. Es gab eine einfache Antwort, war­um scheute er sich dann so sehr, sie auszusprechen? Warum klang es auf einmal so… absurd? Weil es scheißabsurd war!

»Der Name. El Viento.« Thomas hatte gewusst, dass der Name reichte. Nur nicht, ob er dazu kommen würde, ihn auszusprechen. Danach wusste er, dass er Lyndts Ohr hatte. Nicht so wie beim letzten Mal. »Ich wusste, dass es… dass es wichtig war. Zur Audioaufzeich­nung was es da leider schon zu spät, Lokalisierung ebenfalls.«

Lyndt murmelte etwas; es klang wie wusste ich, dass es wichtig war. Sie leckte sich die Lippen. Thomas war sich sicher, sie konnte seine Furcht schmecken. Unter ihrem unlesbaren Blick begann er, vor und zurück zu wippen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

»Sehen Sie Thomas, was wir hier haben, ist brisant. Sehr sogar. Eigentlich müsste ich schon im Flieger nach Madrid sitzen. Doch ich frage mich noch immer, woher ein Mitarbeiter aus der Anrufannah­me einen streng vertraulichen Decknamen kennt, der nur einem Dutzend Menschen bekannt ist? Von denen ich alle persönlich in­struiert habe. Von denen ich jeden beim zweiten Vornamen kenne.« Der Vorwurf verbreitete sich im Raum. »Wie heißen Sie mit zweitem Vornamen, Thomas?«

»F-Forbes.«

Was kannst du dafür, dass die Wahrheit sich bescheuert anhört? Doch Thomas hatte zu lange darauf gewartet wieder hier zu stehen, in ei­nem Büro wie diesem, in dieser Situation. Er hatte immer gewusst, dass eine zweite Chance kommen würde. Es blieb nur die Wahrheit.

»Ich habe ihn getauft«, antwortete er.

Lyndts Kopf zuckte nach vorne, als hätte sie sich verhört. »Ich glaube, dass müssen Sie wiederholen.«

»Getauft.« So beknackt! »Während der Ausbildung zum Field Agent. Vor vier Jahren. Sie wissen doch, da kriegt man Aufgaben, mit denen sich sonst keiner rumschlagen will. Papierkram. Proto­koll. Decknamen entwerfen.«

»Das machen die immer noch, ja?«

Thomas nickte. »War mein erster Beitrag für, nun ja…« Beruf war das falsche Wort, um zu beschreiben, wie Thomas zu Europol stand, aber Berufung war zu hochtrabend. Er war dankbar, einen wichtigen Beitrag leisten zu dürfen. Er war nicht nachtragend, dass man das vor vier Jahren nicht erkannt hatte. »Für das alles hier.«

Lyndt sah aus, als überlegte sie tatsächlich, ihm zu glauben. Sie ließ sich im Stuhl zurückfallen.

»Vier Jahre, sagen Sie«, resümierte Lyndt. »Die Ausbildungslei­tung lag damals noch bei Iris McAllister, richtig? Was würde sie sa­gen, wenn ich sie jetzt anriefe und ihr erzählen würde, dass Sie in meinem Büro sitzen?«

Vier Jahre. So lange war es her, dass Thomas das letzte Mal in ei­nem Büro gestanden hatte, zu dem ihm die Sicherheitsfreigabe fehl­te. Damals war es Iris McAllister, über deren Kopf er gegangen war. Er bezweifelte, dass Sie das vergessen hatte.

Andrea Lyndt ließ Thomas Schweigen für ihn antworten.

»Sie haben also die Ausbildung durchlaufen? Also nicht… abge­schlossen, natürlich. Aber immerhin einen Stuhl und einen Bild­schirm haben sie bei uns ergattern können.« Aus Lyndts Mund war die Feststellung seiner offensichtlichen Untauglichkeit bar von je­dem Spott. Bar von irgendwas. Einfach eine kühle Schlussfolgerung. Auf die das Resultat folgte: »Woher wussten Sie dann, dass ihr Name noch in Benutzung war?«

Die entscheidende Frage. An diesem Punkt würde Andrea Lyndt entscheiden, ob sie ihm würde vertrauen können oder nicht.

»Ich habe mir erlaubt, den Status des Namens in der Datenbank zu verfolgen.« Thomas stockte. »Gelegentlich.«

»Sie meinen gehackt« Grinste Lyndt? »Gelegentlich gehackt.«

Thomas nickte.

Lyndt stand auf. »Halten Sie mich für arrogant?«

»Nein, Sir. Ich meine, Ma’am, ich—« Thomas versuchte, seine Lippen zu essen.

»Richtig. Ich kann akzeptieren, dass Talent ungesehen bleibt un­ter diesem Dach.« So hatte es nie jemand formuliert. »Geben wir uns also für einen Augenblick dem Gedanken hin, wir haben jeman­den aus dem Programm geworfen, der in der Lage gewesen wäre, unseren hauseigenen Alarm lahmzulegen, Fahrstühle zu sabotieren, unsere Firewall zu hacken, Hochsicherheitscodes zu entschlüsseln und nicht zuletzt Agnes Spirow zu überlisten. Damit kann ich le­ben. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, geht mitten in der Nacht ein Anruf aus Madrid bei uns ein, als zufällig genau der Mitarbeiter Dienst hat, der zufällig in seiner Ausbildung genau den Decknamen entworfen hat, der zufällig später—« Lyndt zelebrierte jedes zufällig damit, leicht in die Knie zu gehen »—auf eines der meistgesuchten Phantome Europas geprägt und noch viel später dann in eben je­nem Telefonat benutzt wurde, wo besagter Mitarbeiter den Ernst der Lage nur deshalb erkennt, weil er sich gelegentlich unbemerkt Zugang zur vielleicht sichersten Datenbank des Kontinents ver­schafft hat, um den Werdegang eines, und jetzt kommt der Knüller, Namens zu verfolgen. Hab ich das ungefähr richtig umrissen?«

Sie sah ihn an, durchdringender als zuvor und Thomas wusste, jetzt war der Moment gekommen, an dem seine Augen nicht zum Wasserhahn ausweichen, nicht zu der Sternskulptur und nicht zum Muster auf dem Teppichboden schweifen durften. Die braunen Au­gen bewegten sich nicht. Scheiße, Zeit bewegte sich nicht mehr.

»Ja—« Fast verschluckte er sich. Thomas entschied sich den Rest zu nicken.

»Und die Anruferin hat ETA gesagt? Nicht Al-Qaida, Boko Ha­ram, ISIS?«

Er nickte noch einmal. Das schließlich ließ Lyndt zum Hörer grei­fen. Ob sie es tat, um den Sicherheitsdienst oder ihre Leute in Ma­drid anzurufen, konnte Thomas nur raten.

Gesprengter Horizont

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