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3. Selena Ibañez

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[Vallecas, 10:31]. Nando saß in der Ecke der kleinen, gekachelten Küche, wischte sich Tomaten-Salsa von den Lippen und grinste. Sei­ne Zähne waren soßenrot. Auch sein Atlético-Trikot wies Spuren der Schlacht auf. Irgendwie hatte er es geschafft, nur auf die weißen Streifen zu tropfen. Selena verspürte den Drang, ihm sein Grinsen aus dem Gesicht zu schlagen, doch sie war schon immer jemand ge­wesen, der sich gut unter Kontrolle hatte. Oft wurde ihr das als Un­nahbarkeit ausgelegt. Ob sie denn nicht traurig sei, hatte ihr Vater sie gefragt, als ihre Mutter in einem Loch in der Erde verschwunden war und Selena zu dem ganzen Theater keine einzige Träne beizu­steuern gehabt hatte. Wozu, hatte sie geantwortet. Die beiden rede­ten nicht mehr miteinander.

Jetzt hätte es Grund genug gegeben, ihren Emotionen nachzuge­ben, doch es gab andere Dinge, die sie davon abhielten. Eines davon watschelte in diesem Moment zu dem Tisch in der Ecke und tät­schelte die Hand ihres Gastes wie die eines Hilfsbedürftigen.

»Gut? Gut?«

»Ausgezeichnet! Wie immer.«

Und wie immer rührte er keinen Finger, den leergelöffelten Teller selbst zur Spüle zu tragen. Unter anderen Umständen wäre Selena vom Fenstersims aufgesprungen, um ihrer Abuela die Arbeit abzu­nehmen. Doch wenn es eins gab, dass sie noch weniger würde ertra­gen können, als ihre Abuela schuften zu sehen, dann war es Nandos Blick auf ihrem Po, während sie für ihn den Teller abräumte. Selena stellte sich vor, wie sein aufgesetztes Zahnpastagrinsen wohl aussä­he, wenn sie ihn bei seinem winzigen blonden Zöpfchen packen würde und seine Schneidezähne nach einer unerfreulich harten Be­gegnung mit der Tischplatte im Holz stecken blieben. Die Vorstel­lung war fast zu süß, ihr nicht nachzugeben.

Statt das zu tun, stieß Selena ihre Ein-Meter-fünfundachtzig ele­gant vom rissigen Fensterbrett und verschwand in Richtung Wohn­raum, wo zwar die Gesellschaft, nicht aber die Luft besser war. Die Klimaanlage hatte bis vor drei Tagen fleißig geröchelt und war dann abgeschmiert. Geld für einen Elektriker gab es nicht.

Oscar saß auf der Wohnzimmercouch gegenüber dem Stuhl, der den seit Jahren stummen Fernsehwürfel trug und zappte über einer Tüte Minimart-Chips durchs Vormittagsprogramm. Als Selena den Raum betrat, reagierte er nicht. Der leicht untersetzte Spanier kann­te seinen Marktwert. Dabei dachte Selena beim Anblick seiner di­cken Lippen nicht zum ersten Mal, dass Oscar Vallejo ein erstklas­siger Küsser sein musste.

»Hat er immer noch nicht den Rand gehalten?«, schmatzte Oscar.

»Was denkst du?«

»Hijo de puta, die arme Frau.«

»Du weißt doch, wie Großmütter sind. Die sehen nur Urenkel.«

Selena tänzelte zwischen Sofa und Sessel hindurch. Unter der Dachschräge lag die alte Fernsehkamera gegen den rostigen Heiz­körper gelehnt.

»Irgendwas Nützliches?«, fragte sie, während sie überprüfte, ob auch all die anderen Sachen dort waren — Kabel, Mikrophon, Tele­skopstab, Kopfhörer, Anstecker, Bluse.

