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9. Tango

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[Vallecas, 18:17]. Sowie die Wohnungstür sich hinter ihnen schloss, klingelte das Mobiltelefon in Jacobs Hosentasche.

»Kannst die da rüberstellen«, sagte Victoria. »An die Heizung.«

Sie verschwand in einem der Zimmer. Jacob trug die Kamera an dem Sofa vorbei und legte sie samt Mikrofon und den drei Kopfhö­rern neben die Kabelrolle und die Umhängetasche, die Victoria dort bereits abgelegt hatte. Dann sah er sich in der Wohnung um.

Eigentlich war es nur ein Wohnzimmer. Abgesessene Couch vor einem Fernsehgerät aus dem letzten Jahrtausend. Allen Tür- und Fensterrahmen, die er sehen konnte, blätterte der Lack ab. Regale mit verstaubten Büchern und Andenken pferchten die übrige Nutz­fläche zusätzlich zusammen. Dem Sauerstoffgehalt nach zu Urteilen befanden sie sich in einem Gewächshaus, obwohl Jacob keine Zim­merpflanzen sah. Zudem musste die Klimaanlage ausgefallen sein. Während Victoria hinter einer der Türen stöberte, trat Jacob zielstre­big durch eine andere. Küche. Der Geruch frischverzehrter Teigwa­ren fuhr durch seinen Bauch und erinnerte ihn daran, dass er drin­gend etwas essen musste.

Wieder klingelte sein Handy. Drei Nachrichten von Moritz: Fünf­zehn Minuten — mit drei Ausrufezeichen. In der zweiten sagte ihm sein Bruder, dass Henrik ihm gerade geschrieben hätte, wo sie denn blieben, und dass Moritz es satthabe, Jacob zu decken. Er habe ge­antwortet, sie seien gerade beim Friseur, Jacob solle also nicht ein­fallen, ohne Bürstenschnitt zurückzukommen. Bei der dritten muss­te Jacob schmunzeln. Hast du schon deinen Blutzucker gecheckt? Manchmal glaubte Jacob, er und sein Bruder bestünden aus einem Körper. Es blieb eines jener Dinge, die er nicht erklären konnte.

Victoria füllte den Raum, als sie zurückkam. Es hatte nichts mit ihren nimmersatten Blicken zu tun, die die Einrichtung beherrsch­ten und ihn lockten, ohne ihn hineinzulassen, und auch nicht mit der Art, mit der sie den Weg ins Wohnzimmer verschloss und die Küche abriegelte, ohne den Türrahmen auch nur zur Hälfte auszu­füllen. Aura war kein körperliches Phänomen. Sie füllte den Raum zwischen ihnen mit den Unterhaltungen, die sie noch nicht geführt hatten. Sofort lag Sex in der Luft.

Victoria hatte sich mit einem Rasiergerät bewaffnet. Jacob dachte nicht daran, wem er gehören könnte.

»Bereit?«, fragte sie.

»Kannst du gut mit Werkzeugen?«

»Vielleicht.«

»Ich glaube, ich nehme vorsichtshalber was zu trinken.«

»Ich trinke nicht. Niemals.«

»Mhm.«

»Du glaubst, ich lüge.«

»Niemals.« Pause. »Ich nehme einen Saft.«

»Saft?«

»Fruchtsaft.« Er lüftete sein Tanktop und legte die Pumpe frei. Victoria sah nicht hin. »Diabetes. Typ 1.«

»Wirklich beeindruckende Kriegsverletzung.«

»Wirklich schäbige Bude«, schoss Jacob zurück. »Deine?«

»Ja.«

»Finanziert mit deinem Gehalt als Reporterin? Du lügst.«

»Wie oft hast du schon so ne Wette mit deinem Bruder verloren?«

»Von deinem Freund ist sie auch nicht…«

»Ich wette oft. Und wenn das ein Versuch war, deine Chancen auszuloten, war er echt erbärmlich.«

»Lesbische Studentenfreundin!«

»Ich wette, ständig.«

»Eltern? Nein….«

»Ich wette, im Stillen zählst du mit und es frisst dich auf.«

»Großeltern?«

Es gab eine Pause, die Jacob steif werden ließ. Sexuelle Spannung und scharfe Worte hatten für ihn schon immer unzertrennlich zu­einander gehört; das eine kam mit dem anderen. Es war wie beim Tango. Die herausfordernden Schritte der Frau, die lockenden Schritte des Mannes, die atemlosen Pausen.

Victoria antwortete zuerst: »Großmutter.«

»Vierzehn Mal«, gab Jacob zu. »Und ein halbes. Wir haben uns auf einen Irokesen-Schnitt geeinigt. Die nächsten drei Wochen wa­ren für meinen Bruder wahrscheinlich die schönsten seines Lebens.«

»Ich würde sagen, du hast ein chronisches Problem.«

»Was soll ich sagen?« Er grinste. »Gerate oft in Schwierigkeiten.«

»Gibt schlechtere Eigenschaften.«

Jacob wollte nicht widersprechen. Victoria nutzte die Stille, um ein Glas aus einem der Schränke zu holen und es mit Orangensaft aus dem Kühlschrank zu füllen. Sie reichte es ihm.

