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8. Martha Salamanca

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[Bankfiliale am Plaza de Lavapiés, 18:05]. Martha Salamanca hätte wetten können, dass der Mann im schwarzen Anzug eine Paul-Mc­Cartney-Maske aus Plastik getragen hatte, als er am ersten und zweiten Fenster vorbeigegangen war. Ihr linkes Knie hatte sich schon Richtung Alarmknopf unter ihrem Mitarbeiterschreibtisch be­wegt, da betrat der Mann die Bank durch die automatische Schiebe­tür — ohne Maske. Kein Bankräuber. Nur ein abstoßendes Raubvo­gelgesicht, in dem kleine gelbe Augen unter spitzen Brauen lauer­ten. Dabei hätte sie schwören können…

Es war der verdammte Turm! Er machte Martha schon den ganzen Tag unruhig; seit sie am Morgen die Karten gelegt und aus­gerechnet auf der 6, die für nahe Zukunft stand, den Turm umge­dreht hatte. Der Turm sagte endzeitliches Chaos voraus, das Ein­stürzen alter Systeme. Das hatte er schon einmal, im März vor sie­ben Jahren, erinnerte sich Martha. Damals hatte es drei Tage ge­dauert, bis das Chaos Madrid erreicht hatte. In einem vollgepackten Pendlerzug. Seit 8 Uhr wartete Martha darauf, dass sich der Turm ein zweites Mal bewahrheitete.

Der Mann im schwarzen Anzug hatte sich an der Information er­kundigt und steuerte jetzt direkt auf Marthas Schreibtisch zu, im Schlepptau eine Frau. Martha nahm Haltung an.

»Señora Salamanca?« Der Mann streckte die Hand aus. »Ramón Ybarra, wir hatten telefoniert.«

Ach ja.

Martha schüttelte zuerst die Hand von Ramón Ybarra. Sein Hän­dedruck war stark, doch seine Aura schwach. Seine Begleitung stell­te sich nicht vor. Die braunen Haare hatte sie zu einem unvorteil­haften Bauernzopf geflochten, der direkt über der Stirn anfing und sie aussehen ließ wie ein Dinosaurier. Unter dem schlichten weißen Top erahnte Martha Muskeln. Ihre Aura ließ Marthas Arm kribbeln. Die Karten fielen ihr ein — als könnte sie sie je vergessen. Der König der Schwerter auf dem Turm. Martha bat die beiden Platz zu nehmen und hielt wie jedes Mal die Luft an.

Ybarra setzte sich nach links, die Frau nach rechts.

Anders herum wäre Martha Salamanca wohler gewesen. Was ihre Kollegen bei der BBVA von all den Dingen, die man zwischen Bürotischen und der Cafeteria eben nicht teilte, vermutlich noch mehr beunruhigt hätte als ihr Nebenjob bei der Madrider Mafia, war vermutlich ihr Glaube an kosmische Synchronizität. Fünfzig Prozent von Marthas Evaluationen, egal ob für die BBVA oder Án­gel Borja, bestand darin, auf welchen der beiden Stühle der Kunde sich setzte. So wie Karl Gustav Jung ging auch sie davon aus, dass Ereignisse und Sachverhalte von inhaltlicher Korrelation sich auch in der Realität parallel verhielten, sei es zeitlich oder räumlich. Setz­te sich jemand auf den linken Stuhl, gegenüber des Knies, auf das sie einen lachenden Smiley tätowiert hatte, lag nahe, dass man ihm oder ihr mit dem Geld vertrauen konnte. Andernfalls… nun, ein trauriges Emoticon stand auch bei Martha für nichts Gutes. So weit hatte sich Ramón Ybarra schon einmal intuitiv richtig verhalten. Die anderen fünfzig Prozent hatte Martha wie immer bereits die Karten entscheiden lassen.