»Die ersten sind da.«

Selana sah flüchtig hinüber: Menschenmassen zwischen Hausfas­saden. Schnitt. Menschenmassen zwischen Kastanien. Schnitt. Men­schenmassen eingepfercht in U-Bahn-Waggons.

Sehr gut, dachte sie, je mehr, desto besser.

»Das wird noch was geben«, nuschelte Oscar.

»Hm?«

»Ich mein ja nur. Die Stimmung auf der Straße ist jetzt schon be­schissen. Irgendwann kriegt einer aufs Maul.«

»Sollen sie doch«, presste Selena hervor, während sie das schwar­ze Top mit dem abblätternden The Killers-Logo von den schmalen Schultern streifte und in die weiße Bluse schlüpfte, die sie sich zu­rechtgelegt hatte. Oscars Augen sahen nur den Fernseher.

»Nando wäre der erste.«

»Das machen Menschen schon seit tausend Jahren«, erwiderte Selena. »Und von jeder Geschichte gibt’s noch immer zwei Seiten.«

»Hätte dich nicht für eine Pragmatikerin gehalten.«

Du kennst mich nicht, schoss es Selena durch den Kopf, die Echo­stimme einer anderen Person. Doch sie fing sich. Schnell drehte sie sich um und fragte: »Wie seh' ich aus?«

»Ich würde dir ein Interview geben.«

»Hast du deine Sachen?«

Oscar hielt eine graue, lange Hose und ein Paar Sicherheitsschu­he in die Höhe. »Kann ich das T-Shirt anlassen?«

Selena musste das Sofa umrunden, um es zu sehen. Mahatma Ghandis Gesicht war vorne abgedruckt worden. Wenigstens war der Stoff schwarz.

»Ton-Assistenten dürfen Aufdruck tragen«, entschied sie.

»Halleluja.«

»Willst du ne Bluse?«

»Hast du noch eine?«

Hatte sie nicht. Das Fundbüro am Bahnhofsbüro von Principe Pio hatte diesmal nicht viel hergegeben. Gerade ein Oberteil für sie und Schuhe für die Jungs.

Nando kam aus der Küche herein, als Oscar gerade aus seinen ausgewaschenen Shorts geschlüpft war und sich die Arbeiterhose überstreifte. Das Lachen, das er aus der Küche mitgebracht hatte, verpuffte sofort. Der Anblick seines Cousins in Unterhose vor der Frau, die sich offenbar in den letzten drei Minuten ein anderes Oberteil angezogen haben musste, schien ihm nicht zu gefallen.

»Fertig?«, fragte Selena, obwohl Nando ganz offensichtlich nicht fertig war; es gar nicht sein konnte. Er trug noch immer sein Atléti­co-Trikot mit den Salsa-Flecken als Sponsoren-Logo.

Aus der Fassung brachte es ihn nicht, dass musste Selena ihm las­sen. Es war auch so ziemlich das einzige, das man ihm zu Gute hal­ten konnte. Irgendwie fand er immer wieder den Weg zurück zu der Synapse in seinem Hirn, die ihm versicherte, dass Nando der Geilste war. In all seinen übrigen Eigenschaften war er genau wie all die anderen Männer, die nicht verstehen konnten, dass die schwarzhaarige Schönheit mit dem Nasenring auch nach drei Te­quila nicht ihr Höschen fallen ließ, und noch weniger ertragen konnten, dass sie noch nach sechs Tequila aufrechter gehen und ar­tikulierter reden konnte als sie. Sie alle flohen immer, sobald klar wurde, dass es sich bei ihrer Unnahbarkeit tatsächlich um Intelli­genz handelte, und der Nasenring abstoßen sollte. Nando nicht. Für ihn ergab nichts anderes einen Sinn, als das gutaussehende Men­schen zusammenpassten. Gleichzeitig war er als einziger dämlich genug, auch die offensichtlichsten Körbe zu übersehen und ihre Schroffheit auch nach zwei Monaten noch als Flirttaktik fehlzudeu­ten. Weil Nando eben der Geilste war. Irgendwie musste sie ihm das anrechnen.