»Wollen wir?«, fragte Jacob.

Sie ließ zur Antwort den Rasierer an.

Das Geräusch des schnurrenden Rasierers ließ ihn härter werden und Jacob schlug zur Sicherheit die Beine übereinander. Hinterher fuhr Jacob sich mit der Hand über den Schädel, fand jedoch keinen Halt mehr. Nur noch vier Millimeter Prärie und Phantomschmerz.

»Zufrieden?«, suchte er das Gespräch, das der elektrische Rasie­rer zerstückelt hatte.

»Schon. Sieht furchtbar aus.«

»Darf ich meinen Anwalt anrufen?«

Victorias Lachen lief ihm wie Butter den Rücken runter. Jacob wusste sofort, dass er alles tun würde, um es öfter zu hören. Wäh­rend sie seine Haare zusammenkehrte, lehnte Jacob sich an die Kü­chenzeile und sah ihr zu.

Wieder vibrierte sein Handy.

FENSTER!

Ein verstohlener Blick an die Uhr über dem Kühlschrank verriet Jacob, dass sie den vereinbarten Treffpunkt am Puerta del Sol längst verpasst hatten. Er ging zum Fenster. Drei Stockwerke tiefer häm­merte Moritz mit dem Zeigefinger auf sein blankes Handgelenk. Ja­cob hob zehn Finger gegen das Glas. Für Moritz nächste Geste reichte einer.

Jacob tat es nicht leid, seinen Bruder in die Schlägerei am Bahn­hof Atocha verwickelt zu haben. Es war eine Erinnerung mehr, die sie jetzt teilten und die sie sich noch in Jahren erzählen würden, wenn nicht mehr viele hinzukämen, weil sie sich kaum noch sahen, und die wenigen Male, die sie es taten, mit Erinnern verschwende­ten. Jacob gab seinem Bruder gerne das Gefühl, dass Moritz ihn mehr brauchte als umgekehrt. In Wahrheit hatte Moritz lediglich ein größeres Bedürfnis, seine Emotionen offen auszudiskturieren. Als Jacob vor zwei Monaten aus seinem Auslandsjahr in Costa Rica nach Hause gekommen war, hatte Moritz mitten im Bewerbungs­verfahren für seinen Traumstudiengang in Lancaster gesteckt. Krea­tives Schreiben wie Ian McEwan oder Kazuo Ishiguro. Jacob schäm­te sich dafür, doch wenn er ehrlich mit sich war, fühlte er sich im Stich gelassen. Er für seinen Teil hatte nie aufgehört, an die Luft­schlösser zu glauben, von denen sie als Kinder geträumt und die sie nebeneinander hatten beziehen wollen. Am Tag, als der Brief mit der Zulassung gekommen war, war Jacob um die Häuser gezogen, um nur an etwas anderes zu denken. Die Polizei hatte ihn nach Hause gebracht. Jetzt war er hier.

»Also.« Victoria schien seine Gedanken gelesen zu haben. »Ha­ben deine Eltern dich gezwungen, deinen Sommer hier zu verbrin­gen, oder so?«

Victoria hatte den Besen weggestellt. Sie erwartete seine Antwort mit angriffslustigen Augen. Jacob lehnte sich gegen die Küchenzeile und nippte am Rest seines Orangensafts.

»Wenn das ein Versuch war, mein Alter rauszukriegen, war er echt erbärmlich.«

Victoria grinste. »Also haben sie dich gezwungen.«

»Rebellierendes Alter, würde ich sagen.«

»Autsch!«

»Hast du Eltern? Gegen so Methoden ist psychologische Kriegs­führung ein Kindergeburtstag.«

Natürlich war das nur die halbe Wahrheit. Jeder, der Jacob halb­wegs gut kannte, wusste, dass er sich nicht zu Dingen zwingen ließ, die er nicht tun wollte. Auch nicht von seinen Eltern. Auch wenn er erst siebzehn war. In seiner Hosentasche vibrierte das Handy. Jacob sah auf die Uhr. Blieb die eine Sache…

»Ich sehe wirklich gruselig aus«, sagte Jacob. »Hast du vielleicht was Haarwachs?«

»Hier wohnen keine Männer.«

»Und wem gehört der Rasierer?«

Ihre braunen Augen musterten ihn, wie eine Katze einen Vogel, den sie gefangen hatte. »Vielleicht find ich was.«

Sie verschwand durch die Tür. Jacob folgte ihr. Er sah sie hinter der selben Tür wie vorhin verschwinden, kurz darauf begann das Rumpeln. Mit drei Schritten war Jacob beim Heizkörper.

Er hatte schon am Atocha geahnt, dass es Victoria gewesen war, die ihm das Portemonnaie abgezockt hatte — eigentlich schon auf der Paseo del Prado. Abgezogen, mit den Augen geklimpert, wieder abgezogen. Er ließ sich einfach zu gerne herausfordern. Als er die Tasche öffnete, hoffte er trotzdem, nicht enttäuscht zu werden.

»Olé«, murmelte Jacob.

Sein Portemonnaie lag oben auf. Es war nicht das einzige.

Gesprengter Horizont

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