»Señor Ybarra.« Die Fremde machte Martha unruhig. Sie brauchte Zeit. »Kurzfristiger Kredit, richtig?«

»Genau.«

»10.000 Euro?«

»10.000 Euro.«

»Sie kennen die Konditionen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie das tun, doch ich gehe gerne auf Nummer sicher.«

Ramón nickte. »Vierzig Prozent Zinsen, nächsten Monat.«

Martha öffnete ein Programm, das sich von ihrer externen Fest­platte unauffällig über die Betriebsmaske des Bankrechners schob und tippte einige Befehle ein. Die Daten wurden — wie eine ganz normale Kreditvergabe — digital auf dem Server der BBVA gespei­chert, sodass sie sie jederzeit abrufen konnte, wenn sie musste. Es brauchte nur einige falsch angeklickte Kästchen und die Transakti­on tauchte nie in den Bilanzen der Bank auf. Viva España!

Die Wirkung der Aura nahm bereits ab, so schnell, dass Martha sich wunderte, wie sie sie jemals so heftig gespürt haben konnte.

»Sie haben dabei, was ich von Ihnen brauche?«

Ybarra legte die Mappe auf den Tisch. Martha überprüfte einige der Daten stichprobenartig, verglich Ybarras Passfoto mit seinem richtigen Gesicht…

Vielleicht hatte die Frau ihrerseits mit einer starken Aura Kontakt gehabt, und jetzt spürte Martha den Schatten in der Fremde. Wie radioaktive Strahlung? Martha wusste, dass es so etwas gab.

»Noch einmal: Sie leihen kein Geld von mir, ich regle nur die Über- und Rückgabe. Wenn Sie also denken, ich verdiene Ihren Re­spekt nicht genug, um es mir pünktlich rückzuerstatten, lassen Sie sich das gesagt sein. Das Geld gehört jemand anderem, die Zinsen auch. Und Señor Borja liegt sehr am Herzen, was ihm gehört. Sie verstehen?«

Ybarra nickte. Die Frau auf dem rechten Stuhl sagte noch immer nichts, der Name Borja schien ihr nichts zu sagen. Sie konnte nicht aus Madrid sein. Marthas ganze Körperhälfte kribbelte bereits, das Smiley-Tattoo auf ihrem Knie, die Geburtsdaten ihres choleri­schen Vaters am rechten Oberarm, das M-11 in Sanskrit unter ihrer rechten Brust, der Südamerika-Umriss, der sich von der rechten Schulter bis zum Po erstreckte.

»Und Sie sind die bürgende Partei?« Martha schaffte es einfach nicht sie anzusehen. »Sie haben Ihre Papiere dabei?«

»Ja genau, die gute Samariterin«, antwortete Ybarra.

Martha glaubte zu hören, wie die Samariterin die Stuhllehnen mit den Händen zu erwürgen versuchte. Als mehrere Sekunden nichts geschah, sah Martha sie doch an. Die Augen der Frau bohrten Löcher in die Schreibtischplatte.

»Señora?«, fragte Martha, um Souveränität bemüht. »Wir müssen wissen, wer Sie sind, und wo wir Sie finden können. Falls wir das müssen.«

So wie die Unruhe zurückkam, musste Martha wieder an den Turm denken. Mit einem Mal kam ihr die Situation furchtbar eigen­artig vor: Dieser heruntergekommene Irgendwer im schwarzen An­zug und die Frau im Freizeit-Shirt, die aussah, als würde sie jeden Augenblick explodieren. War das hier die Katastrophe, der Turm? Die Plastikmaske fiel Martha ein. Doch was, wenn sie alles abbrach und erst dadurch alles auslöste? Die Karten und die Stühle logen nicht. Auch das war Synchronizität.

Die Frau mit dem strengen Zopf sog kontrolliert die Luft ein und zog dann mit einer Bewegung das Portemonnaie aus der Tasche, die deutlich das Ergebnis sorgfältiger Überlegung war. Den Ausweis brauchte sie darin nicht zu suchen. Sie reichte ihn so widerstrebend herüber, als wäre es eine ihrer Nieren.