Aus einem Trikot in ein Hemd zu schlüpfen, dafür brauchten ge­wöhnliche Männer keine zehn Sekunden. Nando brauchte eine Mi­nute. Ob es daran lag, dass er möglichst lange seine Brustmuskeln präsentieren wollte, oder weil ihn die Aufgabe tatsächlich überfor­derte, konnte Selena nicht sagen. Sie hätte ihm beides zugetraut. Wie sooft, seit Nando bei ihr ein und aus ging, musste sie sich daran erinnern, wofür sie ihn brauchte.

Als er fertig war, drückte Selena ihm die wuchtige Kamera in die Hand. »Auf geht's.«

Die Wohnungstür lag gegenüber dem Durchgang zur Küche. Se­lena erreichte sie mit nur wenigen Schritten, doch bevor sie ging, blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. »Abuela?«

Die winzige Frau mit dem Kürbisgesicht kam aus der Küche ge­watschelt. Sie strahlte.

»Abuela, wir müssen gehen, OK?«, rief Selena laut.

Abuela winkte nur wild mit den Händen, als wollte sie sagen, die jungen Leute sollten schon verschwinden und sich um sie keine Sor­gen machen. Selena versetzte es einen Stich ins Herz. Diese rüstige, alte Frau hatte ihr geliebtes Heimatland schon öfter durch die Schei­ße stiefeln sehen, als Selena sich vorstellen konnte. Jetzt musste sie auch noch miterleben, wie eine Krise, die sie nicht verstand, ihre Enkelin mit Universitätsabschluss, aber ohne Job, auf die Straße ge­setzt hatte. Bei ihrer Abuela im Vorort Vallecas schlief Selena auf der Couch und lebte aus dem Abstellraum. Abuela war keine fünf Jahre in die Schule gegangen, hatte ihr ganzes Leben Tomaten ge­pflückt. Tomaten brauchte Spanien immer. Lehrerinnen für Sozial­kunde offenbar nicht. Dann doch lieber fünfzig Millionen an Steuer­geldern verprassen, um einen senilen Sack aus Rom und zwei Millionen seiner Rockzipfel-Gefolgsleute einzuladen und sie mit Es­sensmarken für sieben volle Tage auszustatten, während die Hälfte der eigenen Jungbürger morgens aufwachten, ohne zu wissen, wie sie das Abendessen bezahlen sollten. Unter den Studenten und Rentnern auf der Straße herrschte heute eine hitzige Stimmung, je­den Tag wurde es schlimmer. Madrid hasste die Fremden. Und un­ter der Augustsonne lagen die Nerven blank. Es hatte eine Zeit ge­geben, da wäre auch Selena dagegen auf die Straße gezogen. Hätte Steine geworfen. Und Tequilaflaschen. Mit brennenden Putzlappen darin. Manchmal dachte sie wehmütig daran zurück. Öfter fragte sie sich einfach: Wozu? Steine machten keinen Unterschied. Und um den Tequila war es einfach zu schade.

»Ich komme spät nach Hause, OK? Du musst nicht wieder auf­bleiben, ja?« Sie würde es dennoch tun, wie jedes Mal. Aber sie nickte und winkte weiter.

»Geht schon!«, raunte sie. »Trabajo, trabajo

Sie mussten gehen, entschied Selena, das Stechen in ihrem Herz kam zurück. Sie schob die Jungs zur Tür hinaus, die höflich lächel­ten und in ihren geklauten Stiefeln die geklaute Kamera und das ge­klaute Zubehör ins Treppenhaus trugen. Selena zog die Tür zu, ent­fernte das Septum aus ihrer Nase und steckte es in die Tasche. Auf dem Weg aus dem vierten Stock zur Straße fragte sie sich, wann die starke Frau von früher gestorben war.

Gesprengter Horizont

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