»Natalie Vela«, las Martha. »Aus Eibar. Kennen Sie beide sich aus der Heimat, ja?« Ybarra war Baske, unter Geburts- und Wohnort lis­tete sein Pass Bilbao.

Das erste Wort, das Natalie Vela sprach, jagte Martha einen Schauer über den Rücken: »Internet.«

»Schön, schön.« Sie studierte Velas Ausweis, doch fand darin we­der linguistische Hinweise auf einen Turm noch eine Königin, noch Schwerter. Keine geborene Torres, Rex oder Espada. Auch das wäre Synchronizität. Sie gab den Ausweis zurück.

»Gut«, schloss sie. »Señora Vela, ich muss Sie darüber aufklären, dass wir ihr Konto ohne ihr Einverständnis belasten können, sollte Señor Ybarra Zinszahlungen auch nach wiederholten Mahnungen schuldig bleiben. Nur dass ich bei diesen speziellen Konditionen mit »Konto« und mit »belasten« keine Transaktion meine. Können wir Señor Ybarras nicht habhaft werden, natürlich. Sie haben Ihre Rollen verstanden?«

»Ich bin das Pfand.« Sie betonte das Wort wie eine Frau, die eine fremde Sprache lernte und seine Bedeutung zum ersten Mal begriff.

»Señor Ybarra?«

»Klar und deutlich.«

»Sollten Sie… zahlungsunfähig oder insolvent werden, werden wir uns selbstverständlich auch an Señora Vela wenden.«

Ybarra lächelte. »Selbstverständlich.«

Es gab keinen Grund, es länger hinauszuzögern. Die Karten hat­ten Ybarra ebenso jeden Zweifels enthoben wie seine Sitzplatzwahl. Die Gerechtigkeit auf der 3, dem Was-spricht-dafür-Feld, war nicht schwer zu deuten.

»Sie können gehen.«

Die beiden standen auf. Vela schien die Filiale nicht schnell ge­nug verlassen zu können, nur Ybarra drehte sich noch im Kreis.

»Das—«

»Sie glauben doch nicht… ich bin Bankangestellte.« Sie ließ ihn kurz zappeln. Es hob ihre Stimmung nicht. »Auf dem Platz vor der Filiale. Setzen Sie sich auf die grüne Kuh, jemand wird Sie finden.«

Im Gehen heftete Martha ihren skeptischen Blick auf seinen Rücken.

Das keltische Kreuz war ein komplexes Muster, Karten zu legen, doch simpel zu deuten. Es gab zehn Felder, die alle eine eigene Be­deutung trugen und nach der Reihe aufgedeckt wurden. In Kombi­nation mit den auf ihnen platzierten Karten ergaben sich Deutungs­möglichkeiten für alle Aspekte eines vielschichtigen Ereignisses — Vergangenheit, Gegenwart, eine direkte, bewusste und unbewusste Beziehung zu dieser Gegenwart, Zukunft, die Position des Kartenle­gers selbst, die Position der Umwelt, Erwartung und Ergebnis. Mar­tha hatte am Morgen den Narren im Zentrum aufgedeckt: Sorglosig­keit in der Gegenwart. Das warf bereits Schatten voraus. Auf den umliegenden Feldern nur unbedeutendes Zeug — und dann die 6, dann der Turm in der Zukunft. Wenn einem der Turm aus der Zu­kunft drohte, deckte man weitere zehn Karten auf, fand Martha, und hatte eine zweite Karte an jedes Feld gelegt. Dann eine dritte. Eine vierte Runde hatte sie nicht gewagt. Schon jetzt saß der König der Schwerter im obersten Turmzimmer. Wie am 08. März 2004, drei Tage vor dem bis dato größten Terroranschlag auf spanischem Boden.

Gesprengter Horizont

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